Im Reich der Töne erblüht das Schöne

Hans Krattiger

125 Jahre Musikverein Riehen

«Im Reich der Töne erblüht das Schöne» - diese dichterischen Worte bilden das Motto, das sich wie ein roter Faden durch die 125jährige Geschichte des Musikvereins Riehen zieht und die - bekenntnishaft - auf die erste Vereinsfahne geschrieben wurden. Der MVR war allerdings schon 60 Jahre alt, als er sich die Anschaffung der vom Riehener Kunstmaler Willi Wenk (1890-1956) entworfenen Fahne leistete, die dann 50 Jahre lang (1921-1971) bei Festen und Feiern, bei Konzerten und Ständchen präsentiert wurde und die Musikanten als Symbol kameradschaftlicher Treue zum Verein auf vergnügten Reisen begleitete.

«Im Reich der Töne erblüht das Schöne» - die Wirklichkeit sieht allerdings prosaischer aus, und im Rückblick auf 125 Jahre Vereinsgeschichte zeigt es sich, dass in diesem Reich der Töne auch Unkraut und dornenvolles Gestrüpp gedeihen konnte. Doch der Glaube an «das Schöne», das die Musik zu vermitteln vermag, war doch stärker und bewirkte die Kraft, die den Verein durch Licht- und Schattenseiten hindurch von 1861 an bis in unsere Zeit lebensfähig und jung erhielt.

1861 wird als Gründungsjahr des MVR angenommen. Dass jedoch bezüglich der Gründungszeit im Verein selbst lange Zeit Ungewissheit herrschte, geht schon daraus hervor, dass an einer Vereinssitzung vom 26. Dezember 1913 für 1915 eine Jubiläumsfeier zum 50jährigen Bestehen des MVR ins Auge gefasst wurde; denn «nach langem Suchen und Nachfragen bei älteren Aktivmitgliedern konnte festgestellt werden, dass der MVR im Jahre 1865 gegründet wurde», wie es im Sitzungsprotokoll heisst. Es wurde an dieser Sitzung auch schon darüber diskutiert, ob das Jubiläum mit einem Volks- oder einem Musikfest gefeiert werden sollte. 1915 gab es jedoch weder das eine noch das andere, was die Vermutung zulässt, das eigentliche Gründungsjahr, nämlich 1861, sei mittlerweile eruiert worden. An der Generalversammlung, die am 26. Februar 1915 im «Gambrinus» stattfand, wurde der Vorstand in globo wieder gewählt, erfolgte die Aufnahme von sieben neuen Mitgliedern, musste festgestellt werden, dass Dirigent Maurer «den versprochenen Verpflichtungen nicht Folge leisten will» und verlas abschliessend Präsident Ernst SchultheissRominger (1872-1955) «seine humorvolle Beschreibung der Vereinsreise nach Bern, welche mit grossem Beifall Anerkennung fand und ihm bestens verdankt wurde.» Es war die eintägige Reise 1914 nach Bern, wo damals - vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges - die Landesausstellung die Attraktion des Jahres bildete. Und auch im Bericht über die Generalversammlung am 30. März 1916 ist von einer 50-Jahr-Jubiläumsfeier nicht die Rede.

Dass auch Ende der achtziger Jahre Unklarheit herrschte über die Gründungszeit des MVR, geht aus einem Brief vom 8. Januar 1888 an das Polizeidepartement in Basel hervor, in dem der damalige Gemeindepräsident Hans Wenk-Marder (1825-1898) ein Gesuch des MVR für die Bewilligung einer «Bazarverlosung» zugunsten der Anschaffung neuer Instrumente unterstützte und einleitend schrieb: «Seit zirka anderthalb Jahren besteht in Riehen ein neu gegründeter Musikverein von 16 Activmitgliedern...» Vor anderthalb Jahren, das heisst Anno 18 8 6, als der Verein gerade 25 Jahre alt war, wurde an der Sitzung vom 21. Juni Auflösung des Vereins beantragt und zwar vor allem mit dem Argument: «Weil der Verein zum grössten Teil aus älteren Mitgliedern besteht und junge Leute keine Lust zeigen, dem Verein beizutreten.» Der Antrag wurde zum Glück abgelehnt; der Musikverein blieb bestehen. Also schon damals gab es Nachwuchsprobleme, und weil sie den Musikverein durch alle Jahre und Jahrzehnte hindurch begleiteten, wurden auch immer wieder Bestrebungen unternommen, um Jugendliche für den Verein zu gewinnen. So wurde an der Vorstandssitzung vom 21. April 1904 beschlossen, dass zur «Heranziehung von Lehrjungen das Lehrgeld von 10 Franken in Raten von mindestens 50 Rappen soll bezahlt werden können.» Die Folge war, dass 1905 sechs «Lehrlinge» als Aktive in den Verein aufgenommen wurden. Und schon im «Krisenjahr» 1886 war beschlossen worden, Instrumente leihweise abzugeben, um Jüngere zur Mitgliedschaft anzuspornen. In den Jahren des Zweiten Weltkrieges (1939-1945) bildete der Nachwuchs wieder das «grösste Sorgenkind»; mit einem 1948 erstmals durchgeführten Bläserkurs hoffte man, diesem «Sorgenkind» zu Leibe rücken zu können. Wenn auch im Jahresbericht 1949 erklärt wird, dass diesem Bläserkurs kein Erfolg beschieden gewesen sei, so wird doch andrerseits festgehalten, dass am Riehener Winzerfest vom 2.13. Oktober 1948 der Nachwuchs, «auf den wir stolz sein dürfen», gut durchgehalten habe. Im Jahresbericht 1950 ergeht allerdings auch ein Appell an die Jungen, sich Mühe zu geben, damit «unsere grossen finanziellen Opfer nicht umsonst sind.» Im Jahresbericht 1959/60 wird u.a. erwähnt, dass Dirigent Bruno Marcolli jeweils am Samstagnachmittag zirka zehn Jungbläsern Unterricht erteile, und dem Jahresbericht 1969 ist zu entnehmen, dass, um Nachwuchs zu gewinnen, der Kursunterricht für sämtliche Blasinstrumente kostenlos erteilt wird. In der Folge und bis heute nimmt sich ein «Jungbläserobmann» der für den Verein stets aktuellen Frage der Nachwuchsförderung an.

Es waren ja auch Junge, sieben an der Zahl, die in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts da und dort und wohl fast jedes Wochenende zum Tanze aufspielten und eines Tages auf die Idee kamen, sie könnten eigentlich einen Musikverein Riehen gründen, um für sich selbst, aber auch nach aussen, Zusammengehörigkeit zu bezeugen. Primär eine Tanzkapelle, daher auch ohne Dirigent, dauerte es ein gutes Jahrzehnt, bis aus der losen Musikantenvereinigung das wurde, was die Bezeichnung «Musikverein» verdient. Und auch dann noch - und bis zur Jahrhundertwende trat der MVR des öftern als Tanz- und Unterhaltungskapelle auf; auch an den eigenen Vereinsanlässen, bis an der Generalversammlung vom 11. Februar 1899 beschlossen wurde, für den Familienabend vom 25. Februar als Tanz kapelle die Familie Kaufmann aus Weil zu engagieren. Die Aktiven wollten nun selber tanzen können.

Einmal als Verein konstituiert, wurde fast unwillkürlich der Wunsch wach, mit Gleichgesinnten und das heisst: mit andern Musikvereinen zusammenzukommen; ein Wunsch, der offenkundig nicht nur in Riehen, sondern auch anderswo die in Vereinen zusammengeschlossenen Musikanten beseelte. Beweis dafür: die zahlreichen Musikfeste, die landauf, landab, diesseits und jenseits der Grenze veranstaltet wurden. Der Musikverein Riehen lud erstmals Anno 1880 zu einem Musikfest ein, von dem man zwar nicht weiss, wer alles daran beteiligt war, von dem aber in einem zusammenfassenden Rückblick auf die Jahre 1861 bis 1893 berichtet wird: «Dasselbe fand, vom prächtigen Wetter begünstigt, am 26. September 1880 statt und nahm einen würdigen und ehrenvollen Verlauf für den Verein.» Zehn Jahre später, am 14. September 1890, fand das zweite Musikfest statt, zu dem sich neun Musikvereine aus Basel, dem Elsass und dem Markgräflerland in Riehen einfanden. Es verstrich dann allerdings fast ein halbes Jahrhundert, bis der MVR wieder die Durchführung eines Musikfestes an die Hand nahm: 1936, als mit der Feier des 75jährigen Bestehens und mit der Einweihung neuer Uniformen die damals bereits Tradition gewordenen «Kanto nalen Musiktage» unter der Aegide des MVR durchgeführt wurden. 25 Jahre später - Anno 1961 - wurden 100 Jahre MVR mit der Durchführung der «Kantonalen Musiktage» verkoppelt.

Umgekehrt nahm der MVR natürlich auch an auswärtigen Musikfesten teil; erstmals 1888 in Schopfheim, wo auf einem zirka einen Meter hohen Podium gespielt werden musste, während des Wettspielens «die Sonne ihre Strahlen uns ins Gesicht warf» und wo die Preisrichter, unter denen sich auch ein Vieharzt befand, «nicht auf das Richtigspielen gehört haben, sondern nur auf den Spektakel», wie es im Bericht über dieses Musikfest heisst. Diesem Abstecher nach Schopfheim folgten weitere Teilnahmen an Musikfesten, so 1893 in Sissach, 1895 in Lörrach, wo der MVR mit der Wiedergabe der Komposition «Der Alpenkönig» einen Ehrenlorbeerkranz errang, 1912 in Rheinfelden-Baden, 1937 am Laufentaler Musikfest, das dem MVR für die Aufführung der Ouvertüre von Rossinis Oper «Tancred» einen Silberpokal mit Diplom einbrachte, 1945 in Gelterkinden anlässlich des 75-Jahr-Jubiläums des dortigen Musikvereins, 1946, als nach sechs schlimmen Kriegsjahren die Grenzen sich wieder öffneten, in Blotzheim, 1964 in Weil am Rhein, deren Stadtmusik schon damals ihr 125jähriges Bestehen feiern konnte, und im gleichen Jahr auch noch ein Wochenende in Villingen im Schwarzwald, 1965 am Baselbieter kantonalen Musikfest in Rei nach, und nicht zu vergessen die Eidgenössischen Musikfeste: erstmals 1966 teilgenommen in Aarau, zehn Jahre später dann auch in Biel; beide Feste konnten als erfolgreiches Auftreten auf eidgenössischer Ebene verbucht werden. Erfolge, die ja weitgehend auch aufs Konto der Dirigenten gehen.

Und Dirigenten - das ist ein Kapitel für sich und neben dem Nachwuchs ein weiteres Sorgenkind des MVR. Im ersten Jahrzehnt gings noch ohne Dirigent, doch von 1870 an begaben sich die Musikanten des MVR unter die Stabführung einer Direktion, wie das Dirigentenamt genannt wird. Die Tatsache, dass sich bis zum Jahr 1986 über 20 Dirigenten bemühten, mit dem MVR erfolgreich in Erscheinung zu treten, lässt erahnen, dass zwischen Musikern und Dirigent nicht immer eitel Harmonie herrschte. Bei der Lektüre der Protokollbücher stösst man denn auch des öftern auf Klagen, allerdings nicht nur auf solche an die Adresse des Dirigenten, mit dessen Stabführung man nicht zufrieden war, sondern auch auf Klagen des Dirigenten, der sich über mangelnde Disziplin, unentschuldigtes Fern bleiben von Konzerten, ungenügende Ausbildung etc. zu beschweren hatte. Aus der grossen Schar der Dirigenten ragt Johannes Schultheiss (1866-1948), im Dorf als «Musighans» bekannt, als führende Persönlichkeit heraus, die zwischen 1890 und 1930 mehrmals den Taktstock in die Hand nahm und immer wieder einsprang, wenn bezüglich Dirigent Not am Manne war. Er trat 1886 dem Verein bei, und seither war immer ein Vertreter der Familie Schultheiss als Aktiver im MVR.

Wie kein anderer Dorfverein hat der MVR auch eine Dienstleistungsfunktion zu erfüllen; denn zu Proben, Konzerten, Wettkämpfen, zu Kameradschaft und vergnügten Stunden, etwa auf Vereinsausflügen, gesellt sich für den MVR die hauptsächlich nur moralische Pflicht, bei Anlässen wie 1.-August-Feier, Empfang von Dorfvereinen, die lorbeerbekränzt von eidgenössischen Festen zurückkehren, Promenadenkonzerten, Jubiläumsfeiern dabeizusein und den Anlass musikalisch zu bereichern. Anfänglich wurden ja auch Subventionen des Kantons oder der Ge meinde von gewissen Dienstleistungen zum Wohl der öffentlichkeit abhängig gemacht. In den Vereinsstatuten ist denn auch verankert, dass der Zweck des Vereins u.a. darin besteht, «die Verpflichtungen gegenüber seinen Mitgliedern und der Gemeinde Riehen zu erfüllen.» Seit einigen Jahren gehören übrigens auch Damen zum Musikverein Riehen: nachdem 1974 erstmals ein Mädchen im MVR mitgespielt hat, können seit der Statutenerneuerung von 1982 «weibliche Personen» offiziell in den Verein aufgenommen werden.

In der 125jährigen Geschichte des MVR widerspiegelt sich ein Stück Dorfgeschichte: die Entwicklung vom Bau ern- und Winzerdorf zur Einwohnergemeinde, die zahlenmässig eine Stadt sein könnte, jedoch ein Dorf bleiben will - und Gefahr läuft, eine Schlafstadt zu werden.

Die vornehmste und wichtigste Aufgabe für den Musikverein Riehen könnte heute darin bestehen, mit seinen verschiedenen Aktivitäten dazu beizutragen, dass die Bemühungen zur Förderung des kulturellen Lebens in Riehen möglichst breite Kreise erfassen.

Zum Jubiläum «125 Jahre Musikverein Riehen 1861-1986» erschien im Frühling 1986 eine Festschrift mit Texten von Hans Kräftiger und Bildern aus der Dokumentensammlung von Hans Schultheiss-Degen.

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1986

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