Auf dem Schulweg

Eduard Wirz

In einer frühen Morgenstunde schreitet ein Knabe zum Dorf hinaus. An seinen Rücken hat er den Schulranzen gehängt, und in der Rechten trägt er das Reißbrett. Er pfeift ein heiteres Lied. Eben als er das letzte Haus erreicht hat, tritt der alte Bauer aus dem Stall und ruft ihm zu: «So, Hans, auch an die Arbeit bei diesem schönen Wetter?!» Der Knabe wünscht einen guten Tag und setzt darauf ungesäumt sein Liedchen fort. Sein Schulweg beträgt an die zwei Stunden. Aber noch keinen einzigen Tag ist ihm die weite Wanderung beschwerlich vorgekommen, auch im Winter nicht, wenn er in der stockfinsteren Nacht durch knietiefen Schnee seinen Weg suchen und sich bahnen muß. Und heute ist der schönste Frühlingstag angebrochen. Die Wiesen, zwischen denen die Straße durchläuft, stehen im zarten Grün. Daraus leuchtet schon das Gelb der ersten Schlüsselblumen, das helle der wilden und das goldenfarbene der zahmen. Die Zwetschgenbäume haben ihren weißen Blütenschmuck umgehängt, und in den Rebäckern, die am Hang in der frühen Sonne liegen, brennt das frohe Rot der Pfirsichbäumchen. Das alles sieht der Knabe, und er findet das junge Wunder des Jahres beglückend, wenn er auch nie einem Menschen ein Wort davon sagt. Man würde ihn nur auslachen. Er weiß auch, daß die ganze Herrlichkeit in wenigen Tagen zurücktritt und verschwindet, wenn nur erst die Kirschbäume zu blühen begonnen haben und man meint, es sei über Nacht frischer Schnee gefallen, so weiß sieht es ringsum aus.


Jetzt macht das Sträßchen eine Biegung und schickt sich an, den Berg hinaufzuklettern. Da steht die alte, seit vielen Jahrzehnten verlassene Gipsmühle vor ihm, eine lotterige Hütte, deren Mauerwerk kaum noch das schwarze Dach zu tragen vermag. Jedes Jahr bröckeln ein paar Steine mehr weg und bleiben neben der Mauer in den Nesseln und im Gestrüpp liegen oder rollen in das Bächlein, das neben der Hütte vorbeischießt und dem Dorfbach zufließt. Kein Mensch kümmert sich um das Haus. Niemand benützt es. Ein Landstreicher oder Bettler findet darin Unterschlupf; aber wenn es regnet, muß er lange nach einer Stelle suchen, wo er vor dem Wasser geschützt ist.


Hans sieht die Hütte und entdeckt auch einen Rauch, der zwischen dem Haus und der alten Pappel, die daneben steht, in die Höhe kringelt. «Zigeuner!» fährt es dem Knaben durch den Sinn, und er erinnert sich, daß vor drei oder vier Jahren Kesselflicker, Zigeuner, wie man sie im Dorf nannte, dort ihr Lager aufgeschlagen hatten. Ein paar Tage lang hatten sie sich um Kessel, Geschirr und Schinne bekümmert, dann waren sie eines Morgens verschwunden, kein Mensch wußte wohin. Aber im Unterdorf behauptete eine Bäuerin, seit die heillose Gesellschaft fort sei, fehlten ihr drei Hühner.


«Zigeuner!» Hans steht vor der Hütte. Ein Feuer lodert. Darüber hängt ein Kessel. Eine Frau sitzt daneben und rührt in dem schwarzen Topf. Neben der Hütte steht der kleine Blachenwagen. Ein Mann spannt das Pferd aus. Der Knabe sieht das Tier. «O je!» Er denkt an die Braunen, die rund und stark daheim im Stalle hinter der vollen Krippe stehen.


«Was glotzest du? Hast du noch kein Roß gesehen?!» fährt ihn der Mann an.


«Doch, doch», stottert Hans, und auf einmal packt ihn eine Angst vor den beiden Menschen. So ganz anders als irgendeiner im Dorf, fremd und wild, zerlumpt und arm sehen sie aus, ärmer als der Katzenwerner, dessen einzige Habe aus zwei Katzen besteht. Er wendet sich rasch weiter. Doch kaum hat er ein paar Schritte gemacht, hält er von neuem inne. Aus dem Ufergebüsch des Baches drängt sich ein Mädchen hervor. Er sieht nur die Farben Rot, Weiß, Schwarz und Braun. Das Dirnlein steht vor ihm und schüttelt den Kopf, und aus den schwarzen Haaren springen glitzernde Wassertropfen. Es blickt ihn keck an und deutet auf den Schulranzen:

«Was hast du da drin?»


«Bücher, Hefte.»


«Und hier?» Die braune Hand fährt gegen das Reißbrett.


«Eine Zeichnung.»


«Eine Zeichnung?» wundert die helle Stimme. «Zeig sie!»


Sorgfältig löst Hans das Schutzpapier los und weist auf das weiße Blatt mit den schwarzen Linien und Bogen.


Das Mädchen sagt kein Wort.


«Ein Kreis und das da, eine Ellipse.»


«So? Das mag ich nicht.» Das Mädchen schüttelt den Kopf. Dann fragt es: «Wohin gehst du?»


«In die Schule.»


Ein Lachen perlt: «Bei dem Wetter?!»


«Ja, gehst du nicht in die Schule?»


Wieder lacht das Mädchen: «Was denkst du auch! Vielleicht im Winter.»


Eine scharfe Stimme ruft.


Das Mädchen schrickt zusammen und wendet sich.


«Da, willst du das?» Der Knabe zieht ein Ei, ein braungefärbtes Osterei, auf dem sich das Bild eines Blattes in der hellen Farbe der Schale abzeichnet, aus der Tasche. «Nimm es, ich schenke es dir!»


Hastig greift das Mädchen nach dem kleinen Schatz und eilt zum Feuer hinüber.


Hans zögert noch einen Augenblick, dann setzt er seinen Weg fort. Aber nach ein paar Schritten bleibt er wieder stehen und blickt zurück. Die Kesselflicker sitzen um das Feuer. Das Mädchen kauert zwischen den beiden Großen. Es kehrt ihm den Rücken zu, also daß er nur das schwarze Haar sieht. Er gibt sich einen Ruck und schreitet rüstig bergwärts. Er darf nicht länger säumen, wenn er nicht zu spät in die Schule kommen will. Noch einmal schaut er im Gehen zurück. Doch, da sieht er nur noch das schwarze Dach, neben dem ein dünner Rauch aufsteigt und in der Helle des Tages zerfließt. Er greift von neuem aus. In einer halben Stunde hat er die Höhe erreicht. Er weiß, hier kann er nicht die kleinste Ecke der Mühle mehr sehen. Aber er bleibt dennoch einen Augenblick stehen und schaut in das Tal hinunter, in dem das Dorf hinter den Wiesenhängen versteckt liegt. Nur die Kirche sieht er, die Kirche mit dem roten Dachreiterchen. Dort durch den Einschnitt läuft der Weg zur Gipsmühle, dort... Ein Stundenschlag fällt in die Stille. Jäh schreckt der Knabe auf.


*

Vor den Ferien haben die Knaben sich verabredet, daß jeder von ihnen am ersten Schultag ein Ei mitbringt. Man will tütschen, und wer aus dem Spiel als Sieger hervorgeht, der soll für das neue Jahr Klassenchef sein. Und Klassenchef der obersten Klasse bedeutet nicht wenig. Die Buben der untern Klassen fürchten ihn wie ihren eigenen Lehrer. Auf sein Wort achten sie; was er gebietet, führen sie aus. Jeder möchte gerne Chef werden. Auch Hans hat sein Ei aus keinem andern Grunde mitgenommen, als um mit ihm das hohe Spiel zu gewinnen. In der großen Pause versammelt sich die Klasse in der Ecke bei der Turnhalle. Das ist seit Jahren der Platz der Großen. Es sind sechzehn Knaben. Sie stellen sich auf, wie es ihre Vorgänger gehalten haben. Je zwei stehen einander gegenüber, das Ei fest in der Hand, eine Waffe, gezückt, um den Gegner mit einem entscheidenden Schlag zu treffen und zu vernichten. Doch, da keiner weiß, ob nicht des Gegners Schild und Waffe sich als stärker erweist, ist das Spiel so spannend und aufregend.


«Hans, komm!»


«Ich habe kein Ei.»


«Wie, kein Ei? Hast du es vergessen?» Das kann keiner verstehen, von ihm, der noch nie ein Buch oder ein Heft vergessen hat.


«Oder hast du es gegessen, als du über den Berg stiegst?»


Hans schüttelt den Kopf.


«Was fragt ihr? Der hat es doch seinem Schatz geschenkt.»


Ein Lachen dröhnt.


«Du hast einen Schatz, du Heimlichtuer?!»


Hans wehrt ab, aber er spürt, wie ihm auf einmal das Blut heiß in den Kopf schießt.


«Wie heißt er?» Mädchennamen werden genannt. Die Kameraden umringen Hans und bedrängen ihn, bis auf einmal einer ruft: «Wollen wir bloß eines Mädchens wegen unsere Wahl vergessen?!» Nein, das will keiner. Sie stellen sich wieder in Reih und Glied und das entscheidende Spiel beginnt. Hans steht abseits. «Schatz, haben sie gesagt, Schatz.»


*

Am späten Nachmittag kehrt Hans heim. Er geht durch den Wald. Endlich ist er allein, endlich ist er all dem Schlimmen entronnen, dem Spott der Kameraden, die seiner Versicherung, daß er keinem Schatz sein Ei geschenkt habe, nicht glauben wollten, und dem Versagen in der Schule, wo ihn der Lehrer zweimal aus seiner Unaufmerksamkeit mit einer Frage aufgeschreckt hatte, deren Beantwortung von einem lauten Gelächter der Klasse gefolgt war. Beim erstenmal hatte der Lehrer verwundert den Kopf geschüttelt, daß ihn einer der besten Schüler im Stiche ließ, als er aber darauf wiederum versagte, spottete der Mächtige: «Drücken dich noch die Ostereier oder hast du am Ende beim Eierlesen den Weg verloren? Schreib einmal bis morgen die Lektion ab, dann kommst du wieder ins Geleise.»


Eine Strafaufgabe hat er gefaßt, eine Strafaufgabe wegen eines Eies, wegen eines Mädchens, wegen seines Schatzes, wie die andern sagten. Wieder durchfährt ein heißes Durchglühen den Knaben. Ja, ist denn das fremde Mädchen sein Schatz? Er hat ihm in einer plötzlichen Freude, die ihn ergriffen, sein Ei geschenkt. Aber er kennt ja nicht einmal seinen Namen. In der Stille des Waldweges sieht er jetzt deutlich sein Bild vor sich. Er sieht wiederum zuerst das rote Röcklein, das leuchtende rote Röcklein des Barfußmädchens. Ein weißes Hemd steigt aus dem Röckchen. Ja, vielleicht ist es weiß, wirklich weiß. Er erinnert sich nicht mehr so recht daran. Aber aus ihm wächst ein schlanker, brauner Hals. Es scheint ihm, er messe nicht mehr denn der Stamm der jungen Birke, die hinter ihrem Haus steht und den er leicht mit den Fingern umspannen kann. Einen braunen Kopf trägt dieser Hals. Er muß an die seltsame Blume denken, die er im vergangenen Sommer im tiefsten Dunkel des Waldes gefunden hat. Schwarzes Haar deckt den Kopf, schwarzes Haar, das wilden Flammen glich, als das Mädchen vom Bach kam und den Kopf schüttelte. Sie decken das Gesicht fast ganz zu und fallen sogar über die Augen. Aber auf einmal sind diese wieder da, und nun blitzen sie, die schwarzen Kohlenaugen, wie feurige Glut.


«Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß,

Wie heimliche Liebe, von der niemand nichts weiß.»


Plötzlich ist ihm dieser Spruch eingefallen. Ein Kamerad hat ihn auf einer Karte entdeckt, die seine Schwester von einem, wie sie sagte, Unbekannten erhalten hatte. Die Karte machte die Runde durch die Klasse. Ist nun das die Liebe, ist das fremde Mädchen sein Schatz? Liebt er es? Er weiß es nicht, aber er spürt, wie er froh wird und wie alles Ungemach des Tages von ihm abgefallen ist und weit hinter ihm liegt. Ob er das Mädchen wieder sieht? Er zieht tüchtig aus. So hat er seinen Heimweg noch nie beschleunigt, auch dann nicht, wenn ihn die Mutter gemahnt hatte, er möchte für diesmal aus einem besonderen Grunde besonders frühzeitig heimkommen. Jetzt hat er schon den Waldrand erreicht. Da blühen voll und groß die Schlüsselblumen. Wie helle Sterne brennen sie in dem grünen Gras. Der Knabe überlegt nicht. Er rafft eine mächtige Hand voll zusammen. Er will sie dem fremden Mädchen geben. Er eilt den Berg hinunter und sieht das schwarze Dach, und nun liegt die Mühle vor ihm. Aber es steigt kein Rauch auf, das Feuer ist erloschen. Er sieht keinen Menschen. Die Angst packt ihn. Sind sie fortgezogen? Wird er das Mädchen nicht mehr sehen? Doch, da steht der Wagen noch neben der Hütte und an der Pappel ist das Pferd angebunden und weidet in dem magern Gras so weit es ihm die Leine erlaubt. Der Knabe atmet auf und tritt zu dem Tier. Er tätschelt ihm den Hals, und wie es schnuppernd den Kopf hebt, erinnert er sich, daß er im Wirrwarr des heutigen Tages sein Brot vergessen hat. Er öffnet den Ranzen und nimmt das dunkle Brot und bricht es und reicht die Bissen dem Pferd. Das Tier drängt sich an ihn. Da streichelt er ihm noch einmal über die Nüstern und tätschelt ihm den Hals, und er sieht jetzt nicht mehr, daß es mager und alt ist. Die Blumen liegen neben dem Schulranzen. Was soll er nun mit ihnen tun? Soll er den Strauß neben der Feuerstelle liegen lassen, daß ihn das Mädchen sieht? Aber wer weiß, vielleicht entdeckt ihn die keifende Frau zuerst, und die wird ihn gewiß mit einem Tritt zertreten und beiseite schieben, seine, des Mädchens Blumen. Nein, das darf nicht geschehen. Er will sie heimnehmen und in ein Glas stellen und denken, er hätte sie dem Mädchen gegeben, und es hätte sich an ihnen gefreut und sie gehegt.


*

«So, heute kommst du einmal früh heim. Man kann also, wenn man will.»


«Guten Abend, Mutter!»


«Was, und einen Strauß hast du mir mitgebracht? Die schönen Schlüsselblumen! Das ist lieb von dir, Hans. Wußtest du denn, daß sie mir die liebsten sind?»


«Mutter.»


«Ich danke dir. Daß so ein großer Bub auch noch daran denkt.»


«Mutter.»


Sie fährt ihm über die Haare. «Du hast heiß. Bist du so gerannt? Sorge, daß du nicht in den Durchzug kommst. Komm in die Küche. Das Essen steht auf dem Herd.»


Die Mutter deckt den Tisch, dann stellt sie die Blumen in ein Glas. «Wie schön sie sind!»


«Ja, Mutter.»


In diesem Augenblick hören sie, wie der schwere Eisenring gegen die Haustüre poltert. Der Knabe springt auf, nicht weil er zuvorkommend und hilfsbereit sein will, aber er fühlt sich durch das Gespräch bedrückt und sieht eine Möglichkeit, dem Bedrängen zu entkommen. Er eilt zur Türe, und wie er sie öffnet, stéht das fremde Mädchen vor ihm.


«Du?» Mehr vermag er nicht zu sagen.


Da steht schon die Mutter neben ihm. «So, hast du den Schirm gebracht? Was kostet er?»


Das Mädchen gibt der Bäuerin den Schirm und nennt den Preis.


«So viel? Ihr werdet auch immer teurer.» Die Bäuerin kehrt in die Küche zurück.


«Sehe ich dich morgen wieder?»


«Wenn du kommst.»


Die Bäuerin ist mit einem Kessel zurückgekehrt. Sie gibt dem Mädchen das Geld. «Zähl es! Nicht daß du nachher sagst, ich hätte dir zu wenig gegeben.»


«Mutter!»


Die Frau achtet den Vorwurf nicht. «Und hier, den Kessel, den bringst du mir bis übermorgen wieder zurück. Bis übermorgen mittag, hörst du?»


«Ja.»


Das Mädchen beinelt flinkfüßig die Treppe hinunter.


«Worauf wartest du noch?» Die Bäuerin schließt die Türe und geht mit dem Knaben wieder in die Küche. Hans tritt unter das offene Fenster. Er sieht das Mädchen über den Platz eilen. Auf der Straße stehen die Zigeuner. Das Mädchen reicht den Kessel dem Vater. Jetzt gehen die drei die Straße hinauf. Da eilt aus dem Nachbarhaus eine Frau. Sie trägt einen Topf in der Hand und geht den dreien nach und deutet auf das Gefäß und redet eindringlich. Der Mann und die Frau bleiben stehen, und alsbald beginnt ein wüstes Geschimpfe.


«Iß du, sonst wird es kalt», sagte die Mutter und schließt das Fenster «Da hörst du es jetzt. Man kann froh sein, wenn das Pack wieder ein Dorf weiter ist und sie nichts mitlaufen lassen, die Heiden!»


«Mutter!»


«So, ich stelle sie jetzt auf den Tisch. Der Vater wird sich wundern.» Sie trägt die Blumen in die Stube. Dem Knaben ist, als sei auf einmal die Sonne ausgelöscht worden.


*

Hans liegt diese Nacht lange wach, und auch noch in Schlaf und Traum drängen sich die Geschehnisse des Tages. Immer wieder sieht er die Augen blitzen und das schwarze Haar um das braune Gesicht wehen und das rote Röcklein flattern. Es ist ihm wohl und wehe zugleich. Er möchte mitten in der Nacht hellauf singen, und im nächsten Augenblick würgt es ihn in der Kehle, wenn er daran denkt, daß das Mädchen eines Tages wieder fortzieht und er es vielleicht nie mehr, gar nie mehr sehen wird. Ist das nun die Liebe, von der die Großen, die Erwachsenen erzählen, von der die Dichter in ihren Büchern geschrieben haben? Er weiß es nicht. Er hofft nur, daß er das Mädchen morgen wieder treffen wird. Wie hat die Mutter gesagt? Sie seien Heiden. Nein, nein, das Mädchen ist gewiß kein Heide! Der Knabe hat seit langem nicht mehr gebetet. Aber jetzt flüstern seine Lippen:

«Lieber Gott, laß es keine Heidin sein!»


*

Am Morgen holt er sich aus dem Keller eine der großen Birnen, die im Herbst, wenn man sie pflückt, hart und ungenießbar sind, dann aber in der Kühle des festen Gemäuers gegen das Frühjahr zu einer wunderbaren Weichheit und Süße heranreifen. Er liest die schönste Frucht aus, und dann wandert er wiederum mit einem Lied durch das Dorf hinaus. Der Bauer steht unter der Stalltüre und nickt ihm zu. Er achtet den Gruß kaum, er sieht es auch nicht, daß nun an den Kirschbäumen über Nacht das Weiß aus der grünen Blütenhülle gebrochen ist. Sein Herz klopft, wie die Mühle vor ihm auftaucht. Der Rauch steigt in den schönen Morgen. Aber die Frau sitzt nicht am Feuer, und auch den Vater sieht er nirgends. Er hat Glück. Doch wo ist das Mädchen? Das rote Röcklein flattert nicht. Wird er es nicht sehen? Wird das Wunder heute nicht in seinen Tag treten? Er starrt nach dem Bach. Da hört er auf einmal ein leises Lachen hinter sich. Er dreht sich um und sieht das Mädchen vom Wagen her auf ihn zuspringen.


«Da bin ich.»


«Du?»


«Was hast du mir heute mitgebracht?»


Er gibt ihm die Birne.


«Oh!» Das Mädchen gräbt die weißen Zähne in das weiche Fleisch. «Die schmeckt!»


Aus dem Wagen ruft eine Stimme.


«Da!» Das Mädchen drückt dem Knaben ein Papierchen in die Hand. «Das schenk ich dir.» Und wirbelt davon.


«Wie heißest du?»


Das Mädchen hört die Frage nicht mehr. Hans sieht es in den Wagen klettern. Er sieht noch ein Restchen Rot, jetzt nichts mehr. Da wendet er sich langsam ab. Das Papier hält er in der Hand, er weiß es nicht. Erst wie er wieder stehen bleibt und zurückschaut und nur noch das schwarze Dach sieht, erinnert er sich und löst die Finger. Es ist ein schmutziges, zerknittertes Fetzchen. Darauf sieht er eine junge Frau,

die trägt ein kleines Kind auf dem Arm. «Die Mutter Gottes.» Er sieht den blauen Mantel und darunter leuchtet der rote Rock. Er denkt an das Flatterröcklein. Eine warme Freude überfällt ihn. «Eine Heidin ist sie nicht, Mutter.» Ehe er das Papier sorgfältig in die innerste Rocktasche schiebt, betrachtet er noch einmal aufmerksam das Bildchen. Dann setzt er seinen Weg fort, und obwohl er noch ein Stück weit steil bergan steigt, beginnt er wieder zu singen, und nun sieht er auch, daß die Kirschbäume sich zu blühen anschicken.


Heute sieht er das Mädchen nicht mehr. Der Wagen steht zwar noch neben der Mühle, wie er heimkehrt, und der Vater sitzt davor und flickt Kessel und Töpfe. Das Mädchen aber läßt sich nirgends erblicken. Es wird mit der Mutter im Dorf sein. Doch er hat das Bildchen, er hat ein Pfand, das es ihm geschenkt hat. «Das schenk ich dir.» Ja, so hat es gesagt. Er tastet nach der Tasche und spürt den Schatz, und ehe er die ersten Häuser erreicht hat, zieht er ihn noch einmal aus dem Versteck. Er späht darauf daheim immer wieder am Fenster, er eilt auf den Platz und auf die Straße, doch das rote Röckchen taucht nicht auf. So muß er mehr als einen Tag warten, mehr als einen vollen Tag, denn morgen ist schulfrei, und er hat vergessen, das dem Mädchen zu sagen. Wird es morgen wieder auf ihn warten? Was wird es denken, wenn er nicht kommt? Er sollte dies dem Mädchen noch zu wissen tun, aber er findet keinen Weg, denn am Abend spannt ihn die Mutter noch zu einer Arbeit ein, und nach dem Betzeitläuten läßt sie ihn nicht mehr aus dem Haus.


Am nächsten Tag sitzt Hans hinter Heften und Zeichnungen. Er muß eine Karte von Asien zeichnen, und einen Aufsatz sollte er auch noch schreiben, einen Aufsatz über den Frühling im Bauerndorf. Er überlegt sich und denkt an den Acker, der gepflügt wird, er denkt an das junge Gras und an die Kirschbäume, die blühen. Aber wie er schreiben will, sieht er wieder das rote Röcklein und den braunen schlanken Hals und die schwarzen Haare und die Augen, die blitzen wie feurige Kohlen. Er legt die Feder weg.


Beim Mittagessen sagt die Mutter: «Jetzt haben sie den Kessel noch nicht gebracht. Da sieht man, wie man sich auf die Leute verlassen kann!» Ob er ihn holen solle, fragt Hans und er hofft, die Mutter würde ihn schicken und er würde das Mädchen sehen. Er hängt an ihrem Mund. «Das fehlte sich noch, daß man dem Pack nachläuft! Die

sollen ihn nur bringen, wie es sich gehört.» Darauf hakt der Vater ein, er müsse mit ihm auf den Breitacker kommen, da sei Arbeit genug. Hans sagt kein Wort. Der Acker liegt weit ab, und der Weg führt nicht an der Gipsmühle vorbei.


*

Ein strahlender Morgen bricht an. Nun stehen die Kirschbäume im vollen Blust. Die Sonne legt ihr Licht auf das weiße Wunder. Hans singt ein Wanderlied. Er ist voller Glück. Er weiß es, heute wird er das Mädchen wieder sehen, nach zwei langen, leeren Tagen wird er es wieder sehen, seinen Schatz. Das kann gar nicht anders sein. Jetzt hat er die Wegbiegung erreicht. Er sieht die Mühle, aber er erschrickt ein wenig, weil kein Rauch in die Luft steigt. Er eilt weiter und findet den Platz verlassen. Die Feuerstelle ist leer. Zwischen den geschwärzten Steinen liegen in der Asche noch einige halbverkohlte Holzstücke. Der Wagen ist fort. Da sind im Gras noch die Räderspuren zu sehen. Auf dem Sträßchen aber haben sie keinen Abdruck hinterlassen. Der Knabe weiß nicht, in welcher Richtung die fremden Menschen weggezogen sind, die Zigeuner mit dem Mädchen, mit seinem Schatz. Es würgt ihn in der Kehle und er spürt, wie ihm die Augen naß werden. «Nein! Nein!» ruft er. Dabei faßt er nach der Rocktasche und zieht das Papier heraus. Das ist alles, dieses Fetzchen mit der Mutter Gottes im blauen Mantel und roten Rock. Er sieht nichts als das rote Röcklein, darin das schwarzbraune Barfußmädchen steckt.


Am Mittag schickt ihn der Lehrer nach Hause. Man sehe es ihm an, daß ihm nicht wohl sei, ob er Kopfschmerzen habe? O ja, Kopfschmerzen habe er schon. «So, dann geh heim und bleibe einen oder zwei Tage weg. Es wird schon bessern, Hans, du spürst eben den Frühling. Der macht den Alten und manchmal auch den Jungen zu schaffen.»


Der Knabe geht langsam durch den Wald. Er will nicht zu einer früheren Stunde heimkommen, sie sollen nichts merken. Das gehört alles ihm, ihm ganz allein. Am Waldrand, wo er die Schlüsselblumen gepflückt hat, setzt er sich an das Wegbord. Er legt sich ins Gras und sieht über den blauen Himmel eine weiße Wolke ziehen. Er folgt ihr, bis sie hinter dem dunkeln Waldberg verschwunden ist. «Ich müßte in dem Wolkenschiff sitzen und fahren. Vielleicht würde ich dann irgendwo, weit unten, vor einem Dorf, bei einer alten Mühle das Fuhrwerk entdecken. Ob ich wohl das rote Röcklein sehen könnte?» Er erwägt es, und darüber schläft er ein.


Wie er erwacht, erkennt er am Stand der Sonne, daß es die Stunde seiner Heimkehr ist. Er eilt den Weg hinunter. Bei der Mühle verläßt er das Sträßchen. Er geht rings um die Hütte, aber er weiß kaum, warum er das tut. Vielleicht hofft er, ein Zeichen seines Mädchens zu finden. — Es ist alles leer.


«Was ist mit dir, Hans?» fragt die Mutter. «Nichts, nichts.»


«Dann geh und iß. Es steht am gewohnten Ort.»


«Ich mag nichts, Mutter.»


«Und da sagst du, dass dir nichts fehlt?»


«Ich habe nur etwas Kopfschmerzen.»


«Hat es in der Schule etwas gegeben?»


«Nein, nein.»


«Willst du ins Bett?»


«Ja, Mutter.»


«Dann geh, ich mache dir nachher noch einen Umschlag. Was ich noch sagen wollte, sie sind in der Nacht auf und davon, und zwei Hühner haben sie mitlaufen lassen, das Heidenpack!» «Nein, Mutter, nein!»


«Ich werde sie wohl noch zählen können?» «Mutter!» schreit der Knabe und greift nach der Brust «Ist es so schlimm?» «Ja, ja.»


«Mußt keine Angst haben, Bub, es geht wieder vorbei.» «Mutter!»


Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1964

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