Kulturpreisträger 1994 Andreas F Voegelin

Annemarie Monteil

Zum ersten Mal wurde heuer in der dreizehnjährigen Geschichte des Riehener Kulturpreises das Werk eines Fotografen ausgezeichnet: dasjenige von Andreas F. Voegelin. Die Jury war einstimmig der überzeugung, dass Werke der angewandten Kunst, wenn sie qualitätvoll sind, einen wichtigen Beitrag leisten können zu Einsichten in Lebenskreise, zum besseren und respektvolleren Verstehen von Menschen, von Strukturen unseres Alltags, unserer Welt. Sie sind also Kultur im schönsten Sinne, gemäss der berühmten Unesco-These, dass Kultur ist, was uns hilft, uns in dieser unserer Welt zurechtzufinden. Beim nachfolgenden Text handelt es sich um die - leicht gekürzte Laudatio von Annemarie Monteil.

Andreas F. Voegelin ist 1954 in Riehen geboren und hier und in Basel zur Schule gegangen. Die Berufswahl war nicht sofort klar, er dachte an Journalismus, an Buchhändler, arbeitete kurze Zeit als Korrektor bei der National-Zeitung. Dann kam er als Assistent zur Kern-Film, das heisst zu August Kern, dem hervorragenden Dokumentarfilmer. Wahrscheinlich entdeckte er damals dasjenige in sich, von dem er selbst sagt, er sei «leidenschaftlich daran interessiert, wie man die Welt zeigt». Das eigene Zeigen der Welt musste gelernt werden, jetzt war die Entscheidung klar: Andreas Voegelin meldete sich an der Kunstgewerbeschule Zürich für die Fotofachklasse. 300 Bewerber waren es, sechs wurden aufgenommen - er war dabei. Es sei, sagt er, «halt Glück gewesen». Doch sicher nicht nur.

In der Zürcher Fachklasse herrschte noch der Geist des zwei Jahre zuvor verstorbenen Leiters Hans Finsler, der berühmt war für Fachfotografie. Man nannte seine Art des nüchternen und doch ästhetischen Erfassens von Gegenständen «Das neue Sehen». Andreas Voegelin hat dort den Sinn für Struktur, Form, Lichtführung gelernt, ohne Mätzchen. Und er lernte perfektes Handwerk.

Fotografiestudenten haben zum Abschluss eine Diplomarbeit abzugeben. Andreas Voegelin wählte als Thema «Die Juden in der Schweiz». Die Arbeit erstreckte sich über ein ganzes Jahr. Die Hälfte der Zeit brauchte er für Gespräche mit den Menschen, die er später fotografierte, Rabbiner und Kinder, ein Hochzeitspaar, einen Metzger. Den Bildern sieht man an, wie viel an Vertrauen zwischen dem Fotografen und seinen Modellen vorangegangen ist, wie viel Einfühlen in Lebensweisen geleistet wurde. Die Menschen haben eine grosse Würde, Intimität ist da, ohne Indiskretion. In diesem Sinn ist die vor zwanzig Jahren entstandene Diplomarbeit ein Schlüsselwerk zum Schaffen des Preisträgers.

Seit 1976 lebt Andreas Voegelin als selbständiger Fotograf in Basel. Man kann ihn nicht einem bestimmten Spezialgebiet zuordnen, wie das manchmal für Fotografen möglich ist. In Riehen erinnert man sich vielleicht an eine Gruppenausstellung im Berower-Gut von 1984. Damals zeigte Andreas Voegelin Installationen und Fotografien von Steinen, klare, sachliche Aufnahmen, die den seltsamen Fundstücken ganz dichte Präsenz gaben. Also, denkt man, ein Sachfotograf. Aber dann trifft man ihn bei einer Reportage über die Musikschule Riehen oder bei kleinen Patienten im Kinderspital: ein Reportagefotograf. Eigentlich lernte ich ihn aber als Architekturfotografen kennen. Und auch als Fotografen von Kunstwerken, zum Beispiel 1980 anlässlich der Skulpturenausstellung im Wenkenhof, mit der Dokumentation von Werken, die in Auftrag gerade am Ort selbst entstanden. Dazu kommt die Arbeit mit Künstlerinnen und Künstlern, die - wie er sagt - «enorm wichtig» sei für ihn. Sie geht von Werkaufnahmen bis zur Kataloggestaltung.

Diese vielen Facetten deuten auf das hin, was man einen «Generalisten» nennen kann, und dagegen hat Andreas Voegelin auch gar nichts einzuwenden. Trotzdem würde ich der Bezeichnung nicht voll zustimmen. Ich möchte eher sagen, er sei in jeder Sparte wieder ein eigener Spezialist. Denn jeder Werkkreis - vom Gebäude zum Porträt - scheint von einem profunden Kenner des jeweiligen Gebietes gemacht, ist doch im fotografischen Augenblick immer auch die grössere Wirklichkeit hinter dem Motiv spürbar.

Diese Vertiefung in ein Thema führt dazu, dass Andreas Voegelin gern in Zyklen arbeitet. Im Schlagwortartigen eines Einzelbildes kann eine Macht liegen, die sich unbarmherzig festkrallt im Gedächtnis, indem ein Geschehen auf eine einzelne Szene reduziert wird. Andreas Voegelin meidet das Fixieren auf ein einziges Bild, auf einen «Einzelschuss», der zur erstarrten Erinnerung führt. Er will im Zyklus, in der Bildfolge den Fluss des Lebendigen zeigen.

Die Motive von Andreas Voegelin sind nicht aussergewöhnlich, nicht exotisch und - ganz wichtig - auch nie gestellt. Sie entstammen dem Leben, das wir kennen: Schule, Haus, Museum, Spital, Strasse, oft recht krausen Situationen. Seine Bilder aber erscheinen nicht als zufällige Momente, nicht als Schnappschüsse, sondern als ruhige, in sich stimmige Kompositionen. Aus unendlich vielen Möglichkeiten des Geschehens wählt er jenen Augenblick, in denen das Charakteristische einer Situation, das Individuelle eines Menschen, die Atmosphäre eines Raums, in ästhetischer Form aufleuchten, sich ganz direkt mitteilen.

Das ist eine Kunst. Dazu gibt es für den Profi Hilfen und Methoden der Steuerung. Dass diese Methoden von jedem Fotografen anders genutzt werden, macht dann die Eigenart des Bildes aus, die besondere «Sicht». Als Beispiel: Geben sie acht Fotografen dieselbe Landschaft oder denselben Bau. Sie werden jeweils acht verschiedene Bilder erhalten.

Eine der Hilfen ist die Lichtführung. Andreas Voegelin arbeitet fast nur mit natürlichem Licht, das ein Gesicht lebendig, aber nicht scharf modelliert. Im Tageslicht wird der Schatten nicht zum scherenschnittartigen Widerpart der realen Menschen und Dinge, sondern zum weicheren Begleiter.

Eine entscheidende Steuerung geschieht mit der Wahl des Standortes, er ist schon fast ein weltanschauliches Problem: von oben oder unten, symmetrisch oder aus Schrägsicht, mit viel oder wenig Perspektive. Das weiss der Architekturfotograf speziell gut. Andreas Voegelin findet jenen ausgezeichneten Punkt, von dem aus das Besondere eines Baues am besten sichtbar wird, nämlich die Proportionen, der Lichteinfall, die Bewegungsrichtung von Räumen oder Fassaden, das Material.

Mit dem Standort hängt der Ausschnitt zusammen. Welches Stück Welt wird gewählt? Weil Andreas Voegelin seine Bilder nicht nachträglich beschneidet, justiert er seine Motive so lange ein, bis sie «stimmen»: bis drei Schüler einer Klasse wie ein Versmass zueinander stehen, bis der Geigenbogen als Diagonale den Bildraum am richtigen Ort schneidet.

Die meisten Fotografien von Andreas Voegelin sind schwarzweiss. Farben gaukeln Wirklichkeit vor, die oft nicht stimmt. Schwarzweiss ist klare Abstraktion. Im Labor erlaubt das schwarzweisse Bild mehr Interpretationsfreiheit. Andreas Voegelin nutzt sie meisterhaft mit nuancierten Grauwerten, Transparenz, Lichtern. Zusätzliche Eingriffe macht er nicht, nur Optimierung der Töne und Nuancen. Peter Stein hat einmal geschrieben, sein Freund Andreas gehe die Dinge an mit «entschiedener und hartnäckiger Sorgfalt». Deshalb wohl hat ein Arbeitstag sehr oft mehr als zwölf Stunden.

So weit die Hilfen und handwerklichen Möglichkeiten. Nun weiss man aber, dass in der Dokumentär- und Repor tagefotografie, von der ja hier die Rede ist, immer auch eine Portion Zufall mitspielt, sogar bei den erfahrensten Kameraleuten. Dazu sei ein Satz des Chemikers und Mikrobiologen Louis Pasteur zitiert: «Der Zufall bevorzugt den vorbereiteten Geist.»

Andreas Voegelin erwirbt sich für jede neue Aufgabe einen «vorbereiteten Geist», und deshalb ist ihm der Zufall wohlgesinnt. Ich erzählte bereits von seinen behutsamen Vorbereitungen bei der Diplomarbeit. Auch jetzt kann er tagelang in einem zu dokumentierenden Haus herumgehen, ohne Kamera, kann dann auch einen Auftrag ablehnen, mit dem er sich nicht zu identifizieren vermag. Immer gibt es ausgiebige Gespräche mit den Modellen, mit Kindern, Eltern, mit Künstlerinnen und Künstlern. Zum «vorbereiteten Geist» gehört das Lesen, das Nachdenken und - wie er selber sagt - «das Dasitzen und Staunen». Wer kann es noch?

Aus all diesen Vorbereitungen entsteht dann, was uns an Andreas Voegelins Bildern - neben ihrer technischen Perfektion - so berührt: die Mischung von strenger, objektiver Betrachtung und subjektiver Anteilnahme. Wir leben heute in einer Bilderflut, wie es sie in keiner anderen Epoche gab. Wir ertrinken in Bildern - und können uns kein Bild mehr machen. Das heisst, die Schwemme führt zu einer völligen Beliebigkeit und Austauschbarkeit der im Schnellverfahren produzierten Szenen. Was uns dabei zusehends abhanden kommt, ist die Ruhe des Schauens, sind Konzentration, kritisches Denken - und nicht zuletzt die Lebensfreundlichkeit. Die Fotografien von Andreas Voegelin geben uns etwas zurück vom Staunen-Können und von der Liebe zu allen Erscheinungen des Lebendigen. Sie geben uns den Blick der Menschlichkeit.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1995

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