Autoren in Riehen Hermann Kesten

Valentin Herzog

Schon in seiner Jugend habe er sich die Schweiz «als sanfte Insel für das Alter» ausgesucht, verriet er der Weltwoche in einem Gespräch kurz vor seinem 90. Geburtstag; bis er sich auf dieser Insel niederlassen konnte, hatte er freilich einen langen und stürmischen Weg zurückzulegen: Am 28. Januar 1900 wurde Hermann Kesten als Sohn einer j üdischen Kaufmannsfamilie geboren - «einen Tag nach Kaisers Geburtstag, aber darum bin ich noch lange nicht Monarchist geworden; ich bin es auch damals nicht geworden, als ich Wilhelm II. einmal auf einem prachtvollen Schimmel durch unsere Stadt reiten sah.»

Von einem anderen Menschen hätte man vielleicht gesagt, er habe bei diesen Worten geschmunzelt, aber Hermann Kestens Gesicht verbietet diesen Ausdruck: Zu hoch ist seine Stirne, zu buschig wölben sich die Brauen über den hellwachen Augen, zu markant biegt sich die lange Nase nach unten über den schmalen Mund, von dessen Winkeln zwei Falten steil nach abwärts zeigen. Kein Schmunzeln, kein Lächeln passt in dieses Gesicht. Auf den ersten Blick wirkt es bitter, doch dieser Eindruck täuscht; Kestens Heiterkeit ist einfach anderer Art, sie teilt sich nicht den Gesichtsmuskeln mit, sie liegt in seinem Blick, in seinen Worten. 1974 hat Horst Krüger ihn bei der Verleihung des Georg Büchner-Preises ein «Genie der Freundschaft» genannt. Ich habe diese griffige Formel, die sich nahtlos an den Titel eines seiner Hauptwerke (»Meine Freunde, die Poeten» ) anschliesst, nie so recht mit dem auf Fotos immer so grimmig wirkenden Gesicht Hermann Kestens zusammenbringen können. Jetzt, da ich neben ihm sitze, wird mir bewusst, dass dieses Mannes vielgerühmte Fähigkeit zur Freundschaft eben nicht auf konventioneller Keep-smilingFreundlichkeit beruht, sondern auf einer erstaunlichen inneren Heiterkeit, die wiederum eng zusammenhängt mit einer bei prominenten Autoren eher seltenen Fähigkeit, nämlich der zur Selbstironie.

Ich habe vorgegriffen: Vom Geburtsort Podwolotschisk (Ukraine) führte Hermann Kestens Lebensweg zunächst nach Nürnberg, der Stadt seiner Kindheit und Jugend, und von dort an die Universitäten von Erlangen und Frankfurt, wo er anfangs Jurisprudenz und Nationalökonomie studierte, später Geschichte, Philosophie und Germanistik. Er dissertierte über Heinrich Mann, veröffentlichte 1928 seinen ersten (sogleich preisgekrönten) Roman «Josef sucht die Freiheit» und arbeitete dann als Lektor - zuerst bei Kiepenheuer in Berlin, dann nach der rechtzeitigen Emigration («Man soll Massenmördern glauben, wenn sie ihre Massenmorde ankündigen») von 1933 bis 1940 im Allert de Lange-Verlag zu Amsterdam. Er war der Entdecker von Anna Seghers, Alfred Döblin und anderen, der Freund und - sofern nötig - Förderer von Bert Brecht, Marie-Luise Fleisser, Lion Feuchtwanger, Oskar Maria Graf, Heinrich Mann, Erich Maria Remarque, Joseph Roth, René Schickele, Ernst Toller, Kurt Tucholsky...

Bei Kriegsausbruch lebte Kesten mit seiner Frau Toni in Paris; die beiden wurden als «feindliche Ausländer» verhaftet, in dem berüchtigten Konzentrationslager von Gurs interniert, konnten aber noch 1940 in die Vereinigten Staaten emigrieren, deren Staatsbürgerschaft Kesten schliesslich annahm, obwohl er, wie er sagt, «allenfalls mal ein paar Artikel» in der Sprache dieses Landes geschrieben hat, da er sich im Englischen nie richtig zu Hause gefühlt habe. New York und Rom waren dann abwechselnd die Hauptschauplätze seines Lebens: «Früher habe ich geglaubt, in grossen Städten leben zu müssen.»

Mir kommt bei dieser Aussage allerdings der Verdacht, dass es Kesten weniger auf die Städte selbst und ihre spezifischen kulturellen, historischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten ankam als auf das urbane Lebensgefühl, in einem Zentrum zu sein, Freundschaften pflegen und in einem Kaffeehaus sein literarisches Hauptquartier aufschlagen, im Kreuzfeuer ständiger Störungen ungestört an seinem imposanten Oeuvre schreiben zu können: Wenn ich ihn frage, wo er denn in Rom gewohnt habe, zuckt er die Achseln: In der Nähe eines Parks und nicht weit von einem kleinen Markt. Das ist eine Beschreibung, die zwischen Pincio, Trastevere und Aventin auf beinahe jede römische Wohnlage zutrifft.

1977 starb Hermann Kestens Frau in Rom. Noch einmal versuchte er es mit New York, aber «die Stadt war zu anstrengend» geworden. So kam er auf die «sanfte Insel» Schweiz, nach Basel; wohnte zunächst bei seiner Jugendfreundin Martha Marc auf dem Bruderholz, zog nach dem Tod dieser Frau ins Jüdische Altersheim La Charmille in Riehen, «weil ich nicht kochen kann», wie er gelegentlich meiner für die Weltwoche schreibenden Kollegin Evelyn Braun anvertraute.

 

In Basel sei er «praktisch unbemerkt» geblieben, hiess es in verschiedenen Zeitungsartikeln zu Hermann Kestens 90. Geburtstag.

Das stimmt, und es stimmt auch wieder nicht: Die öffentlichkeit hat von Hermann Kesten kaum Notiz genommen, aber auch er hat nie den Kontakt zu ihr gesucht, hat es beispielsweise vor ein paar Jahren standhaft abgelehnt, sich für ein Autorenporträt im Riehener Jahrbuch interviewen zu lassen. In literarischen Kreisen galt er als Mythos: Man glaubte zwar an seine Existenz, aber niemand hatte ihn je von Angesicht zu Angesicht gesehen mit Ausnahme von Dieter Fringeli, der in der Basler Zeitung mehrfach über den grossen «Kaffeehausliteraten» berichten durfte.

Dass in den letzten Jahren Schriftstellerkollegen vom Rang eines Wolfgang Hildesheimer, Rolf Hochhuth, Hermann Kant, Pavel Kohout, Reiner Kunze, Adolf Muschg oder Urs Widmer gewissermassen vor seiner Haustür in der ARENA gelesen und diskutiert haben, hat Hermann Kesten offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen: «Was ist das, die ARENA?», fragt er mich, wenn wir nebeneinander bei dem Abendessen sitzen, das der ARENA-Feier zu Ehren seines 90. Geburtstages vorausgeht.

Ich versuche, das Gespräch auf die Basler Literatur zu lenken. Ob er beispielsweise den Ulrich Becher kenne? Kesten zögert. Doch, einmal habe er ihn getroffen - aber Bechers Schwiegervater, den habe er recht gut gekannt, den alten Roda Roda, das sei ein Mann von grossartigem Witz und Geist gewesen; gelegentlich habe man auch miteinander Schach gespielt.

Wie er sich denn so in Riehen fühle, möchte jemand aus der Tischrunde wissen. Kesten überlegt einen Moment, dann formuliert er den unangreifbar ironischen Satz: «Riehen muss mir gefallen, denn ich habe es selbst gewählt.»

Nach kurzer Pause fügt er hinzu: «Natürlich wusste ich nichts von Riehen, ehe ich hierher kam; aber Basel, das ist etwas anderes - Basel ist eine Stadt mit vielen und grossen Verdiensten.»

Im Meierhof haben sich zahlreiche Gäste aus dem In- und Ausland zur dritten Geburtstagsfeier für Hermann Kesten versammelt - ein offizieller Festakt mit Willy Brandt in der Vaterstadt Nürnberg und ein von der Deutschen Botschaft gegebener Empfang in der Charmille sind schon vorausgegangen. Ob ihm all diese Feierlichkeiten zu seinem 90. Geburtstag nicht lästig seien?

«Ich sehe mit Sehnsucht meinem Hundertsten entgegen.»

Dieter Fringeli hält die Laudatio und charakterisiert den Autor als einen «Umgetriebenen, Gejagten, Entkommenen» und zugleich als den «geborenen Helfer und Freund»; das bezieht sich auch auf seine Rolle als Lektor und Vermittler: «Die deutsche Literatur ist durch seine Hände gegangen.» In seinen Büchern, «stürmisch wie er selbst», habe Kesten stets versucht, «gegen die grause Zeit anzuschreiben».

Im zweiten Teil des Abends kommt Kesten selbst zu Wort, das heisst, der Schauspieler Wolfgang Hepp leiht ihm seine Stimme und liest Proben aus den drei wichtigsten Bereichen seines literarischen Schaffens. Er beginnt mit der Lyrik:

 

Ich bin der ich bin.

Einer der mit Schatten spielt. 

Ein Erfinder von Figuren,

Erzähler absurder Geschichten aus deinem und meinem Leben.

Ich amüsiere mich über die komischen Repetitionen meinesgleichen.

Sie sehen wie Götter aus, die schon im Anfang aufhören,

in einer Welt, die ein Hiatus ist,

Ein Vexierrätsel, das keinen vexiert.

Ich gehe und blicke mich um.

Ruft er mich schon?

Dann folgt ein Stück Prosa, wie es den einst von Joseph Roth wegen der «Anmut seiner Bosheit» gepriesenen Erzähler Kesten nicht besser charakterisieren könnte: «Dialog der Liebe» ist die Geschichte eines Liebespaares, das am Standesdünkel der Gesellschaft zerbricht (sie ist die Tochter eines Richters, er «nur» Proletarier). Nun ist Kesten aber viel zu sehr Ironiker, als dass er sich darauf beschränkte, einfach die Umstände anzuklagen: Auch die Liebenden selbst erweisen sich als unfähig, sich von sozialen Zwängen und pseudoromantischer Träumerei zu befreien; statt vertrauensvoll aufeinander einzugehen, enden sie «innig verschlungen» auf dem Grund des Stadtteichs.

Zuletzt lässt sich der Essayist Hermann Kesten vernehmen, und zwar mit dem Vorwort zu seinem Buch «Revolutionäre mit Geduld» (1948), einer Sammlung von Porträts, die neun Männern gewidmet sind, welche man für gewöhnlieh kaum in der Geschichte der Revolutionen findet: Ludwig Feuerbach, Denis Diderot, Johannes Kepler, Heinrich Heine, Heinrich und Thomas Mann, Albrecht Dürer, Lorenzo Da Ponte und - Odysseus («der absurde Révolutinär»). Der Text ist auch ein Bekenntnis: «Als ich ein Kind war und die Geschichten der Revolutionen las, stand ich stets auf Seiten der Revolutionäre [...] Später sah ich... ivie schnell Menschen bei kleinen Strassenunruhen umfallen ... Sie sind abscheulich tot, und lebten eben noch. [...] Ich hörte auf, ein sympathisierender Parteigänger aller Revolutionäre zu sein, obgleich ich nie aufhörte, auf Seiten der Unterdrückten zu stehen. [...] Ich lausche [den Sirenengesängen der Revolutionäre] mit ... Skepsis und Begeisterung. Aber ich bin nicht bereit, ihren unmenschlichen Preis zu bezahlen, auch nicht das Leben eines einzigen Menschen als Opfer für das Himmelreich auf Erden... Man hilft nicht der Menschheit durch Menschenopfer. »

Diese Sätze, geschrieben 1948, beweisen - sofern das überhaupt noch bewiesen werden müsste - Hermann Kestens Fähigkeit, kluge, ironische Distanz zu wahren zu den menschenverachtenden Erregungszuständen, wie sie Europa von den Glaubenskriegen bis zu den grossen Revolutionen immer wieder erschüttert haben. Diese Distanz hat sich der wache Beobachter des Zeitgeschehens bis heute bewahrt. Auf das in beiden Teilen Deutschlands immer lauter erklingende Wiedervereinigungsgeschrei angesprochen, erklärt er entschieden: «Man versteht ja, dass die Deutschen wieder Zusammensein wollen. Auf der andern Seite macht mir diese Entwicklung Angst. Die Deutschen sind immer noch gefährlich.»

Spricht's und wandert durch die Nacht zur letzten Station seines Exils, der Charmille, wenige hundert Meter von der deutschen Grenze entfernt.

Hermann Kestens Schriften sind am ehesten in folgender Ausgabe erhältlich: Ausgewählte Werke in 20 Einzelbänden, Ullstein Verlag (1980 ff). Insbesondere sei auf folgende Bücher hingewiesen: «Josef sucht die Freiheit» und «Ein ausschweifender Mensch» (1928/29; diese beiden ironischen Erziehungsromane kreisen um die gleiche - autobiographisch geprägte-Figur des Josef Bar). «Der Scharlatan» (1932), «Der Gerechte» (1943), «Revolutionäre mit Geduld» (1948), «Casanova» (1952), «Meine Freunde, die Poeten» (1953), «Dichter im Café» (1959); ferner auf die «Trilogie vom spanischen Traum», in der es um die spanische Geschichte des 15. und 16. Jahrhunderts geht.

Dieter Fringeli (*1942), Dr. phil., ist Lyriker, Germanist und Redaktor.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1990

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