Von Spielsachen und ihren Kindern

Bernhard Graf

Spielsachen erzählen nicht nur von ihrer, nein, sie erzählen auch von der Geschichte jener Menschen, für die sie geschaffen wurden. Auch wenn diese nicht zugegen sind oder nicht mehr existieren, weil sie längst gestorben sind.

 

Alle Dinge, die Menschen gemacht haben und noch immer machen – unabhängig davon, ob sie von Hand hergestellt oder maschinell produziert wurden – dienen einem Zweck. Auf welche Weise sie gebraucht werden, erkennt man oft bereits dann, wenn man sie genau betrachtet. Sie werden verständlich, auch wenn man sie noch nie gesehen hat. Manchmal allerdings braucht es eine Erklärung von Kennern.

 

Die Dinge und ihr Verwendungszweck sind das eine, ihre Benutzer das andere. Denn ohne Nutzer sind die Dinge zwecklos. Zu den Dingen gehören also ihre Menschen. Diese sind ebenso vielfältig wie zahlreich – denn bekanntlich ist kein Mensch gleich wie der andere und mehrere können dieselben Dinge benutzen.

 

Hier wird der Versuch unternommen, hinter die Dinge zu schauen und ihre Benutzer zu erkennen in der Zeit, in der die Dinge – Spielsachen sind es – ihren ursprünglichen Zweck erfüllten. Daraus entstanden kleine Geschichten, die zwar nicht überliefert, aber möglich sind. Mal stehen die Kinder im Vordergrund, mal ist es das, was in ihrer Zeit üblich oder aber unüblich war. Dass zweifellos auch andere Geschichtchen hätten erfunden werden können, versteht sich von selbst. Genau das zeigt aber, wie vielfältig die Beziehung der Spielsachen – alle Beispiele sind im Spielzeugmuseum Riehen ausgestellt – zu ihren Kindern sein kann. Allgemeingültiges gibt es nicht: Mädchen spielen gern mit Rennautos und Buben mit einem Kochherd …

 

Der Mutter geben wir ein Modejournal in die Hand, das alle zwei Wochen erscheint und vorführt, was die Couturiers in den grossen Städten Europas aus kostbaren Stoffen zu zaubern imstande sind. Dem Vater weisen wir die Rolle des musisch begabten Prokuristen zu, der in den Akkorden Chopins wie in den Kalkulationen seiner Kontobücher das Verbindende der Mathematik erkennt.

 

Nun hat ihr Kind eine häusliche Szene in sein ausgedientes Schulheft geklebt. 140 Jahre ist das her, und wir werden zurückversetzt in die Zeit um 1870. Wir sind in einer Stube, in deren Mitte ein Tisch auf dem Parkett steht. Vom Fenster her fällt das letzte Tageslicht herein, bald ist es Zeit für Kerzenlicht und die Gutenachtgeschichte. Nur noch schnell den Klavierstuhl eingeklebt, sonst kehrt ihn womöglich das Kinderfräulein morgen vor lauter Eifer zusammen! Der Mann mit seinem vornehm grauen Strassenanzug und dem Hut wird der à la mode gekleideten Frau noch ein Kompliment für ihre Musikalität machen, die bei einem ‹Lied ohne Worte› zum Ausdruck kam, bevor er für den abendlichen Lesezirkel noch einmal das Haus verlässt.

 

Alle Details dieser feinen Bildgeschichte hat unser schöpferisches Kind der realen, der ‹grossen› Welt abgeschaut. Solche Szenen hat es schon beobachtet. Oder von ihnen gehört. Oder wenigstens davon geträumt.

 

«Dieses Bild ist die Nummer 19 und es sind nur noch drei bis zum Ende der Reise nach Afrika. Hier ist ein Kamel. Dort sitzen Männer am Feuer. Und da hinten sind die Berge der Wüste Gobi zu sehen!» So erklärt der älteste Sohn des Geografielehrers am Gymnasium seinen Schulkameraden, was soeben auf der Leinwand erschienen ist. Er hat an der hölzernen Kurbel gedreht, die das Bildband weitertransportiert und die nächste Szene sichtbar macht.

 

Den Kasten – «Man sagt: Cyklorama» – hat er von seinem Patenonkel erhalten, der ihn zum Geburtstag aus Berlin mitbrachte. Dieser Onkel hat immer das Neuste aus der Weltstadt im Gepäck. Oft ist es etwas Exotisches. «Er war auch schon dort! In Afrika! Bei den Negern, die seltsame Bräuche haben, wilde Tänze aufführen. Die in der Nacht wegen ihrer Hautfarbe kaum zu sehen sind. Und die an allerlei Götter glauben, nur nicht an unseren Lieben Gott.» Mit solchen Worten prahlt der Lehrersohn vor seinen Kameraden, und dass er selbst nun so etwas Ausgefallenes und gleichzeitig Raffiniertes besitzt wie dieses Cyklorama und dass in Berlin der Kaiser wohnt! Und dass er natürlich ein bisschen mehr weiss als die anderen Kinder, auch wenn er noch nie weiter gereist ist als bis an den Vierwaldstädtersee und die Sahara mit der Wüste Gobi verwechselt. Aber das merkt ja keiner, oder?

 

Eine Puppe erfreut jedes Mädchen. Davon ist der Spielwarenhändler überzeugt, das bestätigt der Hersteller, und das bejaht auch die Mutter, die findet, so eine Puppe würde ihre Tochter sicher ins Herz schliessen. Sie kauft die Puppe zu Weihnachten 1920 und gibt dafür nicht eben wenig aus. Denn es ist nicht irgendeine Puppe, sondern eine aus dem Hause Lenci in Turin.

 

Sorgfältig gemacht, was die Technik angeht, und von eigenständigem Charakter. Das zeigt der kleine Mund, das lassen die Augen erkennen, deren Blick echt wirkt: «So ist meine Jüngste manchmal auch!» Und die Masche im Haar: «Genau wie bei meiner Jüngsten!» Aber gerade deswegen mag die Jüngste diese Puppe nicht. Sie will nicht mit ihr verglichen werden. Und sie mag ihren Blick nicht, dieses Schielen aus den Augenwinkeln, das so gar nicht einladend ist, eher Angst macht, als Vertrautheit aufkommen zu lassen! Es ist schwierig, für sie mütterliche Gefühle zu hegen, ihr morgens die Haare zu frisieren und abends ihre Kleidchen fein säuberlich auf den Puppenstuhl zu legen.

 

Deshalb lässt sie Signorina Lenci links liegen und nimmt statt ihrer die bereits etwas lädierte Puppe aus Celluloid der grossen Schwester in die Arme. Die Mutter wendet ein, die sei doch ‹abgeliebt›. Ihre Jüngste versteht das Wort zwar nicht, aber sie liebt die Puppe trotzdem.

 

So wie der Vater jeden Morgen in der «Firma» – so nannte er das Baugeschäft, für das er arbeitete – den Lastwagen aus der Garage fuhr, so wollte es auch sein Sohn tun. Schon als kleiner Knirps war er im Sand-kasten dafür zuständig, allerlei Kies, Holz, Gras – und was sein seinerzeitiges Lastwägelchen sonst noch aufzunehmen vermochte – abzutransportieren. Er konnte dann nicht nur die bequemste Route für sein Fahrzeug ausfindig machen, nein, er konnte, er musste natürlich auch laut prustend den Motorenlärm imitieren. Das trug ihm den Spott der anderen Buben und schräge Blicke der unter dem Apfelbaum tuschelnden Mädchen ein. Aber das war ihm einerlei: Er würde Lastwagenfahrer werden!

 

Der Vater freute sich insgeheim über den Wunsch seines Jungen, auch wenn er sich nach aussen hin anders vernehmen liess: Sein Sohn solle es einmal besser haben als er mit seiner schweren Fuhre auf dem alten, stinkenden, lauten, farblosen Camion! Dennoch kaufte er ihm zum achten Geburtstag bei Franz Carl Weber einen grossen zweifarbigen Lastwagen. Die Verkäuferin wies ihn darauf hin, dass es sich um ein einheimisches Produkt handle und um Schweizer Qualitätsarbeit! Schon am andern Tag fuhren Vater und Sohn wieder auf die wirklichen und fiktiven Baustellen in der sich rasch verändernden Schweiz jener Zeit.

 

Die Basler Markthalle war schon gebaut, als der Basler Künstler Burkard Mangold sein Quartettspiel veröffentlichte. Auf den Kuppelbau war (und ist) Basel stolz: Ein solches Bauwerk, das in der Kühnheit seiner Konstruktion fast so beeindruckt wie der Pariser Eiffelturm oder die Brooklyn Bridge in New York, war damals einzigartig.

 

Nicht nur der Künstler war davon angetan, sondern auch die Familie, die sich sein Spiel beschaffte. Man war der Vaterstadt verbunden. Auch die Kinder liebten ihre alten Häuser, die stillen Plätze und die plätschernden Brunnen. Man war aber auch stolz auf das Neue und verteidigte ‹s ney› Basel oft, wenn die rückwärtsgewandten Zeitgenossen wieder über alles schimpften, was nicht mindestens 200 Jahre alt und daher in ihren Augen allein ‹echt baslerisch› war.

 

Einzig die Farblosigkeit des in Grautönen gestalteten Kartenspiels wollte nicht allen so recht gefallen. Aber man vermutete übereinstimmend, dass es der Künstler damit auf kluge Weise vermeide, für das bunte alte und gegen das eher farblose neue Basel – das er übrigens sehr liebte – Stellung beziehen zu müssen. Gerade deswegen mochten sie das Spiel.

 

Als es nach vielen Jahren des Gebrauchs zu einem reinen Anschauungsobjekt geworden war, hatte es längst Generationen verbunden: Das alte und das neue Basel war auch die Stadt der alten und der jungen Basler.

 

Maja meldete sich als Letzte zu Wort, als die Lehrerin die Kinder nach ihren Traumberufen fragte. «Speisewagenservierfräulein», sagte sie mit einigermassen fester Stimme und etwas unsicherem Gesichtsausdruck. Die Lehrerin, die zuerst selbst etwas verwundert war, sich dann aber über den Mut zu einer solch unerwarteten Äusserung freute, half ihr über das Gelächter jener hinweg, die das «ganz doof» fanden, indem sie nachfragte. Warum Maja diesen Beruf denn wählen würde? Sie sei, erklärte Maja mit leuchtenden Augen, halt begeisterte Eisenbahnfahrerin und liebe es, durchs Land zu reisen, über Brücken und durch Tunnels und mit 100 Stundenkilometern durch das Thurtal. Und dass die Leute beim Reisen speisen und sie beim Geldverdienen reisen könne, finde sie grad zweimal genial. Mit dem Speisewagen von Märklin wolle sie ihrem Traum ein Stückchen näher kommen. Das nächste Taschengeld investiere sie in dessen Inneneinrichtung und bei der Schweizerischen Speisewagengesellschaft habe sie angefragt, ob sie einmal mithelfen dürfe am Gotthard oder am Genfersee.

 

Nach der Schule steckten die Buben ihre Köpfe zusammen und wiederholten immer wieder das lange Wort, das sie heute zum ersten Mal gehört hatten: Speisewagenservierfräulein. Am Mittagstisch versuchten sie es ohne Lachanfall zu sagen und nach der Erledigung der Mathematikaufgaben hängten sie bei ihrer Märklin-Eisenbahn den roten Speisewagen absichtlich zwischen die Güterwagen.

 

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2011

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