Ein Jahr im Land der unbegrenzten Möglichkeiten

Andrin Martig

Schon mit dem Flug über den grossen Teich war die erste Grenze überschritten: Ich war noch nie weiter als in Europa gereist. Aber das war nur der Anfang. Ich erkannte in einem Jahr so viele meiner Grenzen wie nie zuvor.

Mit dem Visum fing alles an. Na ja, natürlich hat es schon früher angefangen, aber von da an galt es richtig ernst. In Bern auf der Botschaft waren sie nett, vergleichsweise. Ich hatte keine grossen Probleme mein Visum zu bekommen. Aber es ist schon krass, wenn man extra nach Bern reisen muss, nur um da eine kleine Unterschrift zu bekommen. Zwei Wochen später kam dann mein Visum mit der Post, schön in meinem neuen Schweizer Pass drin, mit Foto. Also war ich von amtlicher Seite her startklar.

Es brauchte zwei ganze Tage, bis ich mit Hilfe meiner Mutter alles Wichtige gepackt und alles Unwichtige aussortiert hatte. Schliesslich waren es dann drei Gepäckstücke, die ich knapp alleine tragen konnte. Als ich auch meine Zimmer ganz gründlich aufgeräumt hatte, war ich vollumfänglich «ready for take off».

Am Flughafen in Zürich beim Abschied waren meine Eltern und ihre Partner, meine Gotte und meine Grossmutter. Es war ein ganz spezieller Moment - die Rolltreppe brachte mich langsam ausser Sicht, und mir wurde bewusst, dass ich sie alle für ein ganzes Jahr nicht mehr sehen werde, und ich keine Ahnung hatte, wie das für mich sein wird. Von Zürich flog ich dann über Paris nach Boston.

In Boston wurden wir (einige Austauschschüler flogen gemeinsam von Zürich) dann als Erstes von einem Porträt des «Mr. President» empfangen. Es war so aufgehängt, dass es alle Einreisenden bestens sahen und es kam mir sehr provokativ vor. Die Einreise-Behörde war dann ziemlich anstrengend. Es nahm viel Zeit in Anspruch, bis man endlich «einreisen» durfte. Wir wurden wie Aliens behandelt, zum Teil noch verständlich, zum Teil auch komisch.

Beim Ausgang wurden wir von der Camp Crew erwartet. Im Flug von Paris kamen zu den Schweizerinnen noch Italienerinnen, Norwegerinnen und Schwedinnen dazu, also waren wir schon eine ganze Menge. Mit fünf Reisebussen fuhren wir auf dem Highway zum Camp, eine über den Sommer leer stehende Universität. Am nächsten Morgen war dann die überraschung gross, schon die zwei vorangehenden Tage waren jeweils zwei solche «Ladungen» angekommen. Ich glaube, ich habe in den zwei Wochen nicht mal einen Viertel der Mitschüler wenigstens vom Sehen gekannt.

Am 2. August 2003 sah ich zum ersten Mal meine Gastfamilie, und das war ein unglaublich komisches Gefühl, ich hatte noch nie zuvor so was gefühlt. Es ist sehr speziell, wenn man Leute am Flughafen kennen lernt, die mit einem Schild mit deinem Namen drauf dastehen, und es deine Familie sein wird. Oder wenn dir ein Zimmer gezeigt wird, und du weisst, dass dies dein Zimmer für die nächsten zehn Monate sein wird. Klar, ich muss zugeben, ich war schon nicht ganz glücklich, dass es nicht so war, wie zu Hause, obwohl ich mich ganz klar darauf eingestellt hatte. Aber das war nur am ersten Tag.

Mein Zuhause wurde eine Farm im Südosten Minnesotas, nahe dem Mississippi. Mein Gastvater ist Farmer und meine Gastmutter Pflegerin in ihrem eigenen kleinen Altersheim. Ich habe drei Gastbrüder und zwei Gastschwestern, also eine grosse Familie.

Die «Town», in der ich zur Schule ging, hat etwa 1400 Einwohner, und für diese Grösse war recht viel los. Es gibt eine Indoor-Bowlinganlage mit Restaurant, einen recht grossen Lebensmittelladen, mehrere Bars und auch eine Tankstelle mit einem Shop, der rund um die Uhr und an allen Tagen offen ist.

Ich lebte mich richtig schnell ein, und es war gut, dass ich einen ganzen Monat mit meiner Gastfamilie hatte, bis die Schule anfing. Wir gingen sogar noch zusammen in die Ferien zum Mount Rushmore, da, wo die vier Köpfe der vier Präsidenten Washington, Jefferson, Roosevelt und Lincoln in den Felsen gemeisselt sind. Bis die Schule begann, erlebte ich also schon eine Menge. Das Football-Training fing auch schon an und ich wurde zu einigen Partys eingeladen, wo ich die jungen Leute des Dorfes kennen lernten konnte.

Am Freitag vor dem Schulstart war das erste Spiel der neuen Saison. Da hatte ich noch fast keine Ahnung von Football. Ich schaute mir das Spiel natürlich an, eigentlich hätte ich auch in voller Montur am Spielfeldrand die Mannschaft anfeuern müssen, wie alle vom Team, aber der Coach erlaubte mir, das Spiel von der Tribüne aus zu verfolgen, um möglichst schnell zu verstehen, um was es ging. Nur von den Reaktionen des Publikums her wusste ich, wie es um die «Cardinais» stand. Na ja, ein Erlebnis war es trotzdem, die Hymne vor dem Spiel, die Pausenshow, die Cheerleaders und die Fans. Auch die Nachhausefahrt mit dem Team-Bus nach dem Sieg war neu und ungewohnt, es war eine absolut gute Stimmung, aber dennoch sehr ruhig an Bord. Vor allem in den hinteren Reihen, wo traditionellerweise die älteren Spieler sitzen, war es im Vergleich zur Hinfahrt, bei der es wild und laut zu und her ging, totenstill. Diese Spieler gehören der «Varsity» an und werden meisten eingesetzt. Sie sind sowohl Teamstützen als auch Aushängeschilder der Schule.

Ohne Vorstellung, wie mein Tag werden würde, stieg ich am nächsten Dienstagmorgen in den Schulbus (am Montag war Labour Day, so etwas wie der Tag der Arbeit, und darum war schulfrei). Die Fahrt in die Schule dauerte jeweils eine halbe Stunde. In der Schule kamen wir immer eine halbe Stunde zu früh an, was ich völlig sinnlos fand, ich hätte mich in dieser Zeit lieber noch ein paar Mal im Bett umgedreht. Manchmal hatte ich noch Hausaufgaben zu erledigen oder sonst was, aber so früh konnte ich meistens noch nicht klar denken. Dafür war dann mein Hirn schon aufgewärmt, wenn es klingelte.

Die Schule ist schon sehr anders als in der Schweiz. Die Lehrer sind sehr zuvorkommend, die meisten kennen ihre Schüler schon seit langem und haben wohl darum einen sehr freundschaftlichen und respektvollen Umgang mit ihnen. Man hat es aber auch als Austauschschüler ziemlich leicht, ein gutes Verhältnis mit den Lehrern aufzubauen. Mein Lieblingslehrer war definitiv der Kunstlehrer. Er war eine Lokalberühmtheit und verkaufte seine Bilder, die er während seiner Stunden malte, für viel Geld. Er war der einzige amerikanische Lehrer, den ich besser kennen lernte, mit dem ich über Kunst diskutieren konnte. Es tut mir Leid, dies feststellen zu müssen, aber da war sonst niemand, den so ein Thema wirklich interessiert hätte. Nur wenige meiner Lehrer kannten die Schweiz aus eigener Erfahrung.

Was mir ausgesprochen auffiel: Das Unterrichtsangebot ist viel breiter als hier; Fächer wie Karriereplanung, Schweissen oder Architektur habe ich in der Schweiz noch nie angetroffen. Den Stundenplan kann man sich auch recht frei zusammenstellen, für die Amerikaner gibt es nur sehr wenige Pflichtfächer, für mich gab es gar keine. Was mir Eindruck machte, war die «Käfighaltung» der Schülerinnen und Schüler. Während der Schulstunden war es nicht erlaubt, sich in den Gängen aufzuhalten. Man konnte das Schulzimmer nur verlassen, wenn man sich auf der Liste abgemeldet hatte und den zweckentsprechenden Pass mitnahm, zum Beispiel «Boys Bathroom» oder «Office Pass». In einigen Fächern hatte man sogar nur eine bestimmte Anzahl «Crédits», um das Zimmer zu verlassen.

An den Schulalltag gewöhnte ich mich recht schnell. Natürlich war es streng und manchmal sehr ermüdend, aber ich hatte mich gezwungenermassen sehr bald an den hohen Rhythmus gewöhnt, der in Amerika wohl auch in der Arbeitswelt herrscht. Mister Beisel, mein amerikanischer Geschichtslehrer, sagte einmal, dass Amerikaner durchschnittlich doppelt so viel arbeiten wie Europäer, was sicher nicht ganz stimmt.

Die Schule war von Montag bis Freitag von acht bis drei Uhr nachmittags. Den Rest des Tages hatte man zur freien Verfügung, wenn man nicht in einem Sportsteam trainierte.

Da ich mich für Football eingeschrieben hatte, hiess es für mich jeden Nachmittag direkt nach der Schule, bis um sechs Uhr abends in der vollen Ausrüstung wie ein Profi zu trainieren. Ein Programm mit Kraftraum, anstrengenden Konditions-Einheiten und nachmittagfüllende Taktik- und Spielbesprechungen im Klassenzimmer. Wer nicht alles gab, spielte nicht, wer ohne guten Grund nicht ins Training kam, erhielt eine Absenz, die gleich wie eine Schulabsenz gehandhabt wurde. Und wer sich sonst nicht richtig aufführte oder sich nicht an die Regeln hielt, konnte auch von der Schule oder sogar von der High School League gesperrt werden.

Vom ganzen Konzept, wie Sport und Schule vernetzt sind, bin ich immer noch begeistert. Wenn man es mit den Schweizer Fussballmannschaften vergleicht, wo man zweimal die Woche ein Training hat, das immer etwa gleich gestaltet ist und dem die guten Spieler fernbleiben, weil sie wissen, dass sie samstags trotzdem spielen werden, ist es halt schon genial, was unsere vier Coaches leisteten. Sie lebten ganz für den Football, den ich natürlich auch sehr schnell ins Herz geschlossen hatte. Das Wochenende mit einem Spiel anzufangen, war super. Und am Sonntag folgte immer der «NFL Sunday», an dem die landesweit besten 32 ProfiTeams spielten - da sind die «Vikings» dann fast so wichtig wie die «Cardinais».

Ferien hatte ich keine, ausser an Weihnachten eine Woche. Weihnachten war sehr speziell, ich denke, ich durfte eine typisch amerikanische Weihnachtszeit miterleben. Sie fing mit Haloween an. Dafür war ich zu alt, aber meine kleinen Gastgeschwister vergnügten sich mit Süssigkeiten sammeln und Streiche spielen. Dann folgte «Thanks Giving», etwas völlig Neues für mich. Da durfte natürlich der Truthahn nicht fehlen. Meine Gastmutter machte gleich zwei, einen für die Familie und einen fürs Pflegeheim. Und an Weihnachten kamen die ganzen Familien meiner Gasteltern zusammen. Natürlich gehörte wieder ein feines Essen, «viel Kirche» und Geschenke dazu.

 

Der Abschied fiel natürlich schwer. über die Zeit wuchsen meine Gastfamilie und ich zusammen, ohne dass wir es richtig merkten. Ich hatte mir zwar schon bald Gedanken über den Tag des Auseinandergehens gemacht, aber es war dann überhaupt nicht so, wie ich es erwartet hatte. Der Abschied unterschied sich auch völlig von dem in der Schweiz. In Zürich wusste ich, dass ich in einem Jahr wieder an gleicher Stelle stehen würde. Natürlich möchte ich meine Gastfamilie wieder einmal sehen und sie besuchen, aber ich werde nie mehr so lange und so nahe mit ihr zusammenleben.

 

 

 

 

 

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2004

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