...auch im Moment der Hoffnung bleibt die Gefährdung.

Klaus Schweizer

Über den Riehener Kulturpreisträger Jacques Wildberger

 

Als vor vielen Jahren ein kleines Fernsehporträt von Jacques Wildberger angefertigt werden sollte und erste überlegungen angestellt wurden, wie das zentrale Arbeitsgespräch optisch anzureichern sei, da ging der Vorschlag des Porträtierten dahin, die Kamera möge ihn ruhig auf seiner gewohnten Erfrischungsrunde durchs Riehener Quartier begleiten. So geschehen. Die Zuschauer am Bildschirm - es mögen nicht ganz so viele gewesen sein wie bei der Länderspielübertragung tags zuvor - sahen den Komponisten im Zeitmass Allegretto, ma poco agitato über schattige Spazierwege und Strassenzüge durchaus gehobener Wohnlage dem heimischen Pfaffenlohweg zustreben, wo er den bohrenden Fragen des Interviewers standzuhalten hatte.1) Ländlich getönte Wohlstandsidylle, vorgezeigt zur Bekräftigung der These, dass das Produzieren anständiger Kunst eben nur bei Gewährung zumindest ebenso anständiger Lebensbedingungen zu garantieren sei? Anspruchsund Ausgleichsdenken solcher vergröberter Art liegt Wildberger fern. Ihm, dem soeben zum Träger des Riehener Kulturpreises 1986 Avancierten2), kam es damals vielmehr darauf an zu zeigen, er wisse es dankbar zu akzeptieren, als ökonomisch und gesellschaftlich Privilegierter ohne Einschränkungen arbeiten zu können, darin im Vorteil gegenüber so vielen, deren Kunstschaffen sich finanziellen, schlimmer noch: freiheitlichen Zwängen zu beugen habe.

Wildberger, der im Jahr 1922 in Basel Geborene, hat es stets zu schätzen gewusst, wenn seine hier geplanten und ausgearbeiteten Kompositionen auch in Basel selbst zur Uraufführung kamen. Es bedeutet ihm nicht wenig, seine Partituren zunächst einmal einem Hörerkreis von Freunden, Schülern und Musikfreunden vorzustellen, denen er sich durch Beruf und Lebensraum mehr oder weniger tief verbunden weiss. Heimatgefühle auch im künstlerisch-expressiven Bereich? Wildberger würde sie kaum leugnen, bestärkt hierin etwa durch einen Schriftsteller wie Martin Walser, der offen bekennt, dass er seinem regionalen Verwurzeltsein persönlichen Rückhalt und mancherlei Arbeitsimpulse verdanke.

Dabei lagen die Uraufführungsorte Wildbergerscher Opera zunächst eher in einiger Ferne. überaus zögernd öffneten sich die heimischen Konzertsäle und Funkhäuser zu Beginn der fünfziger Jahre (etwas williger dann schon während der sechziger Jahre) jener Musica nova, die sich an Schönbergs und Weberns Konstruktivität orientierte und eine Art Hauptquartier in Gestalt der international frequentierten Darmstädter Ferienkurse besass. Nach einem eher traditionell ausgerichteten Klavier- und Theoriestudium am Basler Konservatorium hatte sich ein Mentor nach Wildbergers Vorstellung im kulturellen Abseits finden lassen, in Ascona, wo der Deutschrusse Wladimir Vogel (1896-1984) untergekommen war und seine Schüler zu ebenso strengem wie phantasievollem Umgang mit dem zwölftönigen Klangmaterial anhielt. In Darmstadt kamen 1951 erstmals die Quattro pezzi für Klavier, 1952 ein Quartett für je ein Holzbläser- und Streicherpaar, 1959 auch das Ensemblewerk Zeitebenen zu Gehör. Bei den bedeutsamen Donaueschinger Musiktagen wurden 1953 die (nicht unumstrittenen) Tre Mutazioni, 1963 das (schon nicht mehr umstrittene) Oboenkonzert zur Diskussion gestellt. In noch grösserer Distanz lagen etwa die Premierenorte Köln (Kantate vom Kommen und Gehen des Menschen, 1954) und Aix-en-Provence (Orchesterstück Intensio-Centrum-Remissio, 1958), Hamburg (Kantate Ihr meint, das Leben sei kurz..., 1959) und Wien {Musik für 22 Solostreicher, 1961), Montreal (Quartett für Flöte, Oboe, Harfe und Klavier, 1967) und Berlin (Contratempi für einen Solo-Flötisten und 4 Orchestergruppen, 1971).

Aufmerksamkeit und Anerkennung, Anregungen und Aufträge gab es also - bitter genug - vorläufig anderswo. Auch auf beruflichem Sektor war eine gesicherte Position zunächst im Nachbarland zu haben, an der Karlsruher Hochschule, wo Wildberger von 1959 bis 1966 Komposition und theoretische Fächer unterrichtete. Dann allerdings bot sich ein Wechsel ans Konservatorium der Basler Musik-Akademie an. Und wenn Wildberger, seit diesem Sommer in den offiziellen Ruhestand versetzt, auf diese gut zwei Jahrzehnte währende Konservatoriumsarbeit zurückblickt, so dürfte er sie im guten Sinne als das «Eigentliche» seines Entwicklungsganges, als ein Stück «Beheimatung» einstufen.

Denn mittlerweile wird ein nicht unbeträchtlicher Teil der Basler Initiativen zugunsten zeitgenössischer Musik von Musikern getragen, die in irgendeiner Weise durch Wildbergers stets anregende, niemals engstirnige Schule geprägt wurden. Und seine neueren Stücke, früher fast ausschliesslich von Interpretenfreunden wie Heinz Holliger, Aurèle Nicolet, Jürg Wyttenbach oder Iwan Roth kreiert, werden längst immer wieder auch von Schülern einstudiert, die sich zum Erlernen der erweiterten heutigen Instrumentaltechniken haben motivieren lassen.

Nicht nur der kompositorische «Ton», auch bereits die Textwahl etlicher in diesen Jahren vorzugsweise für Basel komponierten (oder hier angeregten) Partituren lässt erkennen, dass Wildberger spätestens seit Ende der sechziger Jahre seine Standorte verändert hatte:

 

1967 La Notte, Triptychon für Tonband, Mezzosopran und 5 Instrumente (Michelangelo Buonarroti, Enzensberger);

1972 Double Refrain für zwei Holzbläser und einen Schlagzeuger (biblische Texte, Hobbes, Hegel, Ernst Jünger, Marinetti, Leutnant Calley, Protokolle des Frankfurter Auschwitz-Prozesses);

1975 ...die Stimme, die alte, schwächer werdende Stimme... Triptychon für Sopran, Violoncello, Orchester und Tonband (biblische Texte, Beckett, Camus, Celan, Heidegger, Hölderlin);

1977 Tod und Verklärung für Bariton und Kammerorchester (Novalis, Johannes von Tepl, Heine u.a.);

1979 An die Hoffnung für Sopran, Sprecher und Orchester (Hölderlin, Jurek Becker, Erich Fried).

Was war geschehen? Vielleicht hatte der einjährige Berlin-Aufenthalt des Jahres 1967, die Konfrontation mit gärender gesellschaftspolitischer Unruhe, die Begegnung mit kritischen Zeitbeobachtern wie Hans Magnus Enzensberger bisher Unbewusstes bewusst werden lassen, latente Probleme zugespitzt. Auf welche Weise, wozu überhaupt sollte angesichts verheerender und hoffnungsloser Weltzustände Musik geschaffen werden, womöglich Musik des schönen Scheins, dem jahrhundertealten Werkbegriff gehorchend, wohlangepasst den Erfordernissen einer immer fragwürdigeren Musikbetriebsamkeit?

La Notte sollte zunächst diesen Zwiespalt zur Sprache bringen, sollte durch harte realistische Klänge einer verlogenen Musik der ästhetischen Verblendung ihr Ende bereiten und durch diesen Akt der Bewusstseinsklärung auch künftige kompositorische Arbeit ermöglichen.

«Soweit bin ich also gekommen: dass ich am Werkbegriff Kritik übe; indessen im Rahmen eines Werks. Nicht um die Abschaffung des Werkbegriffs geht es mir darin, sondern um dessen Relativierung... In diesen zwei Jahren ging es mir schlecht, auch physisch schlecht. Ich musste schliesslich einsehen, dass es besser wäre, von zwei übeln das kleinere zu wählen: statt aufs Komponieren ganz zu verzichten, eben unter Vorbehalt zu komponieren».3) Auch in der Folgezeit besteht Wildberger darauf, dass im Rahmen seiner Kompositionen vieles «zur Sprache» kommt. Textmontagen sind es vor allem, literarisch Ver dichtetes neben nüchternen Dokumenten, die dank planvoller Plazierung beim Hörer Erhellung bewirken sollen, befördert von einer Musik, die sich unablässig bemüht, ihre Gesten unmissverständlich zu gestalten, um selbst sprachliche Züge anzunehmen.

Aber gerade auch eine Partitur wie Canto per Orchestra (1983) muss hier genannt werden, ein knappes, kaum zehnminütiges Orchesterstück, das seine (diesmal textlose) «Handlung» den Tönen selbst anvertraut - im Vertrauen darauf, dass so einfache Tongestalten wie Melodie, Choral oder Herzschlag genug «Handlungsfähigkeit» entwickeln, um eine Aussage zu tätigen. Hier der Einführungstext des Komponisten, stellvertretend für das klingende Werk: «Aus geräuschhafter, 'sprachloser' Umgebung versucht, zaghaft zuerst, dann immer drängender, ein Gesang sich zu erheben und zu artikulieren. Immer wieder wird er vom Geräusch überdeckt und verschluckt.

In der Mitte des Stückes scheint ihm die Befreiung zu gelingen: in choralartig-pathetischer Gestalt (Hörner, Trompeten, Posaune). Ein 'Angsteinbruch' ('Herztöne', im Schlagzeug) zerreisst die Linien und lässt sie wieder ins Vorsprachliche zurücksinken.

Am Schluss löst sich der Gesang aus dem Geräusch und schwingt sich ins höchste Register der Solovioline. Aber auch im Moment der Hoffnung bleibt die Gefährdung (Reminiszenz der 'Herztöne').»1)

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1987

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