Riehener - hütet Euch am Gstaltenrain

Gerhard Kaufmann

Landesstreik und Generalstreik in Riehen

Am 11. November 1918 wurden die Mitglieder des Gemeinderates Riehen noch zu später Stunde durch ihren Präsidenten Otto Wenk zu einer ausserordentlichen Sitzung zusammengerufen. Gleichentags war in ganz Europa nach einem vierjährigen, blutigen Ringen Waffenruhe eingetreten; der Erste Weltkrieg war zu seinem Ende gekommen. Doch nicht um mit Erleichterung dieses Ereignisses zu gedenken hatten sich die Gemeindeväter am Abend dieses denkwürdigen Tages versammelt, sondern um einer neuen Gefahr zu begegnen, die Riehen viel unmittelbarer bedrohte als das Völkerringen der vorausgegangenen vier Jahre.

Der Landesstreik

Während in den Hauptstädten der Siegermächte das Volk jubelnd die Strassen füllte, war in der Schweiz als Folge wirtschaftlicher Not, unter der vor allem die städtische Bevölkerung zu leiden hatte, der Landesstreik ausgerufen worden. In Basel war die Arbeitsniederlegung eine fast vollständige.

Auch die Staatsangestellten befanden sich grösstenteils im Ausstand. Sie legten die öffentlichen Verkehrsmittel lahm und bemächtigten sich der wichtigsten Schaltstellen in der Gas-, Wasser- und Elektrizitätsversorgung. Berichte aus dem revolutionären Russland, in jenen Tagen auch aus Berlin und anderen deutschen Grossstädten, hatten hierzulande die Stimmung und die Phantasie der Bevölkerung mächtig angeheizt. Der Gemeinderat rechnete allen Ernstes damit, dass Kolonnen von Streikenden plündernd und brandschatzend das städtische Umland heimsuchen würden, um sich der bei den Bauern lagernden Lebensmittelvorräte zu bemächtigen.

Wie war dieser Gefahr zu begegnen? Das wenige in Riehen stationierte Militär war an der Grenze festgehalten, um allfälligen übergriffen marodierender deutscher Soldaten zu begegnen. Mit dem Eintreffen der vom Bundesrat am gleichen Tag aufgebotenen Ordnungstruppen war vor dem 16. November nicht zu rechnen. Um das Schlimmste zu verhüten, «zum Schutz von Leben und Eigentum», sah der Gemeinderat als einzigen Ausweg die Bildung einer Bürgerwehr.

Um zur Tat zu schreiten, traf sich der Gemeinderat am Morgen des folgenden Tages erneut zu einer klandestinen Sitzung. Vom fünfköpfigen Gemeinderat waren allerdings nur drei Mitglieder erschienen, darunter der einzige Sozialdemokrat in der Gemeindeexekutive, August StrubLaufer. Miteingeladen waren der Kommandant der freiwilligen Feuerwehr, Zimmermeister Karl Menton, und der Präsident des Landwirtschaftlichen Vereins, Jakob Sulzer. Letztere sicherten dem Gemeinderat ihre tatkräftige Mitwirkung zu, und so erging noch zu gleicher Stunde ein gemeinderätliches Aufgebotsschreiben an die als zuverlässig erachteten, wehrfähigen Männer unseres Dorfes. Das selbsternannte Platzkommando beschloss, eine Vorhut unten am Gstaltenrain zu postieren und beim Nahen der ausgehungerten Arbeiterkolonnen das Gros der Bürgerwehr mit der Sturmglocke zu alarmieren und beim Gemeindehaus zu besammeln.

Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass Riehen damals noch über hundert Grossvieh haltende Landwirte zählte, der zur Bürgerwehr umfunktionierte Landwirtschaftliche Verein somit über eine breite Basis verfügte.

Das bäuerliche Element galt von jeher als zuverlässig und obrigkeitstreu und darum als geeignet zur Bekämpfung subversiver Kräfte. Die hoch zu Ross daherkommenden, sich aus dem Bauernstand rekrutierenden GuidenSchwadronen waren das Machtmittel jener Zeit, wenn es galt, demonstrierende Massen auseinanderzutreiben oder im Schach zu halten.

Es ist in den Protokollen nicht überliefert, welcher Art die Bewaffnung der Riehener Bürgerwehr war. Wie dem auch sei, es darf als eine glückliche Fügung bezeichnet werden, dass es nicht zu einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen den dörflichen Freischaren und unseren Mitbürgern aus der nahen Stadt kam.

In der Nacht vom 14. auf den 15. November wurde der Streikabbruch beschlossen und am 15. November die Arbeit wieder aufgenommen. Wie vom Gemeinderat vorausgesehen, war militärische Verstärkung - ein Mitrailleurdetachement von zwanzig Mann mit seinen Maultieren (!) - erst am 16. November, also nach Streikabbruch, in Riehen eingetroffen. Die streikenden Arbeiter standen auf der Verliererseite, die Probleme, weswegen sie in den Streik getreten waren, blieben ungelöst, die sozialen Spannungen dauerten an, eine neue, aus existentieller Not geborene Entladung zeichnete sich ab, und es bedurfte in Basel nur noch eines an sich geringfügigen Anlasses, dass sich Streikende und Bürgerwehren, demonstrierende Arbeiter und Armeeangehörige erneut gegenüberstanden.

In Riehen hatte die vom Gemeinderat vorgenommene Selektion zwischen zuverlässig-bodenständigen und angeblich umstürzlerisch-dubiosen Dorfbewohnern ein Nachspiel. In der Gemeindeversammlung vom April 1919 kam es deswegen zu einer scharfen Auseinandersetzung zwischen den Vertretern des Arbeitervereins und dem Gemeinderat, dies gleichsam als Auftakt zu einem zweiten, noch härter geführten Kräftemessen, dem Generalstreik vom August 1919.

Der Basler Generalstreik vom August 1919

Eine Aussperrung in der Färberei Clavel & Lindenmeyer war, nach vorausgegangenen, sich über Tage hinziehenden spannungsgeladenen Verhandlungen und gegenseitigen Provokationen, der äussere Anlass, der zum Basler Generalstreik, ausgelöst im Laufe des 31. Juli, führte. Dieser Konflikt hatte für Basel weitaus tragischere Folgen als der Landesstreik vom November 1918. Wiederum solidarisierten sich die Staatsangestellten mit ihren Kollegen aus der Privatwirtschaft und legten ebenfalls die Arbeit nieder.

Die vom Bundesrat auf den 31. Juli 1919, mittags 3 Uhr nach Aarau und Liestal aufgebotenen Ordnungstruppen waren in der Morgenfrühe des 1. August in die Stadt eingerückt. Eine am Vormittag des 1. August durch das aufgewühlte Kleinbasel zirkulierende Motorwagenkolonne wurde beim Claraplatz mit Steinen beworfen. Das Militär eröffnete daraufhin das Feuer, fünf Zivilisten blieben tot auf dem Platz. Zwei Dutzend Schwerverletzte mussten in die Spitäler eingeliefert werden.

Riehen sagt sich (vorsorglicherweise) los von Basel

In Riehen war die Bürgerwehr wie schon anlässlich des Landesstreiks auf ihrem Posten. Sie stand diesmal unter professionellem Kommando. Oberstleutnant Heinrich Heusser, Inspektor der hiesigen Taubstummenanstalt, durch Beschluss des Gemeinderates in diese Funktion eingesetzt, befehligte Riehens Wehr.

Zu einem Eingreifen der Bürgertruppe kam es auch diesmal nicht. Von den in Regimentsstärke in Basel eingerückten Ordnungstruppen wurde ein Detachement von 30 Mann teils zu Pferd, teils auf Camions nach Riehen beordert, mit dem ausdrücklichen Auftrag, das Gemeindehaus zu bewachen.

Wie sehr aber Angst und wilde Gerüchte das offizielle Riehen in jenen Tagen verunsicherten, belegt folgende Eintragung im Gemeinderatsprotokoll vom E August 1919: «Für den Fall, dass in der Stadt Basel die Räterepublik ausgerufen würde, sollte, in der Meinung, Riehen habe sich davon unabhängig zu erklären, Sturm geläutet werden, damit die Gemeinde entsprechende Beschlüsse fasse.»

Wie hätten diese Beschlüsse wohl gelautet: Anschluss an den Kanton Baselland oder Gründung einer freien Republik Dinkelberg?

Nach dem am 7. August erfolgten Streikabbruch kam auch in Riehen die Stunde der Abrechnung. Fünf Gemeindearbeiter, die am Streik teilgenommen hatten, wurden fristlos entlassen.

Riehen, Basel und die Schweiz im Banne gesamteuropäischer Umwälzungen

Den heutigen Enkeln der Weltkriegsgeneration ist es natürlich ein Leichtes, aus der zeitlichen Distanz von 75 Jahren das Verhalten der damaligen Dorfgrössen als überreaktion abzutun. Zweifellos wurde die Bildung von Bürgerwehren geschürt durch die Angst vor einem übergreifen der revolutionären Ereignisse aus dem benachbarten Deutschland in die kriegsverschonte, aber sozial aufgewühlte Schweiz.

Die Formel «Ende der Monarchie gleich kommunistische Machtergreifung, kommunistische Machtergreifung gleich Schreckensherrschaft» war dem zutiefst erschrockenen Bürgertum durch die Vorgänge im zerfallenden Zarenreich auf drastische Weise vordemonstriert worden. Dass dieser Gesetzmässigkeit auch die Verlierermächte Deutschland und österreich-Ungarn unterliegen würden, galt damals als wahrscheinlich.

Ich glaube, die Historiker sind sich dahingehend einig, dass die Schweiz am Ende des Ersten Weltkrieges schweren Erschütterungen ausgesetzt, hinsichtlich ihres Bestandes als selbständiger, demokratisch regierter Staat aber nie gefährdet war. Radek, Lenins engster Vertrauter während dessen Schweizer Asyljahre, hat dies bestätigt mit dem Ausspruch: «Die Revolution im Sinne der russischen ist in der Schweiz infolge des starken, selbstbewussten Bauernstandes nicht denkbar.»

Eigenartig und aufgrund unseres heutigen Demokratieverständnisses schwer nachvollziehbar ist die Tatsache, dass die Einwohner unserer Gemeinde im Blick auf ihre politische Zuverlässigkeit oder besser gesagt, hinsichtlich ihrer bürgerlich-patriotischen Gesinnung, sozusagen amtlich aussortiert worden sind. Damals sind Gräben aufgeworfen worden, die für Jahrzehnte unsere Dorfgemeinschaft belastet haben. Mit dem Aufkommen einer dritten politischen Kraft fand auch unsere Gemeinde wieder zurück zum Dialog über die Standesgrenzen hinweg.

Die nach Art der Volksmilizen, aber ohne einheitliches Kommando organisierten Bürgerwehren waren der Armeeleitung ebenso suspekt wie den sozialistischen Jungburschen, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Mit Recht befürchtete General Wille durch das Eingreifen der selbsternannten Ordnungshüter eine sich jeder Kontrolle entziehende Eskalation der Gewalt und damit den offenen Bürgerkrieg.

Trotz der mehr als nur reservierten Haltung des Oberbefehlshabers der Armee war es den Bürgerwehren gelungen, sich aus Armeebeständen reichlich mit Waffen und Munition zu versorgen, und noch bis weit in die zwanziger Jahre hinein soll sich zum Beispiel in einem verschlossenen Raum des De Wette-Schulhauses ein geheimes Munitionslager befunden haben.

Dass ausgerechnet Alexander Clavel, Mitinhaber der die Streikursache bildenden Färberei Clavel & Lindenmeyer, Kommandant eines städtischen Bürgerwehrdetachements war, mutet eigenartig an. Mit etwelcher Bitterkeit hat ein Chronist jener Tage diesen Sachverhalt kommentiert mit der Feststellung: «Alexander Clavel trat offenbar seinen Arbeitern lieber mit Ross und Ordonnanzpistole als mit der Lohntüte in der Hand entgegen.»

Ruhe und Ordnung - reine Männersache?

Noch ein Weiteres fällt auf beim Studium der Akten und Berichte aus jenen bewegten Zeiten: War auf bürgerlicher Seite der Kampf um die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung eine ausschliessliche Männerangelegenheit, so finden wir in den Reihen der argumentierenden, demonstrierenden und streikenden Arbeiter auffallend viele Frauen - von der bürgerlichen Presse verächtlich als Bolschewiki-Weiber abgetan. Liegt da mit der Grund, wes halb die schweizerische Männerwelt sich jahrzehntelang so schwer getan hat mit der Einführung des Frauenstimm- und -Wahlrechtes?

Hätten wir es besser gemacht?

Ich schliesse mit einer kritischen Würdigung dessen, was sich im Spätherbst 1918 und im heissen Sommer 1919 in Riehen abgespielt hat.

Es wäre sicher ungerecht, den Stab zu brechen über unseren damaligen Dorfhäuptern wegen deren aus heutiger Sicht seltsamen Handlungsweise. Es ist dem Gemeinderat zugute zu halten, dass er in echter Sorge war um Leib und Leben, Hab und Gut der ihm anvertrauten Dorfbevölkerung. Anstatt zu verzagen, hat er gehandelt ohne — rechtlich gesehen - dazu befugt zu sein, denn die Polizeigewalt lag damals wie heute ausschliesslich beim Kanton. Diese Polizeigewalt wirksam auszuüben war die Regierung in den Tagen des Landes- und des Generalstreiks aber nicht mehr in der Lage.

Darum mischt sich in die Kritik an den damaligen Zuständen auch ein Quantum Respekt; Respekt vor einer Tatkraft und einem Verantwortungsbewusstsein, wie es sonst «in den Dörfern draussen» nicht anzutreffen war.

Dank

Ich danke Frau Christel Sitzler, Archivsekretärin der Gemeinde Riehen, für die Beschaffung und Aufbereitung des Quellenmaterials; Herrn Johannes Wenk-Madoery für die überlassung von Schriftstücken und Fotografien aus der Zeit des Landesstreiks und des Generalstreiks.

 

Quellen Willi Gautschi: «Der Landesstreik 1918», Zürich 1988

Hanspeter Schmid: «Krieg der Bürger», Zürich 1980 Privatarchiv

Johannes Wenk-Madoery Fritz Grieder: «Aus den Protokollen des Regierungsrates zum Landesstreik 1918», in: Basler Stadtbuch 1969

Fritz Grieder: «Zehn heisse Tage - Aus den Akten des Regierungsrates zum Basler Generalstreik 1919», in: Basler Stadtbuch 1970

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1994

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