Exploit in Colombier

Rolf Spriessler

Der Riehener Sportpreis für das Jahr 2002 ging an den Leichtathleten Nicola Müller vom TV Riehen. Sein Titelgewinn war eine der ganz grossen überraschungen.


Am Sonntag, 7. Juli 2002, spazierte Nicola Müller vom Turnverein Riehen an den Schweizer Leichtathletikmeisterschaften in den Innenraum des Stade Littoral in Colombier, legte eine für ihn in einer Wettkampfsituation ungewohnte Lockerheit an den Tag und schockte die Konkurrenz gleich im ersten Versuch des Speerwerfens mit einem Wurf auf 71,18 Meter. Mit einem Sieg von Nicola Müller hatte an jenem Tag nämlich ernsthaft niemand gerechnet. Er lag an vierter Stelle der aktuellen nationalen Saisonbestenliste und schon der Gewinn der Bronzemedaille wäre für ihn ein grosser Erfolg gewesen. Vielleicht hatte gerade diese Tatsache dazu beigetragen, dass sich der Riehener nicht selbst unter Erfolgsdruck gesetzt hatte. Oder vielleicht hatte sein Hochgefühl auch damit zu tun, dass er ein neues Wettkampfgerät einsetzen konnte, das ihm erst seit ein paar Tagen zur Verfügung stand.


Auf jeden Fall gingen alle seine sechs Wettkampfwürfe über die 70-Meter-Marke, noch mit seinem viertbesten Versuch hätte er die Konkurrenz gewonnen und mit dem letzten Versuch, als er schon als Meister feststand, steigerte sich Nicola Müller nochmals auf die persönliche Bestweite von 73,52 Metern. Nach einer bis dorthin eher etwas enttäuschenden Saison habe er in Colombier nichts zu verlieren gehabt, bemerkte Nicola Müller nach dem Wettkampf.


Ein Schweizer Meistertitel bei der Elite in einer Olympiasportart, ja in einer der klassischen Grundsportarten überhaupt, ist für die Riehener Sportszene eine grosse Sache. Der Umgang mit Wurfspeeren ist im Zusammenhang mit der Jagd eine Fähigkeit, die die Entwicklung der Menschheit nicht unerheblich beeinflusst haben dürfte. Das Speerwerfen als leichtathletische Sportart, wie sie heute ausgeübt wird, ist seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bekannt. Als Schöpfer der modernen Speerwurftechnik gilt der Schwede Eric Lemming, der 1908 erster Olympiasieger der Neuzeit wurde, als die Disziplin erstmals im Olympiaprogramm war.


Das Speerwurffieber brach beim Turnverein Riehen aus, lange bevor Nicola Müller überhaupt daran dachte, Leichtathlet zu werden. Nicola Müllers heutiger Trainer Dieter Dunkel war es, der in den 80er-Jahren seine Schwester Katrin Dunkel zur zweitbesten Speerwerferin der Schweiz machte. Durch die Betreuung seiner Schwester eignete sich Dieter Dunkel ein Know-how an, das ihn bis zum Nationaltrainer aufsteigen liess. Einige Jahre nach dem Rücktritt von Katrin Dunkel vom Spitzensport zeichnete sich ab, dass es beim Turnverein Riehen einige junge Athleten gab, die Talent hatten und es mit dem Speer versuchen wollten. Unter ihnen befand sich Nicola Müller. Dieter Dunkel entschloss sich, wieder als Trainer aktiv zu werden.


Der 1977 geborene Nicola Müller hatte den Weg zur Leichtathletik schon sehr früh gefunden. Als Sechsjähriger schloss er sich der Jugendriege des Turnvereins Riehen an, zu der ihn sein Vater und eine Cousine gebracht hatten. Er fühlte sich im Turnverein von Anfang an gut aufgehoben. Und das war und ist sehr entscheidend für ihn. Nicola Müllers Harmoniebedürfnis ist gross, sein persönliches Umfeld und seine Kollegen sind ihm wichtig. Wenn ihn etwas bedrückt, ist sein Kopf nicht frei und dann gelingen ihm keine guten Leistungen. Nicola Müller ist ein eher leiser, nachdenklicher und in gewissem Sinn sensibler Typ - auch wenn man dies von einem ehemaligen Mister-SchweizKandidat vielleicht nicht auf Anhieb denken würde.


Zur Mister-Schweiz-Wahl hatte er sich nicht etwa selbst eingeschrieben. Seine Schwester Jessica war es gewesen, die ihn angemeldet hatte. Als er dann für den Final ausgewählt worden war, zeigte er sich fast etwas in Sorge, den Titel gewinnen zu können. Denn unter den Verpflichtungen eines Mister Schweiz hätte notgedrungen seine sportliche Karriere leiden müssen und das wollte er eigentlich nicht riskieren. Das «Problem» erübrigte sich. Nicola Müller schnitt am Final gut ab und gewann viele Sympathien, wurde aber nicht Mister Schweiz. Er betonte danach, dass der Richtige gewonnen und dass er die vielen schönen Erfahrungen im Zusammenhang mit diesem Grossereignis genossen habe.


Im Sport musste Nicola Müller immer wieder Rückschläge in Kauf nehmen. Wiederholt hatte er Verletzungsprobleme oder kam an wichtigen Wettkämpen nicht auf Touren. Mit Ruhe, Zielstrebigkeit und Gewissenhaftigkeit arbeitete er aber stets weiter. Nicola Müller ist ein vielseitiger Athlet, der nicht nur in den Wurfdisziplinen gut ist, und bringt für den Speerwurf günstige Körperproportionen mit. Er hat einen phantastischen Armzug, eine gute Koordination und ein feines Gefühl für die Technik. Doch im Wettkampf spielen die Nerven nicht immer mit. Schon oft hat er sich in Wettkämpfen, auf die es ihm besonders ankam, verkrampft, er konnte seine technischen Fähigkeiten nicht in

Weite umsetzen und blieb unter seinen Möglichkeiten. Am besten ist er, wenn er so locker bleiben kann wie an den Schweizer Meisterschaften 2002 in Colombier.


Mit Erfolgen blieb Nicola Müller zunächst hinter seinem jüngeren Vereinskollegen Pascal Joder zurück, der schon in den Jugendkategorien einen Schweizer-Meister-Titel und mehrere weitere Medaillen geholt hatte. Nicola Müller wurde 1996 in Muttenz Vizeschweizermeister bei den Junioren. Nach zwei weiteren Medaillen (Bronze und Silber bei den Espoirs) wurde Nicola Müller 1999 in Regensdorf Espoirs-Schweizer-Meister (Nachwuchs bis 23 Jahre). Nachdem er bei den Männern das Podest zweimal nur ganz knapp verpasst hatte, klappte es 2002 auch in der Elite.


Ganz auf den Sport zu setzen hatte Nicola Müller nicht gewagt. Seine Ausbildung zum Mechaniker war ihm viel zu wichtig. Umso erstaunlicher war, mit welcher Disziplin und welchem Aufwand er sein Hobby dennoch betrieb.


Erst auf die Saison 2003 hin ging er im Beruf Konzessionen ein und setzte sich erstmals internationale Ziele. Er vertrat die Schweiz an den inoffiziellen WinterwurfEuropameisterschaften von Anfang März in Gioia Taura in Italien, verpasste aber die angestrebte Selektion für das Schweizer Europacupteam. Trotzdem wurde im Verlauf der Saisons 2002 und 2003 deutlich, dass Nicola Müller im Prinzip das Potenzial hat, um sich für eine grosse internationale Meisterschaft qualifizieren zu können.


Mit dem Sportpreis der Gemeinde Riehen für das Jahr 2002 honorierte die siebenköpfige Jury in erster Linie Nicola Müllers Gewinn des Schweizer-Meister-Titels 2002 als Lohn für eine jahrelange, solide Aufbauarbeit und persönliche Entwicklung eines Athleten. Die übergabefeier fand am Montag, 26. Mai 2003, im Lüschersaal der Alten Kanzlei statt.


Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2003

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