Autoren in Riehen Rosmarie Tscheer

Valentin Herzog

«Das ist mein Elternhaus.» Von einem der Büchertürme, die zusammen mit Bergen von Mappen und Zeitungen sowie einem kleinen Urwald von Topfpflanzen das schmale Wohnzimmer Im Hirshalm ausfüllen, hat Rosmarie Tscheer eine gerahmte Fotografie heruntergeholt, dem Besucher überreicht, der sich in diesem Dschungel aus Papier und Grünzeug als Eindringling fühlt und darum froh ist, seinen Blick auf Eindeutiges fixieren zu können, auf ein ländliches Kleinbürgerhaus mit Blumenrabatten und Veranda, Bäumen und Fabrikschlot im Hintergrund. Solche Häuser sind um die Jahrhundertwende überall gebaut worden. Dieses hier steht in Andelfingen (ZH). Rosmarie Tscheer, die ihr Geburtsjahr in einem Anflug von Koketterie verschweigt, gerät über dem Bild ins Schwärmen, erzählt von der Natur, die das Haus umgab, von Wiesen, Feldern, Pflanzen, einem idyllischen Schulweg. Menschen kommen in ihrem Bericht kaum vor; und wenn, dann allenfalls in Gestalt eines verständnislosen «Familienrates», der die Fünfzehnjährige nach dem Tod der Mutter zu einem traumatischen «Welschlandjahr» und anschliessend zu einer kaufmännischen Lehre verknurrte. In einem unveröffentlichten Gedicht charakterisiert sich Rosmarie Tscheer:

 

Schon als Kind nicht,

wie ich hätte sein sollen;

zu lebhaft für Hotelferien

mit Schwester und Tante,

zu eigenwillig, um zum Besuch der Kusinen

in die Stadt eingeladen zu werden,

zu versonnen und verschlossen,

um bei anderen Verwandten Interesse zu erregen...

Immerhin gelang es dem eigenwilligen Mädchen, die Lehre rasch abzubrechen. Da der Vater, Geometer von Beruf, mit den beiden Töchtern nach Zürich gezogen war, konnte Rosmarie Tscheer dort das Gymnasium besuchen. Um 1960 begann sie in Basel mit einem Romanistik-Studium, das durch den Tod ihres ersten Doktorvaters einen schwer zu verkraftenden Unterbruch erlitt, aber dann doch 1976 mit einer Dissertation über Guzman de Alfarache, den Titelhelden des bedeutendsten spanischen Schelmenromans, abgeschlossen werden konnte.

Nebenher machte Rosmarie Tscheer während dieser langen Studienjahre wichtige menschliche und berufliche Erfahrungen: als Dolmetscherin in Rom, als Lehrerin am (damals noch in der Kaserne untergebrachten) Gymnasium Bäumlihof - und vor allem während eines längeren Spanienaufenthaltes Mitte der 60er Jahre. Davon, dass dieses Land damals noch unter dem eisernen Zugriff der FrancoDiktatur stöhnte, hat Rosmarie Tscheer überhaupt nichts bemerkt. Sie beteuert, sie habe sich «nirgends so wohl gefühlt»: «Spanien war für mich eine Offenbarung.» Der Satz bezieht sich natürlich nicht auf den faschistischen Staat, sondern auf ein Idealspanien, in dem «Vergangenheit und Gegenwart eine grosse Einheit bilden», auf ein historisches Spanien der habsburgisch-christlichen Universalmonarchie, wo die Tochter einer streng protestantischen, auf hugenottische Abstammung stolzen Familie sich von der «Weite und Schönheit des mittelalterlichen spanischen Katholizismus» so faszinieren liess, dass sie daneben nichts anderes mehr wahrnahm. Schliesslich trat sie aus überzeugung zu diesem Glauben über.

Seit 1969 wohnt Rosmarie Tscheer in Riehen. Was sie für ihr zurückgezogenes und bescheidenes Leben braucht, verdient sie sich mit Privatstunden und einem Teilpensum an der Berufsmittelschule Muttenz. Sie liebt diese Art der Erwerbstätigkeit, weil ihr dabei die nötige Freiheit bleibt für ihre literarische Arbeit. Diese erstreckt sich auf drei Bereiche, die der Autorin alle gleich wichtig sind: In verschiedenen Zeitschriften, vor allem in der (katholischen) «Schweizerischen Kirchenzeitung», publiziert sie Buchbesprechungen und Aufsätze, welche sich vorwiegend mit Persönlichkeiten und Werken des spanischen Goldenen Zeitalters (wie Ignatius von Loyola, Teresa von Avila u. a.) befassen, ferner mit Gestalten wie Georges Bernanos und Paul Claudel.

Bedeutenden Raum in ihrer Arbeit nimmt ihre Tätigkeit als übersetzerin (aus der spanischen, italienischen, portugiesischen, französischen, englischen und lateinischen Sprache) ein. Rosmarie Tscheer ist überzeugt, mit ihrer schon vor mehr als zehn Jahren abgeschlossenen übertragung von Calderön de la Barcas «Welttheater» ein ganz neues Bild von Calderön vermittelt zu haben: «Ich habe eine besondere Gabe fürs übersetzen, aber sie ist öffentlich noch nicht zur Kenntnis genommen worden. Ich habe eben keine guten Beziehungen.» Das tönt sehr selbstbewusst. Immerhin kann Rosmarie Tscheer sich auf eine Rezension der «Schweizerischen Kirchenzeitung» berufen, in der ihre lyrischen übertragungen folgendermassen gewürdigt werden: «So und nicht anders müssten die Originale übersetzt werden.»

Nüchtern urteilt sie über ihre eigene Lyrik: «Ich erwarte nicht, dass alle Leute meine Gedichte schön finden.» Vier schmale Gedichtbände hat Rosmarie Tscheer bisher publiziert; ihre Texte formulieren mitmenschliche Beobachtungen, melancholische Lebenserfahrungen und christliche, katholische, dabei nicht unkritische Reflexionen. Formale Glätte wird ebensowenig angestrebt wie verführerische Klangschönheit; mehr als der reinen Metapher traut Rosmarie Tscheer dem handfesten Vergleich, dem traditionellen Symbol; nicht wenige Gedichte könnten, typografisch anders gestaltet, auch als schlichte Aphorismen passieren; gelegentlich blühen leuchtende Bilder auf («nach einem farbkräftigen Herbst/ voll transparenter Wehmut»). Ihr lyrisches Glaubensbekenntnis hat Rosmarie Tscheer in einem autobiografischen Text aus dem Jahr 1985 formuliert: «Ich bin der Ansicht, dass der Dichter stellvertretend für eine grosse Anzahl unbekannter Menschen schreibt und solchermassen ihr Sprachrohr ist.»

 

Wörter bilden

Aus Lauten Wörter bilden,

aus Wörtern Sätze formen,

wie Ballone aufsteigen,

da und dorthin fliegen lassen:

 

Botschaften

von Mensch zu Mensch.

 

Wie hält ein Mensch das aus, allein und am Rande des Existenzminimums zusammen mit einer scheuen Tigerkatze in einer von Büchern verstopften Wohnung zu leben, einige Schulstunden zu geben, von Zeit zu Zeit einen Vortrag zu halten, gelegentlich einen Artikel, alle paar Jahre ein zentimeterdünnes Gedichtbändchen zu publizieren...? Was treibt einen solchen Menschen? Religiöse überzeugung? Sendungsbewusstsein? Mitgefühl für die lebendige Kreatur («für Tiere ginge ich auch heute noch auf die Barrikaden...»)? Ich glaube, die Antwort liegt woanders. Ganz beiläufig ist da einmal der Satz gefallen: «Ich schreibe Gedichte wie unter Diktat.» Wenn ich um eine Erklärung bitte, erzählt Rosmarie Tscheer: Am Morgen der Sandoz-Katastrophe, am 1. November 1986 also, habe sie sofort das Gefühl gehabt: «Ich muss das schreiben.» Einen ganzen Monat habe sie dann die Thema tlk mit sich herumgetragen, bis sie am Abend des 5. Dezember gewusst habe, dass es jetzt soweit sei. Sie habe darum sogar einen Konzertbesuch abgesagt, Schreibzeug neben ihrem Bett zurechtgelegt. «Und dann am Morgen des 6. Dezember habe ich das Gedicht geschrieben, in einem Zug und ohne am Anfang zu wissen, wie der Schluss herauskommt... Ich musste meine Erschütterung loswerden.»

So ist das Gedicht «Advent 1986» entstanden.

Advent 1986

Wie Geschiebe, wie Geröll

das vom Fluss mitgerissen wird,

werden wir herumgestossen,

ab und zu brüsk ans Ufer geworfen

und liegengelassen wie Findlinge

in einer fremden Landschaft.

Vorbei ist der fröhliche Wellentanz

wie für die toten Fische,

die aus dem leblosen Fluss entfernt werden.

Was wird mit uns geschehen,

die wir mutlos und geschunden

wie abgewetzte Schiefersteine sind?

Wird es endlich einen neuen Himmel

und eine neue Erde geben,

aus der Blumen und Kräuter hervorspriessen

in reicher Fülle,

auf der wir leben und wirken können

ohne Furcht vor Krieg,

 

vor vielfältiger Zerstörung,

vor Missgunst,

vor allen Formen der Boshaftigkeit,

ohne Furcht vor friedlosen Nachbarn,

eine Erde, auf der wir atmen können

in Frieden und Freude?

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1987

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