Metamorphosen in Holz


Nicolaj van der Meulen



Die Kunstsammlung von Annetta und Gustav Grisard umfasst über 120 Werke, deren ästhetische Vielfalt um einen gemeinsamen Fokus kreist: das Thema ‹Holz›. Darin verbindet sich das besondere Kunstinteresse des Sammlerpaars mit einer langjährigen professionellen Erfahrung im Bereich der Holzverarbeitung. 


 

Wer in den letzten Jahren von Bettingen aus durch den Wald den Lamperstalweg hinabspazierte und den am Ausserberg situierten Gärten entlangging, der wird sich möglicherweise über jene geheimnisvolle, um einen Baum herumgeführte Wendeltreppe gewundert haben. Auf ihr steigen rund 50 bemalte Holzfiguren in einer geradezu heiligen Stille der Baumkrone entgegen. Handelt es sich vielleicht um jene Engelsleiter, die der biblische Stammvater Jakob in einer Traumvision erblickte, ein Motiv, das von Künstlern seit der Antike immer wieder aufgegriffen wurde? In der Tat besitzen die Figuren, die sich im flirrenden Mittagslicht silhouettenhaft von ihrer Umgebung abheben, einen traumartig entrückten Charakter. Sie sind das Werk des Malanser Künstlers und Psychiaters Peter Leisinger. Erstmals ausgestellt war die Grossplastik als ‹Grosse und Kleine Treppe› an der Schweizerischen Triennale der Skulptur in Bad Ragaz (2006). Heute steht sie unter dem Titel ‹Wendeltreppe› (2006) am Ausserberg, im Garten von Gustav und Annetta Grisard.


 

Kunst aus aller Welt


‹Wendeltreppe› ist Teil einer Kunstsammlung, deren ästhetische Vielfalt um einen gemein-samen Brennpunkt kreist: das Thema ‹Holz›. Die Sammlung Grisard, die wohl über die Schweiz hinaus in ihrem Charakter einzigartig ist, enthält über 120 unterschiedlichste Werke, in denen mal der Werkstoff Holz ausdrücklich thematisiert, in anderen Fällen dagegen lediglich Darstellungsmittel ist. Einige der Werke erscheinen miniaturhaft zurückhaltend (Chantal Michael, Werner von Mutzenbecher), andere monumental und unübersehbar (Peter Leisinger, Tadashi Kawamata); einige Werke besitzen einen surrealen, bizarren Charakter (Stephan Balkenhol, Armin Göhringer), andere vermitteln eine konstruktiv-geometrische Askese (Gottfried Honegger). Beim Gang durch die Privaträume erblickt man gehackte 
Reliefs, Katzenfrauen, filigrane kugelförmige Netzgebilde, Assemblagen aus Holzrudimenten, Masken, Musen, Holzfiguren, die suchen, fragen und leiden, geometrische Skulpturen von sparsamer Schlichtheit – ein Universum aus Holz. Die Sammlung Grisard beherbergt Werke, die an den verschiedensten Orten der Erde geschaffen oder erworben wurden. Eine beeindruckende Vielfalt mit dennoch klarem Fokus. Dieser Fokus – Holz – und die Aufstellung der Objekte an einem nicht-musealen, privat lebendigen Ort machen das Profil der Sammlung aus. Sie umfasst neben vielen jungen Künstlerinnen und Künstlern (Tobias Putrih, Emil Michael Klein, Hideki Iinuma) auch renommierte Namen wie Hans Arp, Meret Oppenheim, Günther Uecker, Tony Cragg, Kurt Schwitters, Bernhard Luginbühl, David Nash, Tadashi Kawamata, Dan Graham, Ai Weiwei oder Pipilotti Rist. 


 

Eine wichtige Rolle für den Aufbau der Sammlung spielte die Verbundenheit mit der HIAG Holzindustrie AG im ostschweizerischen St. Margrethen. Daraus entwickelte sich bei Annetta und Gustav Grisard eine Affinität zum nachhaltigen Rohstoff Holz, welche die Sammlungstätigkeit wesentlich beeinflusste. Diese Passion schliesst an ein seit jeher hohes Interesse der Familie für Kunst an. Bald entwickelte sich eine Nähe zu der Galerie ‹Im Erker› in St. Gallen, die in den 1960er- und 1970er-Jahren eine herausragende Rolle im Schweizer Kulturleben spielte und Künstler wie Edouardo Chillida, Günther Uecker und Hans Hartung ausstellte. Ungefähr zeitgleich entstanden durch Aufenthalte auf Ibiza eine Verbindung zur dort ansässigen Galerie Carl van der Voort und freundschaftliche Beziehungen zu auf der Insel lebenden Künstlern.


 

Sammlungsschwerpunkt Holz 


Als Sammlungsschwerpunkt stand der Fokus ‹Holz› allerdings nicht von Anfang an im Vordergrund. Eher rückte er nach und nach ins Blickfeld und entfaltete sich wohl vor allem in den letzten 15 Jahren. Zum 70. Geburtstag von Gustav Grisard im Dezember 2001 erhielt der Jubilar von seiner Frau eine Skulptur des Künstlers David Nash mit dem Titel ‹Cut Corners Frame› (1999) sowie von Freunden eine von Günther Uecker eigens für diesen Anlass gefertigte ‹Baumskulptur› (2001). Nicht zuletzt dieser Geschenk-Zweiklang hat wesentlich zur Profilierung der Sammlung beigetragen.


 

Man darf in diesem Sammlungsschwerpunkt wohl die persönliche Leidenschaft eines Sammlerpaares erblicken, das ein besonderes Kunstinteresse mit einer langjährigen professionellen Erfahrung im Bereich der Holzverarbeitung verbindet. Und doch ist die Sammlung weit mehr als nur ein persönliches Bekenntnis: Holz gehört neben Stein und Knochen zu den ältesten Werkstoffen und begleitet den menschlichen Zivilisationsprozess von Beginn an. Die Herstellung von Werkzeugen, Behausungen und Möbeln sind ohne den Werkstoff Holz nicht zu denken. Artefakte wie die Ebenholzlanze von Lehrigen (125 000 Jahre) oder die sogenannten Schöninger Wurfspeere (bis zu 400 000 Jahre) reichen tief in die Geschichte der Menschheit zurück. Wer heute mit Holz arbeitet, reiht sich in eine lange kulturgeschichtliche Tradition ein. Und manchmal gewinnt man den Eindruck, als sei dieser archaische Umgang mit Holz auch bei zeitgenössischen Künstlern noch auf beeindruckende Weise gegenwärtig. 


 

So etwa in den Arbeiten des erwähnten englischen Land-Art-Künstlers David Nash, von dem die Sammlung Grisard insgesamt fünf Werke besitzt. Eines davon, das monumentale und zweiteilige ‹Two Vessels› (2009), befindet sich auf einer Wiese gegenüber dem Privathaus. Neben einem liegenden, pfeifenförmig gebogenen Stamm erhebt sich eine zweite, säulenartige Figur. Ob die beiden Figuren ein Paar oder einen Widerpart bilden, bleibt ebenso offen wie die Frage, ob das Werk figürlich, abstrakt, rituell oder funktional zu lesen ist. Schon das Titelwort ‹vessel› – auf Deutsch Fahrzeug, Behältnis, Schiff – hält mögliche Interpretationen in der Schwebe. Der lebendige Charakter des Baumes ist in ‹Two Vessels› ebenso präsent wie Assoziationen an ein Schiff oder Gefährt. Man fühlt sich an eine Äusserung Ernst Jüngers erinnert, der in seinem Essay ‹Der Waldgang› (1951) schreibt: «Das Schiff bedeutet das zeitliche, der Wald das überzeitliche Sein.» In Nashs Skulptur scheint das Zeitliche des Werkstoffes mit dem Überzeitlichen des Rohstoffes verwachsen. Hierin liegt auch eine der faszinierenden Eigenschaften des Rohstoffes Holz als künstlerischer Werkstoff: Seine lebendige Seite, sein Ursprung bleibt gegenwärtig. Holz besitzt eben nicht nur einen physikalischen Brennwert, sondern auch einen ästhetischen Energiewert.


 

Magischer Rohstoff


Eine von Ovids berühmten ‹Metamorphosen› erzählt von der schönen Daphne, die sich der Liebe des Gottes Apollo entzieht, indem sie sich in einen Lorbeerbaum verwandeln lässt. Insbesondere für die Künstler des Barocks bot dieses Motiv der Verwandlung in einen Baum eine reiche Inspirationsquelle. Unzählige Mythen schildern die lebendige Kraft von Bäumen, ihre Verehrung findet sich in vielen Kulturen, wie etwa bei den Kelten, den Germanen oder den Griechen. Der Baumkult und das hiermit verbundene Wissen um den magischen Charakter des Rohstoffes Holz sind anthropologisch tief verwurzelt.


 

An einigen Skulpturen aus der Sammlung Grisard lässt sich beobachten, dass die Kunst an das tradierte Wissen um die magische Verwandlungsfähigkeit des Rohstoffes Holz anschliesst. So etwa in ‹Pinocchio no. 32› (1991/92), einem Werk von Tim Rollins und K.O.S. Hinter dieser Abkürzung verbirgt sich eine Gruppe, die sich ‹Kids of Survival› nennt und deutlich macht, dass der in New York lebende Künstler Rollins in Koautorschaft mit sozial benachteiligten Jugendlichen zusammenarbeitet. Die Arbeit ‹Pinocchio›, ein Baumstamm mit einem eindringlichen Augenpaar, zeigt das Holz im Moment seiner Metamorphose. Die Skulptur reagiert damit nicht zuletzt auf die Lebenssituation der Jugendlichen und auf die Möglichkeit, sein Leben von Grund auf umgestalten zu können.


 

Was man die mythische Seite des künstlerischen Umgangs mit dem Rohstoff Holz nennen könnte, hat seine Kehrseite in eher konzeptionellen und konstruktiven Verfahren der Holzverarbeitung. Auf beeindruckende Weise zeigt sich dies an zwei Werken der Sammlung – an Ai Weiweis ‹Untitled–1› (2006) und Dan Grahams Pavillon ‹Empty Shoji Screens with Two-Way Mirrors› (2008). Während sich Ai Weiweis ‹Untitled–1›-Polyeder dem Ideal einer vollendeten Proportion annähern will und dabei ironischerweise von einem Katzenspielzeug ausging, arbeitet Dan Grahams Pavillon mit dem Gegensatz von Holz und Glas und spielt mit einem architektonischen Körper, dessen Spiegelungen die Riehener Umgebung in das Werk integrieren.


 

Eine Riehener Sammlung


Die Geschichte der Sammlung Grisard ist auch die Geschichte einer Sammlung in Riehen. Zahlreiche Werke stehen in direktem Zusammenhang mit kulturellen Ereignissen vor Ort. Die Collage ‹Wrapped Trees› (1998) von Christo und Jeanne-Claude sowie die kleinformatige Skulptur ‹Modell Jinhua II› dokumentieren mit ihren Verbindungen zu den Ausstellungen ‹Wrapped Trees› (1998) und ‹Archiskulptur› (2004) die Nähe zur Fondation Beyeler. Die monumentale Garteninstallation ‹Catwalk and Platform› (2004/05), von der Strasse aus gut sichtbar, ist als Auftragsarbeit für eben diesen Ort geschaffen worden, geht jedoch zurück auf ein Projekt von Tadashi Kawamata für die ‹Art Unlimited› 2004, wofür die HIAG auf Anfrage von Sam Keller das Holz zur Verfügung stellte.


 

Das wohl schönste Beispiel für die Verflechtung der Sammlung mit dem Ort Riehen ist David Nashs ‹Crack and Warp Column›, die im Jahr 2010 geschaffen und angekauft wurde. Die Skulptur besteht aus einer vom Sammlerpaar gemeinsam mit David Nash und dem Gemeindeförster ausgewählten Eiche aus dem Riehener Wald. Einige Zeit nach ihrer Fällung 2010 erlebte sie eine Verwandlung zur majestätischen Säule. Vielleicht ist dieser enge Austausch von Künstler und Sammler, diese Verbindung von Rohstoff und Ort über die Sammlung Grisard hinaus eine der schönsten, lebendigsten Formen des Entstehens und Bewahrens von Kunst.


 

 

 

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2012

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