Eine Kundschaft mit besonderen Bedürfnissen


Gerd Löhrer


 

Ältere Menschen sind ein Wirtschaftsfaktor. So, wie alle anderen Menschen auch: als Einkommensbezieher und als Geldausgeber. Als letzteres sind sie keine ‹Alten›, sprich Rentnerinnen und Rentner, sondern ganz normale Kundinnen und Kunden mit spezifischen Bedürfnissen. Und diese sollen Wirtschaft und Staat befriedigen.


 

«Im Alter geht man mehr in die Wirtschaft», kalauerte ein erheblich jüngerer Mann, als ich ihm von meinem Auftrag erzählte, zum Thema ‹Alter und Wirtschaft› zu schreiben. Nun, ich bin in jüngeren Jahren häufiger in die Wirtschaft gegangen. Je älter ich werde, umso weniger Zeit habe ich dafür. Weil ich meine Zeit für anderes brauche.


 

Meine Studien- und zeitweise Berufskollegin Susanne Leutenegger-Oberholzer denkt auch mit 66 und nach 19 Jahren im Nationalrat nicht daran, sich aus der Politik zurückzuziehen. Gute Politik, sagt sie, habe nichts mit dem Alter zu tun. Recht hat sie. Andere Kollegen*, vor allem solche, die in körperlich anspruchsvollen Berufen tätig waren, konnten den Tag ihrer Pensionierung hingegen kaum erwarten. Recht haben sie. Wieder andere stürzen sich nach der Pensionierung derart entschlossen auf ihr Hobby, dass es schon fast professionelle Züge annimmt. Recht haben auch sie.


 

Raus aus dem Hamsterrad – aber nicht ganz


Ich war mit damals 63 Jahren froh, das redaktionelle Hamsterrad verlassen zu dürfen. Den täglichen Produktionszwang vermisse ich nicht im Geringsten. Einerseits. Andererseits geniesse ich es bis heute, regelmässig, wenn auch nur für einzelne Tage, wieder im Hamsterrad zu laufen. Das hält beweglich und man bleibt mit der Berufswelt und den Problemen der jüngeren Kollegen in Kontakt. Richtig glücklich bin ich darüber, dass meine Schreibfertigkeit auch jetzt, sechs Jahre nach dem ‹Rückzug›, noch gefragt ist. Und da ich mich seit meiner Pensionierung wieder vermehrt mit bildender Kunst, Theater und Oper beschäftige, gerne koche und gut esse, gerne reise und Bücher lese, habe ich stets zu wenig Zeit. Und das ist gut so.


 

Inwiefern das Alter ein besonderer Wirtschaftsfaktor ist, lässt sich angesichts der Vielfalt möglicher Entwürfe für diese Lebensphase gar nicht so einfach beantworten. Wirtschaftsfaktor ist der Mensch in zweierlei Hinsicht: Er erzielt Einkommen – und er gibt es aus. Mit dem Alter ändert sich lediglich die Art und Weise, wie das Einkommen erzielt wird – und wie es ausgegeben wird.


 

Höchster Wohlstand zwischen 50 und 65 Jahren


Den höchsten Wohlstand, gemessen am verfügbaren Einkommen, erzielt die Schweizer Bevölkerung zwischen Mitte 50 und Mitte 60. Dann ist das Einkommen hoch, die Verpflichtungen nehmen ab, die grösseren Anschaffungen sind getätigt. In dieser Altersphase wird in der Regel am meisten gespart. Jüngere Menschen sind mit dem Einkommen noch nicht beim Maximum angekommen und haben familienbedingt höhere Ausgaben; das frei verfügbare Einkommen ist deutlich tiefer als bei älteren Arbeitnehmern. 


 

Am Übergang ins Pensionsalter, mit 64/65, ändert sich die Einkommensstruktur nochmals. Mit der AHV und der beruflichen Vorsorge sollte heute die Mehrheit der Menschen in der Lage sein, ihre gewohnte Lebenshaltung fortzusetzen; das ist nach Meinung der Gesetzgeber dann der Fall, wenn Rente und Pension mindestens 60 Prozent des letzten erzielten Einkommens abdecken. Die dritte Säule, das freiwillige, steuerbegünstigte Vorsorgesparen, soll dazu dienen, im Pensionsalter ein finanziell ‹sorgenfreies Leben› zu führen.


 

Das ist für meine Generation, die vor Kurzem ins Rentenalter gekommen ist, mehrheitlich gegeben. Ob es auch für künftige Rentner so bleiben wird, ist hingegen eine grosse Frage. Unsere Grosseltern empfanden es noch als Geschenk, wenn sie den 75. Geburtstag erleben durften; für uns Jung-Rentner ist 85 die durchschnittliche Lebenserwartung. Und schon geht die Rede, dass diese durchaus auch auf 95 oder 100 Jahre steigen könnte. 


 

Das heisst: Das ‹sorgenfreie Leben›, das zur Zeit der Einführung der AHV ein paar Jahre dauerte, währt heute im Schnitt 20 Jahre und könnte in absehbarer Zeit auf 30 Jahre zulegen. Weil gleichzeitig über viele Jahre die Geburtenrate zurückging, wird die Schweiz auch im Durchschnitt immer älter.


 

Riehen lebt die Zukunft 


In dieser Hinsicht ist Riehen sozusagen der Zeit voraus. Die Gemeinde ist eine der ältesten der Schweiz. Das wird sie aber nicht lange bleiben. Der Rest der Schweiz wird unweigerlich aufholen. Riehen hat bereits heute eine Altersstruktur, welche die Schweiz erst in etlichen Jahren erreichen wird. Entsprechend gut ist bereits jetzt das Angebot an Betreuungsinstitutionen für ältere Menschen.


 

Der Engpass in der pflegerischen Versorgung der Alten wird sich weniger als Mangel an Gebäuden und Betten manifestieren, sondern eher als eklatanter Mangel an ausgebildetem Personal. Der aber hat weniger mit der Überalterung der Bevölkerung zu tun als mit deren verhinderter Verjüngung. Wenn wir den Zustrom ausländischer Arbeitnehmer mutwillig zu stark beschränken, werden uns sehr bald die nötigen Fachkräfte fehlen. Laut einer aktuellen Studie des Beratungsunternehmens Boston Consulting könnten in der Schweiz bereits in sechs Jahren 430 000 qualifizierte Mitarbeiter fehlen, ein erheblicher Teil davon im Gesundheits- und Pflegebereich. Weil es sich bei diesen Arbeitnehmern um jüngere Menschen handelt, die womöglich mit ihren Familien einreisen, verhindern wir mit den Einschränkungen auch, dass die Tendenz zur Alterung der Gesellschaft gebremst wird.


 

Drohende Finanzierungslücken


Die Finanzierungsprobleme der Rentensysteme durch die veränderte Altersstruktur sind offenkundig. In der AHV finanzieren immer weniger Berufstätige immer mehr Rentner, in der beruflichen Vorsorge reicht das angesparte Alterskapital nicht mehr, um während der restlichen Lebenszeit gleich bleibende Pensionen auszuzahlen. Diese Probleme sind nur lösbar, wenn man das gesamte Paket der Altersvorsorge reformiert. Es bringt wenig, an jeder der drei Säulen einzeln herumzuschrauben – hier den Mindestzins flexibilisieren, dort den Umwandlungssatz senken, da mehr Lohnprozente verlangen, dort das Pensionsalter erhöhen, hier die Mehrwertsteuer anzapfen, dort die Erbschaftssteuer wieder einführen.


 

Insofern ist Bundesrat Alain Berset mit seinem ganzheitlichen Ansatz wahrscheinlich auf dem richtigen Weg. Die Vorlage, die er zur Vernehmlassung ausarbeitet, enthält aber so viele schmerzhafte Eingriffe, dass sie von praktisch allen Interessengruppen bekämpft werden wird: von den Gewerkschaften wegen des wahrscheinlich höheren Rentenalters und des zu stark reduzierten Umwandlungssatzes in der zweiten Säule (Stichwort «Rentenklau»); von der bürgerlichen Seite unter anderem wegen der Mitfinanzierung aus der Mehrwertsteuer und der zu geringen Senkung des Umwandlungssatzes. Die Koalition der Unzufriedenen könnte so breit werden, dass die Vorlage Schiffbruch erleidet. Um eine Reform werden wir aber dennoch nicht herumkommen, wenn auch künftige Generationen im Alter ein angemessenes Einkommen haben sollen.


 

Hohe Ansprüche


Das Einkommen im Alter lässt sich relativ klar definieren: Für die meisten Schweizer Rentner setzt es sich aus den Erträgen der drei Säulen zusammen. Am Haushalteinkommen gemessen, gehört Riehen zu den privilegierten Standorten in der Schweiz. Die Gemeinde liegt gemäss Steuerstatistik mit einem durchschnittlichen Reineinkommen von knapp 90 000 Franken um fast 50 Prozent höher als der Kanton insgesamt und knapp hinter den Stadtquartieren Bruderholz und St. Alban. 


 

Aussagekräftiger ist jedoch der Median, also jener Mittelwert, bei dem die Hälfte der Bevölkerung darüber und die Hälfte darunter liegt. Danach liegt das Haushalteinkommen in Riehen mit einem Median von 61 000 Franken rund 25 Prozent über dem Kantons-Median. Klagen über zu tiefe Rentner-Einkommen in Riehen mögen in Einzelfällen berechtigt sein. Davon abgesehen finden sie aber auf recht hohem Niveau statt.


 

Das Haushalteinkommen der Riehener Rentner unterscheidet sich nicht allzu sehr von der Gesamtheit der Haushalte. Dasselbe gilt im Prinzip für ihr Konsumverhalten. Erst, wenn eine alte Person gebrechlich oder pflegebedürftig wird, ändert sich das grundlegend. Dann werden medizinische Hilfsmittel, Mahlzeiten-, Spitex- und Transport-Dienste benötigt – und in der letzten Phase der Platz im Pflegeheim mit Rundum-Betreuung. 


 

‹Rüstige Alte› hingegen – das sind die meisten, und sie sind es sehr lange – brauchen das nicht oder kaum. Sie sind als ganz normale Konsumenten unterwegs. Sie sind häufig qualitätsbewusster als Jüngere, schätzen Wegwerfprodukte nicht sehr, haben Mühe damit, dass in vielen Läden Bedienung heute nur noch in Form von Selbstbedienung vorkommt, und schätzen den persönlichen Kontakt zum Händler. Weil sie mehr Zeit haben, kochen sie lieber selber, als sich Fertigmahlzeiten aufzuwärmen, nehmen häufiger kulturelle Angebote wahr und verreisen gern und immer weiter. Kurz: Sie nutzen den zeitlichen Spielraum, den ihnen der Ruhestand bietet, um unruhig zu bleiben.


 

Menschen statt Maschinen 


Wer mit älteren Menschen ins Geschäft kommen will, tut also gut daran, sie nicht als zu betreuende Personen wahrzunehmen, sondern als normale Kunden, die zuweilen ihre spezifischen Bedürfnisse haben. Dabei sind sie durchaus in der Lage, diese auch zu artikulieren – und Geschäfte zu meiden, die ihre Ansprüche nicht erfüllen. Die besonderen Bedürfnisse sind sehr individuell. Das gilt wohl für etliche Jüngere genauso. 


 

Die meisten heutigen Jung-Rentner haben in ihrem Berufsleben durchaus und sehr intensiv mit elektronischen Hilfsmitteln zu tun gehabt. Obwohl sie damit umgehen können, ziehen es viele trotzdem vor, Bankgeschäfte nicht an einem anonymen Apparat abzuwickeln, sondern mit einem Menschen, der die Bank verkörpert. Dieser Mensch ist für sie die ‹Corporate Identity› des Unternehmens. Ob das der Bank passt, ist völlig unerheblich – relevant ist aber, was die Kundschaft wünscht. Denn die lässt sich nicht gern zwingen – und kann auch woanders hingehen.


 

Der Wunsch, anderen Menschen zu begegnen, wird mit zunehmendem Alter immer wichtiger – weil die Zahl der potenziellen Ansprechpartner immer übersichtlicher wird. Wenn der Postmann gar nicht mehr klingelt, ist das eine traurige Entwicklung. Wenn Quartier-Postfilialen in Gehdistanz schliessen (oder nur noch beschränkt geöffnet sind und nicht mehr alle Dienstleistungen anbieten, wie das in der Rauracher-Filiale der Fall ist), dann ist das ein Verrat am ‹Service Public› – es mag betriebswirtschaftlich vernünftig sein, dem ‹Goodwill› gegenüber dem Gelben Riesen ist es aber gewiss abträglich. 


 

Es gibt natürlich auch positive Beispiele. In Riehen gibt es einige Läden, in denen man von Menschen bedient wird, die neben dem Verkaufsgespräch auch noch gern das eine oder andere Wort mit ihrer Kundschaft wechseln. «Der Henz» ist so ein Geschäft oder «der Wenk». Dass aber auch die Handelsriesen dazu in der Lage sind, zeigt das Beispiel der M-Partner-Filiale am Grenzacherweg. Die hat sich zum veritablen Quartierladen entwickelt und ist – gefühlt – einfach immer offen. Da wird man sehr schnell zum ‹Wiederholungstäter› – einfach weil man sich dort willkommen und individuell betreut fühlt. 


 

Das hat jetzt aber fast nichts mehr mit ‹Alter als Wirtschaftsfaktor› zu tun, sondern mit dem Thema ‹Der Kunde ist König›. Und insofern doch wieder mit dem Alter, denn dies war in unseren jüngeren Jahren der Slogan des gesamten Handels- und Dienstleistungsgewerbes.


 

 

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2014

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