Über die Liebe der Musik

Frank Nagel

Gedanken zur Musik

aus Anlass des 10jährigen Bestehens der Musikschule Riehen

Von Carl Maria von Weber, dem Schöpfer des «Freischütz», stammt ein Ausspruch, den ich meinen Ausführungen voranstellen möchte:

« Was die Liebe dem Menseben, ist die Musik den Künsten und dem Menschen, denn sie ist ja wahrlich die Liebe selbst, die reinste ätherischste Sprache der Leidenschaften, tausendseitig alle Farbenwechsel derselben in allen Gefühlsarten enthaltend und doch nur einmal wahr, doch von tausend verschieden fühlenden Menschen zugleich zu verstehen.»


Die Liebe der Musik - nicht zur Musik - äussert sich in vielfältiger Art und Weise. Sehen wir einmal ab von dem einmaligen Schöpfungsprozess des Komponierens, der eine Art Abdruck eines seelisch-geistigen Vorganges darstellt, so vollzieht sich im Musizieren jedes Mal neu, tausend- und abertausendfältig - denn es vollzieht sich bei jedem Menschen anders - ein neuer Schöpfungsprozess im Wiedererwecken, im Verlebendigen, im Hörbarmachen dieses niedergeschriebenen Komponierten mit Hilfe unserer Stimme und unserer Instrumente. Wir sind also als Musiker, sei es als Solist, als Orchester- oder als Kammermusiker, sei es als Lehrer oder Schüler, jedesmal neu aktiv an einem Schöpfungsvorgang beteiligt. Das ist ein Wunder - mag dieser Vorgang grossartig oder noch so bescheiden ausfallen, so vollkommen oder unvollkommen sein. Die Musik bleibt dabei in ihrer Einmaligkeit gleich, «nur einmal wahr», wie Carl Maria von Weber sagt, wie ein Ideal, dem wir uns mehr oder weniger nähern können oder zu nähern versuchen. - In welcher Kunstgattung gibt es das noch? Vielleicht am ehesten in der Dichtkunst. Denn in der Architektur, in der Bildhauerei, in der Malerei ist weitgehend der

Schöpfungsakt mit dem fertigen Objekt - dem Gebäude, der Skulptur, dem Bild - abgeschlossen, was in etwa der fertigen Komposition in der Musik entspricht. In der Musik geht es aber jetzt erst richtig los. Da beginnt sozusagen erst die zweite Hälfte des Ganzen im Musizieren. Denn der Betrachter eines Kunstwerkes ist nicht gleichzusetzen mit dem ausübenden Musiker. Er ist vergleichbar mit dem Hörer eines Musikstückes.


Die Musik ist also die höchste Kunst. Deswegen sagt von Weber auch, sie sei die «reinste, ätherischste Sprache», die himmlischste, vollkommenste, umfassendste, denn ätherisch heisst zu dieser Zeit - denken wir an Hölderlins Gedichte - himmlisch, nicht im Sinne physikalisch-elementarer Bedeutung oder als emotionale übersteigerung, sondern himmlisch als göttlich, als geistige Dimension. Und damit wird auch die den Menschen gesundende harmonisierende Kraft der Musik angesprochen.


Ich hatte vor kurzem in der Musikschule ein Flötenquartett zu betreuen. Da wurde mir wieder auf schönste Weise offenbar, welch ein Zaubermittel die Musik mit ihren schier unerschöpflichen Möglichkeiten im pädagogischen Bereich ist.


Vier total verschiedene Menschen, verschieden in ihrem Denken, verschieden in ihrem Fühlen, in ihrem Wollen und Tun, verschieden selbstverständlich auch in der Fertigkeit, mit ihrem Instrument umzugehen, vereinigen sich zu gemeinsamem Musizieren. Der eine Spieler hat einen wunderschönen Ton, hat aber auch rhythmisch-metrische Probleme. Der andere wird durch die Musik besonders zur Konzentration herausgefordert, vielleicht weil er sich beim üben zu einseitig emotional verhält oder sich innerlich zu wenig mit dem Text verbindet. Der dritte spielt fabelhaft vom Blatt, muss aber sein phlegmatisches Temperament jedes Mal überspringen und seinem Spiel etwas Feuer beimischen, um mithalten zu können. Der vierte, sensibelste von allen, muss immer wieder erfahren, dass das zu Hause Geübte im Moment des Zusammenspiels einfach nicht so gelingen will, weil sein Selbstvertrauen der Gruppe gegenüber nicht stark genug ist. - Und wirklich klingen kann es ja erst, wenn der eine den anderen in sein Spiel miteinbezieht, ihm, wo nötig, den Vorrang lässt oder sich ihm gegenüber führend behauptet. Dieses feine soziale Wechselspiel hat ebenfalls mit Rücksichtnahme, Toleranz und letztlich mit Liebe zu tun. Dabei bleibt für den Lehrer selbst noch genügend übrig, an diesem Prozess zu lernen, hier und da regulierend einzugreifen, sich selbst zu spiegeln und womöglich in Frage zu stellen neben aller Geduld und dem Einfühlungsvermögen, die ja zu den Grundtugenden des Lehrers gehören - gehören sollten. Und am Ende einer solchen Kammermusikstunde erleben wir dann oftmals eine gewisse Euphorie, einen beglückenden Moment für die Spieler, zumindest jedoch die uns alle verbindende Freude im Bemühen, diesen einen Schatz, nämlich die Musik, die «nur einmal wahre», wie von Weber sagt, ein Stück weit gehoben zu haben.


Und was geht im Hören vor? Carl Maria von Weber sagt, die Musik sei von tausend verschieden fühlenden Menschen zugleich zu verstehen. Ist nicht jede Unterrichts, jede Musizierstunde, jedes Konzert ein Beispiel dafür? Verschenkt sich die Musik nicht fortwährend in allen Farbenwechseln und ist damit in allen Gefühlsarten enthalten? Sie kann uns verbinden, unterhalten, erheitern - im 18. Jahrhundert sprach man vom «Gemüt ergötzen» -, sie kann uns ergreifen, trösten, erheben, beflügeln, aufrütteln, betroffen machen, sicher auch verärgern und abstossen, je nach dem, welcher Geist sich in ihr manifestiert hat. Sie kann unser Bewusstsein erweitern. Ich denke da vor allem

an die neue Musik. Und sie kann heilen. Ich glaube, dort liegen in der Zukunft ungeahnte Möglichkeiten.


Wir hatten ein eindrückliches Erlebnis anlässlich eines kleinen instrumentalen Vorspiels unserer Musikschule vor geistig behinderten Kindern und Jugendlichen im Sonderschulheim «Zur Hoffnung»: Das Vorspiel sollte nicht länger als zwanzig Minuten gehen. Wir wählten zarte Instrumente: Blockflöten und Gitarren. Die mitwirkenden Schüler wurden darauf vorbereitet, dass es von seiten der Behinderten laute, unkontrollierte Ausbrüche geben könnte und dass wir nicht mit Zustimmung oder gar Beifall rechnen dürften. - Und dann kam der Moment, der unvergessen bleiben wird: Der Gitarrist spielte ein Rondo aus dem 19. Jahrhundert. (Bei einem Rondo wiederholt sich ja immer wieder der Teil A - also A/B - A/C - A/D und so weiter.) Plötzlich sang einer der am schwersten Behinderten, einer der sich im Alltag kaum artikulieren kann und für uns und seine Betreuer fast unerreichbar ist, glockenrein mehrfach diesen Wiederholungsteil mit. Für die Helfer, für uns Lehrer, vor allem aber für die mitwirkenden Schüler war das ein unglaubliches Erlebnis - ein Zeichen der Liebe der Musik.


Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1990

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