Heimaten


Katja Fusek


 

1978


Sommer, ein heisser Julitag. Mein letzter Sommer in Prag. Ein glühend weisser Himmel über der Stadt, ein ungesunder Smog-Himmel, unter dem sich die Abgase stauten. Der Asphalt schmolz und dieser Gestank, ein Geruch meiner Kindheit, stieg bis in die oberen Stockwerke der erhitzten Häuser und vermischte sich mit dem Duft von gemähtem Gras aus den Nachbarsgärten. 


 

An jenem Nachmittag kam Mutter früher als erwartet vom Büro zurück. Sie strahlte meine Grossmutter an, die am Küchentisch vor einem Berg Wäsche sass und darauf wartete, dass ich ihr den Faden einfädelte, weil sie die Öse in der Nadel nicht mehr richtig sah. Auch mich strahlte Mutter an und sagte, es sei nun so weit. Wir hätten die Ausreisebewilligung endlich bekommen. Jetzt dürften wir für immer in die Schweiz zum Stiefvater ziehen. Sie sah sehr glücklich aus. Grossmutter stand auf, umarmte ihre Tochter und weinte. Dann schickten sie mich in den Garten. Ich verliess die Wohnung gern, ging aber nicht die Treppe hinunter, sondern stieg auf die Dachterrasse, die das ganze Jahr über zum Wäscheaufhängen benutzt wurde und wo sich vielfältiges Gerümpel in den Ecken türmte. Das Beste war eine ausrangierte Badewanne. Im Sommer füllten die Erwachsenen sie mit Wasser, das nur selten gewechselt wurde. Gegen Ende des Sommers setzten sich Algen an den Innenwänden der Wanne fest, was dem Wasser einen geheimnisvollen, grünlichen Schimmer verlieh und mit etwas Fantasie die Badewanne über den Dächern der Grossstadt in einen Tümpel im schattigen Wald verwandelte. 


 

In der Wanne räkelte sich Roman, meine Kinderliebe, bereits genüsslich im trüben, lauwarmen Wasser. Er war elf und ich zehn Jahre alt. Ich zog mein Kleid aus, behielt aber meine Unterwäsche an, weil Nacktbaden sich für eine angehende Fünftklässlerin definitiv nicht mehr ziemte, und stieg zu dem Jungen in die Wanne. Wir tauchten ins Wasser, unsere Köpfe verschwanden unter dem Badewannenrand, unsere Hüften berührten sich, wir lagen ganz still, sichtbar nur für die Vögel, die über unseren Köpfen in Scharen hinweg zogen. 


 

Dann sagte ich zu Roman: «Jetzt ist es definitiv. Wir werden in die Schweiz ziehen.»


Der Junge erschrak – so sehr, dass er mich bei meinem offiziellen Namen nannte: «Kateˇrina! Darüber darfst du doch nicht reden! Das muss geheim bleiben. Sonst bringst du deine Familie in Gefahr.»


«Nicht flüchten wie dein Onkel nach Kanada. Wegziehen, verstehst du?»


«Niemand kann doch einfach so in den Westen ziehen», wandte Roman ein.


«Wir schon. Mein Stiefvater lebt dort. Wir dürfen bei ihm wohnen. In Basel. Kennst du Basel?»


«Nein.»


«Ich auch nicht.»


«Wie redet man dort?», fragte Roman.


«Deutsch, aber auch noch ein anderes Deutsch, das meine Mutter gar nicht versteht.»


«Und du kannst Deutsch?»


«Ein paar Worte.»


«Wenn ihr also nicht flüchtet, dürft ihr wieder zurückkommen?»


Ich nickte: «Zu Besuch, ja. In den Ferien kommen wir sicher.»


«Freust du dich, Katka?», fragte auch er.


 

Wie sollte ich antworten? Wie in Worte fassen meine Angst – aber auch die Aufbruchsstimmung der letzten Monate und Wochen nach Mutters Hochzeit, in denen die Auswanderung immer konkreter wurde? Es überstieg mein Vorstellungsvermögen, dass ich mein Zuhause verlassen würde. Das Haus mit den Grosseltern, dem Onkel, der Tante und den beiden Cousinen, den Obstgarten mit Grossvaters Hühnern, ihr vertrautes Gackern, das mich jede Nacht in den Schlaf wiegte. Mein Bett gegenüber dem Esstisch und das meiner Schwester daneben. Meine Schulkameraden, die nach den Ferien in eine neue Klasse kommen würden. Und Roman. Aber es sollte in Basel im Nachbarhaus ein gleichaltriges Mädchen geben, eine Italienerin, mit der meine Schwester und ich ganz schnell Freundinnen werden würden, hat Mutter gesagt. Es gäbe auch eine neue Schule, eine viel bessere – und auch eine bessere Zukunft für meine Schwester und mich. Eine Zukunft in Freiheit. Es war aber sehr schwierig, sich eine bessere Zukunft vorzustellen, wenn man mit der Gegenwart restlos zufrieden war. 


 

«Willst du eine Geschichte hören?», fragte ich Roman.


Er nickte. «Aber keine Mädchengeschichte.»


«Nein. Eine mit Musketieren und viel Blut.» 


«Gut», sagte Roman. «Fang an.»


 

Da wurde die Terrassentür geöffnet, ich erkannte Grossmutters schwere Schritte. Wir hörten sie, aber sahen sie nicht über den Rand der Wanne, und sie beachtete uns nicht. Sie stellte etwas auf den Boden, es musste der Wäschekorb sein. Dann passierte lange nichts mehr. Endlich seufzte sie tief, bückte sich, ich hörte ihre Gelenke knacken, dann die Wäscheklammern leise klappern, das Ausschütteln der nassen Kleidungsstücke, ich roch den frischen Duft der Wäsche. Und es schoss mir durch den Kopf, dass ich Grossmutters Gelenke in der Schweiz nicht mehr knacken hören würde. Und wer würde ihr das Stopfgarn in die Nadel einfädeln, wenn ich weit fort sein würde? Bei diesem Gedanken zog sich mir das Herz zusammen. Als Grossmutter ins Haus gegangen war, sagte Roman: «Erzähl jetzt endlich die Geschichte mit den Musketieren.» Ich fragte mich, wem ich in dem fremden Land meine Geschichten erzählen würde, wenn niemand meine Sprache verstand. Während ich meine Fantasien in Worte verwandelte und sie Roman leise erzählte, lagen wir Hüfte an Hüfte, Schulter an Schulter im warmen Wasser, schauten in die Wolken. Es war trotz allem ein glücklicher Sommertag. 


 

2001

Im engen Konferenzzimmer sass ich meinem italienischen Schüler gegenüber. Vor kurzer Zeit hatte ich angefangen, Deutschunterricht an fremdsprachige Mitarbeiter eines Pharmakonzerns zu erteilen. Die flexiblen Arbeitszeiten kamen meiner Aufgabe als Mutter sehr kleiner Töchter und meiner schriftstellerischen Tätigkeit entgegen. Mehrmals die Woche hastete ich durch die Porte, vorbei an unförmigen Gebäuden, Hallen, Pipelines, Staplern, Lastwagen, dampfenden Kesseln mit irgendwas, hoffentlich nicht Explosivem und wenn, dann hoffentlich nicht jetzt Explodierendem. Im sechsten Stock des Gebäudes 396 stieg ich aus dem Lift und eilte vorbei an den Plastikboxen mit Versuchsmäusen und an der Laborantin, die im Stroh wühlte. «Komm, Schätzchen, mein süsses Mäuschen, komm!» 


 

Während der dreissig Jahre, die er bereits in der Schweiz lebte, hatte mein sechzigjähriger Schüler es verpasst, sich aus der neuen Sprache eine zweite Identität zu erschaffen. Doch an diesem schmerzhaften Prozess kommt niemand vorbei. Auch mit sechzig nicht. 


 

«Übung acht», sagte ich. 


«Wir möchten keine Limonade, weil wir haben keine Durst.»


Die Grammatik gehorchte ihm nicht. Er wehrte sich, wurde wütend: «Deutsch ist einfach unlogisch. Sie müssen zugeben! Unmögliche Sprache!»


«Das Verb kommt am Schluss und keinen Durst. Der Durst.»


Er protestierte: «‹La sete› heisst es doch! Es muss heissen die Durst. Durst ist weiblich. Wie denn sonst? Das verstehen Sie doch?» 


«Warum soll Durst weiblich sein? Auf Deutsch ist er männlich.»


«Aber weiblich auf Italienisch! Heiss und feurig und … ‹tormentosa›.»


«Der Durst», wiederholte ich. «Männlich. Der Durst tötet. Und überhaupt: Schon wieder denken Sie italienisch. Das dürfen Sie nicht. Im Deutschen müssen Sie deutsch denken. Dann wird es auch logisch.» 


 

Ein Bild tauchte vor mir auf: das Bild eines glitzernden Bergsees tief unten im Tal. Ich meinte, wieder die Hitze zu spüren, das Kitzeln der Grashalme auf nackten Waden, den Sommer über einer Wiese, meinen ersten Schweizer Sommer. Dann ein Gartenrestaurant. Hoch am Berg. In der Tiefe der funkelnde See. Rote Geranien in Trögen. Mein Grossvater und ich waren stehen geblieben. «Wie hübsch», sagte er und hielt meine Hand fest – er musste wissen, dass ich in diesem Sommer nichts hübsch fand, nicht die Kühe und auch nicht das Glockengebimmel, nicht die Berge und auch den See nicht, dass ich mich von allem abkehrte und zurückblickte. «Eine Landschaft wie aus dem Märchen», sagte er, aber ich rümpfte die Nase und brach in Tränen aus. Er verstand mich. Ich merkte es daran, wie er mir die Hand drückte. 


 

«Ich habe Durst», seufzte ich. Nein, diese Worte hatte ich bestimmt nicht sagen können. Mit meinem Grossvater habe ich nie Deutsch gesprochen. Ich muss gesagt haben: ‹Mám zˇízenˇ›.Wie denn sonst? ‹Zˇízenˇ›. Ein Wort wie ein weiches Tuch, das sich an den Körper schmiegt. Oder wie eine weite Landschaft, über die eine einsame Stechmücke irrt. Weiblich. Bevor ich Deutsch gelernt hatte, war mein Durst weiblich.


 

Gäste auf der Restaurant-Terrasse. Rufe, Gelächter, undurchdringliche Sprachklänge. Eine kompakte Stimmen-Kulisse vor der wuchtigen Berg-Kulisse. Alles war neu in der Schweiz. Für Grossvater und für mich. Für Grossvater aber war das Neue interessant, weil er in zwei Wochen in sein altes Leben zurückkehren würde. Er kriegte vom Morgen bis zum Abend den Mund nicht zu vor Staunen. Vor allem die verschwenderisch und verlockend angerichteten Essensmengen in den Lebensmittelgeschäften schienen ihn in einen Rausch zu versetzen. Ich schämte mich für ihn. Ich hätte nicht gedacht, dass ein Mann, der sich mit Büchern beschäftigt, von etwas derart Prosaischem wie den unzähligen Käsesorten beeindruckt sein könnte. Was hatte Käse mit meinem neuen Leben zu tun? Grossvater würde nach Hause zurückkehren. Zu seiner Schreibmaschine, zu seinen Übersetzungen und Büchern, zu seiner Brille und zum schwarzen Etui, das ich nie mehr mit einem Taschentuch auspolstern und zum Bettchen für die kleinste meiner Puppen umwandeln würde. Und ich blieb hier, wo alles Neue verdächtig und überflüssig war. Manchmal feindselig. 


 

Die Serviertochter hatte die beiden Nachbartische bedient, Grossvaters Zeichen aber übersehen. Endlich machte sie einen kurzen Zwischenhalt an unserem Tisch, die Augen schon wieder oder immer noch bei den anderen durstigen Gästen. Sie hatte es nicht nur eilig – da war noch etwas anderes, das spürte ich. Grossvater bestellte die Getränke in seinem etwas unbeholfenen Hochdeutsch mit breitem Akzent. Die Serviertochter nickte wortlos und würdigte uns eines kurzen, kühlen Blickes, als wisse sie schon alles über uns, und als sei das, was sie wusste, keinesfalls schmeichelhaft. So pflegte uns auch Stiefvaters Schwester jeweils anzusehen, meine jüngere Schwester und mich, wenn sie uns ermahnte, endlich aufzuhören, unser Kauderwelsch zu reden, das niemand hier verstünde, und Schweizerdeutsch zu lernen. Tschechisch sei ohnehin keine richtige Sprache. Fortan flüsterten meine Schwester und ich in unserer Muttersprache, wenn die Stieftante in Hörweite war. 


 

Nachdem wir ausgetrunken hatten, legte die Serviertochter Grossvater die ausgedruckte Rechnung hin, wartete stumm und ohne Lächeln, schaute zu, wie er das Geld aus dem Portemonnaie klaubte, die ungewohnten Münzen langsam zählte. Sie klopfte ungeduldig mit dem Kugelschreiber gegen das Notizblöcklein in ihrer Hand. 


 

Er kann Texte übersetzen, du dumme Ziege, fauchte ich sie an, ohne die Lippen zu bewegen. Er kennt tausendmal mehr Wörter, als du je in deinen blöden Kopf reinbekommst. Ich blieb stumm. Ich war sprachlos. Eine Welle des Hasses stieg plötzlich in mir hoch. Auf das fremde Geld, auf die Serviertochter, die in dem Ausländer den Gebildeten nicht erkannte, auf die Berge vor dem Sommerhimmel und auf den Durst, der uns in das Restaurant getrieben hatte. Ich versetzte dem Tischbein einen heftigen Tritt. Grossvater strich mir übers Haar. «Komm, Katusˇka», sagte er versöhnlich. «Zumindest haben wir beide keinen Durst mehr. ‹Uzˇnemáme zˇízenˇ.› »


 

Unsere gemeinsame Sprache beschützte uns wie ein zerbrechlicher Schild, hinter dem wir uns verschanzten. Vor der Serviertochter, vor der Stieftante und vor der neuen Welt. Ich nahm mir fest vor, alle Wörter – insbesondere die Schimpfwörter – in der neuen Sprache perfekt zu lernen, um mir daraus einen mächtigeren Schild zu bauen, hinter den ich mich jederzeit flüchten könnte.


 

Ein paar Tage später sagte ein Lehrer vor der ganzen Klasse, meine Muttersprache sei wichtig und wunderschön, die Sprache einer reichen Kultur, die ich erst noch entdecken würde, ich solle stolz auf meine Sprache sein und sie gut pflegen. Aus Dankbarkeit für seine Worte verliebte ich mich sofort in den freundlichen Lehrer. Seine Sprache war kein Feindesland mehr, gegen das es sich zu schützen galt, sondern eine neue, verlockende Welt, die zu erforschen ich grosse Lust bekam. Das Gymnasium war für acht Jahre mein Zuhause geworden. 


 

Ich lächelte meinen italienischen Schüler an: «Sie haben recht. Durst kann auch weiblich sein.»


 

2013


Aus einer E-Mail an meine tschechische Übersetzerin, die ein Interview für eine Literaturzeitschrift mit mir vorbereiten sollte: 


 

Milá Evi, 


 

ich werde versuchen, deine Fragen auf Tschechisch zu beantworten, da unser Interview in dieser Sprache veröffentlicht werden soll. Ich bitte dich aber, meine Fehler oder stilistischen Unsicherheiten hemmungslos zu korrigieren. Du hast freie Hand. Meine Erzählungen hast du so übersetzt, wie ich sie selbst auf Tschechisch hätte schreiben wollen, würde ich so gut Tschechisch können wie du. Lange Zeit war es für mich unvorstellbar, meine Geschichten auf Deutsch zu erzählen. Heute fühle ich mich in dieser Sprache zu Hause. Im Tschechischen bin ich wie zu Besuch bei jemand mir sehr Liebem, aber nicht mehr so Vertrautem.


Du fragst, ob ich mich eher als eine Schweizerin oder als eine Tschechin fühle.


Meinst du damit die Grenze, wo sich beide Identitäten begegnen? Diese Grenze hat sich mit den Jahren verschoben, sie ist ständig in Bewegung – und ich würde behaupten, sie ist im Begriff, sich aufzulösen. Ich denke nicht, dass ich aufhöre Tschechin zu sein, je mehr ich mich der Schweizer Gesellschaft zugehörig fühle. In Prag bin ich geboren, habe dort meine Kindheit verbracht, die Primarschule besucht, einen Teil meiner Familie zurückgelassen und werde dort immer für meine Verwandten und Freunde Katerˇina, Katusˇka, Kát’a, Kacˇenka, Katka heissen. Katerˇina ist ein für Deutschsprachige unaussprechlicher Name.


Welche Beziehung ich zu meinen beiden Sprachen hätte, fragst du weiter.


Tschechisch wird die Sprache meiner Wurzeln bleiben, in der ich mich in der Schweiz mit meinem Mann und unseren Kindern, mit meiner Mutter und meiner Schwester unterhalte, den Einkaufszettel schreibe, rechne, schimpfe, mit unserem Hund und mit mir selbst rede. Ohne diese Sprache fühlte ich mich als halber Mensch. Aber Deutsch ist meine literarische Sprache geworden, die ich heute besser und sicherer und auf einem höheren Niveau beherrsche als Tschechisch, in der ich meine erdachten Welten erschaffe. Eine Sprache, in der ich mit engsten Freunden anregende Gespräche führe, literarischen Austausch pflege und in der ich in meiner Alltagswelt kommuniziere, hier, wo ich für alle Katja heisse.


Du fragst, in welchem Land ich «zu Hause» sei.


Es gab Zeiten, wo ich mir nicht vorstellen konnte, dass ich in der Schweiz kein Heimweh nach Prag empfinden würde. Heute ist meine Beziehung zu den beiden Ländern viel weniger emotional, das Gefühl von «zu Hause» hat sich in andere Sphären verlagert. Tschechien hat sich mir entfremdet, ich habe während fünfunddreissig Jahren den Wandel der Gesellschaft nur als Zuschauerin verfolgt und manches ist mir fremd geworden und gefällt mir nicht. In der Schweiz, in Riehen hingegen lebe ich, hier bin ich ein Teil der Gesellschaft, in der ich mich engagiere. Hier ist der Ort, wo meine Familie ist, wo der grösste Teil meiner Freunde lebt, wo ich als Lehrerin und als Autorin beruflich tätig bin. Längst gibt es nicht mehr nur eine Heimat für mich. Es gibt verschiedene Heimaten: Orte, Augenblicke, wo ich mich wohl und beheimatet fühle – und vor allem Menschen, mit denen ich Gefühle, Interessen, ähnliche Weltansichten teile. 


 

In Riehen habe ich meine Heimaten gefunden: Das vertraut gewordene Dorf, die täglichen Spaziergänge mit dem Hund im Stettenfeld, unser Haus, die Arbeit im Garten, mein Arbeitszimmer, meine Familie, meinen Freundeskreis, Schriftstellerkolleginnen und -kollegen, das Schreiben allein am Schreibtisch oder im regen Austausch mit meinem Autorenpartner. Eine Heimat ist für mich auch die Arena Literaturinitiative Riehen geworden, wo ich Freunde treffe, mit denen zusammen ich Autorinnen und Autoren nach Riehen hole. Überall da fühle ich mich wohl, schöpfe Kraft und Zuversicht – also bin ich zu Hause.


 

Zu meiner ganz wichtigen Heimat ist das Schreiben, das Erzählen geworden. Es gibt mir auch die Möglichkeit, neue Brücken zu meiner alten Heimat zu schlagen und dort neue Welten zu öffnen. Wenn eine meiner Erzählungen auf Tschechisch erscheint, kaufen sich meine Verwandten und Freunde in Prag die Zeitschrift, lesen meinen Text und wundern sich über die Katja, die Deutsch schreibt und die sie nicht kennen. Aber vielleicht finden sie in der Autorin Katja auch vertraute Spuren von der Katusˇka, Katerˇina, Katka. 


 

Im Lauf des Lebens entfremden wir uns vom Vertrauten. Selbst wenn wir am gleichen Ort bleiben, verändert sich dieser unaufhaltsam und mit ihm die uns nahen Menschen, bis wir merken, dass die Heimat wandelbar ist – dass wir das Gefühl der Heimat in uns tragen und dort zu Hause sind, wo wir uns angenommen fühlen. 


 

PS:


Vor sechs Jahren lief uns auf Sizilien eine junge Hündin zu. Zehn Tage lang wich sie nicht von unserer Seite, in der Nacht schlief sie unter unserem Hotelfenster. Wir nahmen sie zu uns nach Riehen. Die italienischen Behörden stellten ihr einen italienischen Tier-Pass aus. Er ist dunkelblau, verziert mit dem Kreis gelber Sterne und der Aufschrift «Unione Europea. Repubblica italiana». Wenn wir verreisen, ist dies der einzige blaue Pass unter unseren vier roten. Da mich diese Diskrepanz irritierte, wollte ich auch unseren Hund in der Schweiz offiziell heimisch werden lassen und erkundigte mich, wie ich ihm zu einem Schweizer Pass verhelfen könnte. Das erwies sich jedoch als unmöglich. Wir hätten den Hund bereits am Grenzübertritt anmelden müssen, um den Pass ändern zu können. Nun sei er als italienischer Hund eingeführt und dürfe hier kein Schweizer mehr werden. Ob ich mir deswegen Sorgen machen müsse, etwas nicht rechtens sei, fragte ich. Nein, das sei nicht schlimm, da er kein Rassenhund, sondern ein Mischling einer unbekannten Anzahl Rassen sei und zudem unter zwanzig Kilo wiege, gelte er als Fleischeinfuhr, wurde mir beschieden. Anmelden müssten wir ihn natürlich schon und die Hundesteuer zahlen, nur einen Schweizer Hund könnten wir nicht mehr aus ihm machen. Den Hund kümmert weder sein Status als Fleischeinfuhr noch sein blauer Pass mit den gelben Sternen. Er hat seine Menschen gefunden, bei denen er sich zu Hause fühlt. Er versteht alle Befehle auf Tschechisch und auf Deutsch, und wenn Freunde kommen, die italienisch reden, wirkt er ganz euphorisch. Er ist dankbar, wenn man freundlich zu ihm spricht, egal in welcher Sprache, ihn hinter den Ohren krault und ihm einen Cervelat serviert. Auch er scheint seine Heimat in der Fremde gefunden zu haben. 


 

 

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2013

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