Bewegte Geschichte

Wolf Südbeck-Baur

«Goldene Hochzeit» feierte 2004 in Riehen der Verein für christliche Lebenshilfe, die «Offene Tür». Von den Anfängen in der Strafentlassenen-Arbeit bis zu den heutigen Hausgemeinschaften war es ein langer, zuweilen steiniger Weg.

 

Die «Offene Tür», der christliche Verein für Lebenshilfe, konnte im vergangenen Jahr sein 50-jähriges Bestehen feiern. Mit einigem Stolz und grossem Dank gegenüber Gott, «dem Geber aller guten Gaben», wie Präsident Raymond Dutoit sagt, kann die Offene Tür (OT), die Mitglied der Schweizerischen Evangelischen Allianz ist, auf eine bewegte Geschichte zurückschauen. Schwerpunkte der heutigen 0TArbeit sind die diakonische Wohngemeinschaft «Ensemble» im Riehener Fischerhus, die Hausgemeinschaft «Sunnehus», der Jugendtreff «Go-In» und die Fischerhus-Schreinerei mit der Ausbildung von Lehrlingen.

 

Beschaulich schön renoviert liegt das Fischerhus an der Baselstrasse in Riehen. Wer den Kopfstein gepflasterten Vorhof dieses alten Gemäuers betritt, taucht ein in eine beinahe idyllische Ruhe, in der das Vogelgezwitscher den nur noch leise rauschenden Verkehr deutlich übertönt. Im Innern des 1775 erbauten Hauses, in dem seit 2000 die diakonische Wohngemeinschaft «Ensemble» beheimatet ist, fällt im Flur an der Pinwand ein grosses Plakat ins Auge mit Hinweisen auf «Livenet.ch», ein Internetportal evangelikal orientierter Christen. «Die Teilnahme an unseren Gebetsund Gesprächsangeboten ist für die Hausbewohner - derzeit sind es elf - nicht obligatorisch, sondern freiwillig», erklärt Pfarrer Thomas Widmer. Er leitet die diakonische Hausgemeinschaft zusammen mit seiner Frau Irene. Die nötigen Fähigkeiten habe sich der studierte reformierte Theologe «learning by doing» während seines vollzeitlichen Engagements bei der OT erworben. Seit 1995 wirkte er vor allem in der vom christlichen Verein für Lebenhilfe OT betriebenen Drogenentzugsstation Sunnehus in Basel mit. Ebenfalls 1995 gründete Widmer mit seiner Frau, ausgebildete Gemeindediakonin und zurzeit in einer Zusatzausbildung zum «GewaltKrisen-Trauma-Coach», eine Wohngemeinschaft in Basel, die nach dem Umzug von Widmers nach Riehen heute von einer anderen Institution geführt wird. Heute liegt der Schwerpunkt der OT neben dem christlichen Jugendtreff «Go-in» bei Wohnprojekten mit Begleitangebot, wie sie seit 2003 im Riehener Sunnehus und seit 2000 im Riehener Fischerhus realisiert werden. Geprägt sind diese Hausgemeinschaften von einem gemeinschaftlichen Lebensstil.

Jesuanische Wurzeln Das gemeinsame Leben hat für die Familie Widmer, die mit ihren drei Kindern das Nebenhaus des Fischerhus bewohnt, jesuanische Wurzeln. «In der Urgemeinde pflegten die Gläubigen einen gemeinschaftlichen Lebensstil», sagt Widmer. Jesu Gemeinschaft mit seinem Jüngerkreis könne auch heute noch inspirieren. Auf diesen Spuren Jesu ist der Pfarrer mit seiner Familie unterwegs und plädiert «mit vielen anderen, die diese Lebensqualität nicht missen möchten, für einen gemeinschaftlichen Lebensstil». Diesen Stil versuchen die Widmers mit der begleiteten diakonischen Wohngemeinschaft im Fischerhus sowie auch der gesamte Verein Offene Tür umzusetzen. In diesem Sinne leben im «Ensemble» 17 Personen zwischen sechs und 45 Jahren zusammen, acht Bewohner/innen zwischen 18 und 34 Jahren sind in Ausbildung oder voll berufstätig, vier Personen mit Wohnbegleitung haben einen geschützten Arbeitsplatz mit einem Pensum zwischen 50 und 100 Prozent. Es gehe darum, erklärt Widmer, «Menschen in ihren suchtspezifischen, psychischen und sozialen Nöten mit Lebenshilfe-Angeboten dienend beizustehen und in die Gemeinschaft zu integrieren».

So begleiten die Widmers derzeit insbesondere vier Bewohner, die psychisch gestützt und gefördert werden müssen. Von diesen wohnt ein Mitglied der Hausgemeinschaft im Quartier. Acht Fischerhüsler sind in Ausbildung oder berufstätig. Den vier Bewohnern, die begleitet werden, ist gemeinsam, dass sie persönlich schwierige, psychisch belastende Zeiten erlebten, sei es wegen Drogen- oder Alkoholsucht, sei es wegen Arbeitslosigkeit oder massiver familiärer Probleme. Um diesen Problemen wirksam zu begegnen, sei es notwendig, erklärt der Hausleiter, gewisse Hausregeln einzuhalten. Diese Regeln reichen von der Mitarbeit beim Küchen- und Kochdienst bis hin zum strikten Verbot, Drogen oder Alkohol im Haus zu konsumieren. Auf diese Hausregeln verpflichtet sich jeder und jede, bevor sie in die begleitete WG aufgenommen werden. über die Aufnahme entscheidet das Leiterpaar, die übrigen Bewohner haben ein Mitspracherecht.

Mit dem gemeinschaftlichen Leben in der Wohngemeinschaft Fischerhus inklusiv der Wohnbegleitung für Einzelne verfolgt der Verein Offene Tür mit ihrem Leiterpaar Widmer heute ein diakonisches Konzept, bei dem die heilenden Chancen und Möglichkeiten durch gegenseitige Unterstützung der Hausbewohner und Hausbewohnerinnen zum Tragen kommen sollen. «Uns ist es wichtig», erklärt Pfr. Thomas Widmer, «die Mitbewohner in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu fördern und sie zu ermutigen, ihr Potenzial kennen zu lernen und für die Mitmenschen einzusetzen.» Gleiches gilt fürs Sunnehus.

Dass dies zumindest in der Wahrnehmung der Hausbewohnerschaft des Ensembles in weiten Teilen zu gelingen scheint, schreibt eine namentlich nicht genannte Frau im Rundbrief der Offenen Tür 2004. Wörtlich heisst es: «Ich schätze das Miteinander in der WG, den Austausch, und dass ich nicht allein lebe. Hier lerne ich, Konflikte auszutragen. (...) Die wöchentlichen Gespräche mit Irene Widmer sind für mich wohltuend. Ich spüre Barmherzigkeit und Wärme. Ich merke, dass mir jemand zuhört und mich zu verstehen versucht.» Die christlich-religiöse Dimension beschreibt die Ensemble-Bewohnerin so: «Ich schätze das gemeinsame Gebet. Wir fragen Jesus, was heute dran ist, und lassen uns leiten. Ich bin eine stärkere Persönlichkeit geworden. Gott hat mich beschenkt.»

Jugendarbeit im «Go-In»

Seit 1984 führt die Offene Tür in Riehen die FischerhusSchreinerei, die unter der Leitung von Schreinermeister Ernst Kipfer im Zuge der Drogenarbeit entstanden war. Heute werden unter der Leitung von Gabriel Krettenauer junge Männer ausgebildet, die etwa nach dem Abbruch einer anderen Lehre in der Schreinerei eine neue Chance erhalten. 1995 wurde gegenüber dem Fischerhus als Arbeitsbereich der Lebens- und Therapiegemeinschaft der Bücher- und Geschenkladen Fischerhus-Lädeli eröffnet: «Das Lädeli will weiterhin ein Fenster gegen aussen für die Offene Tür sein», schreibt Leiterin Ursi Mühlberger in der Jubiläumsschrift.

Ein weiterer wichtiger Bereich des Engagements des Vereins Offene Tür «ist der christliche Jugendtreff Go-In», betont Raymond Dutoit. Der pensionierte frühere Coop-Personalchef präsidiert den Verein seit 1987. Der 72-Jährige betont, dass das Go-In für alle jungen Leute von 13 bis 18 Jahren offen sei. «Wir wollen einen Ort anbieten, wo Jugendliche gerne hinkommen, und wir wünschen, dass gute Gemeinschaft gepflegt wird, im Gespräch und im Spiel.» Sichtlich zufrieden mit der Arbeit des Leiterteams um Vera Marti und Michael Kilchenmann berichtet Dutoit von der Talentshow, die diesen Sommer in der Bettinger Badi mit grosser Resonanz über die Bühne ging. Da wurde getrommelt und gerappt, gesungen und Theater gespielt. «Wir wollen die Jugendlichen», erläutert Vereinspräsident Dutoit, «jenseits von Nikotin, Alkohol und Drogen in ihrer Zeit der Selbstfindung und Sinnfmdung mit Gesprächsangeboten unterstützen.» Für interessierte Jugendliche wurde mit dem so genannten Alphalivekurs ein Glaubensgrundkurs angeboten, aus dem inzwischen die Jugendgruppe «Go-on» entstanden ist. Bei diesen «Go-on»-Treffen stehen Lebensfragen rund um den Glauben im Zentrum - selbstverständlich auf der Basis einer evangelikal-charismatischen Frömmigkeit.

Kritisch merkte der «aufbrach», Zeitung für Religion und Gesellschaft, zu den Alphalivekursen kürzlich an: «So sehr der Kurs mit seinem erlebniszentrierten Ansatz didaktisch auf der Höhe der Zeit ist, so dürftig und vorgestrig kommt er auf der inhaltlich-theologischen Ebene daher.» Die Kurse seien im Prinzip einem voraufklärerischen Ansatz verpflichtet, «als könne man die Bibel eins zu eins als Wort Gottes lesen».

Am Anfang stehen ehemalige Häftlinge Für Rosemarie Tramèr, 76-jährige Tochter der OT-Gränder Rahel und Richard Sallmann und langjährige Vizepräsidentin des Vereins, steht heute die christliche Diakonie der Offenen Tür im Mittelpunkt. Dabei versteht sie Diakonie als «Know-how, praktische und soziale Hilfe, dienen, trösten und aufrichten». Mit dem einfühlsamen Charme des Alters ergänzt die rüstige ehemalige Krankenschwester und Heil pädagogin überzeugt, Diakonie sei zugleich aber mehr: «Sie meint die ganze Breite der Jüngerschaft: sehen, merken, unterscheiden, warnen, rufen, Wächter sein, eine vernehmbare Stimme haben, sich exponieren, Lügen aufdecken.» Ohne dieses Engagement, getragen im Geist des Glaubens und der Hoffnung, hätten ihre Eltern damals den Aufbruch hinaus aus Basel aufs Land, auf den Sonnenhof in Gelterkinden, nicht geschafft, lässt Rosemarie Tramèr ihre Gedanken in die Gründungszeit zurückfliegen. Die Sallmanns gründeten 1941 in Gelterkinden den Sonnenhof «als Heimstätte für Strafentlassene Männer». Bis zum Verkauf des Hauses 1953 lebten 120 ehemalige Häftlinge auf dem Sonnenhof. «Immer wieder ereignete sich», so Rosemarie Tramèr, «was nur Gottes Heiliger Geist bewirken kann, dass aus Bruchstücken eines elenden, zerrütteten Lebens das Bild eines geheilten, neuen Menschen anfing, Gestalt anzunehmen». Von Anfang an war es die «innere Schau der Sallmanns, dass aus dem Zusammenleben von Familie, Mitarbeitern und hilfesuchenden Strafentlassenen in der Kraft Gottes und durch sein Wirken eine tragende, helfende, heilende Gemeinschaft wachsen müsste».

Dieser Gedanke beseelte denn auch 1954 die Gründung des Vereins Offene Tür in Basel. Der Chemiker Dr. Richard Sallmann übernimmt das Präsidium, die treibende Kraft aber war Rahel Sallmann, wie Rosemarie Tramèr betont. Ein Gönnerkreis wird aufgebaut. Die jährlichen Bazare, die ohne die tatkräftige Mitarbeit insbesondere der Vereinsfrauen nicht hätten gedeihen können, wie Tramèr unterstreicht, Hessen stetig Finanzmittel in die Vereinskasse der OT fliessen.

Ein Höhepunkt war es immer wieder, wenn ein Haus gekauft und für die OT-Arbeit eingerichtet werden konnte.

Zu den weiteren Meilensteinen der 50-jährigen Geschichte der Offenen Tür zählt Thomas Widmer folgende Ereignisse: 1977 wird das Sonnenheim Basel vom Kanton als übergangsheim für Gefangene in Halbfreiheit anerkannt; 1984 eröffnet die OT unter Leitung von Pfr. Christoph Meister und Schreinermeister Ernst Kipfer und ihren Frauen im Riehener Fischerhus eine Lebens- und Therapiegemeinschaft zur Rehabilitation von drogensüchtigen Männern; 1991 wird das schweizerische Gefangenenhilfswerk Prison Fellowship Switzerland gegründet mit OT-Mitarbeiter Fritz Block als Geschäftsführer; 1994 eröffnet die OT die christlich-therapeutische Drogenentzugsstation Sunnehus in Basel; 1996 erfolgt der Erwerb und Umbau des ehemaligen Restaurants Warteck, in dem seit 1998 der Jugendtreff Go-In wohnt, seit 2003 zudem die Hausgemeinschaft Sunnehus mit Regin und Michael Seiinger als Leiterpaar.

Riehener OT-Entzugsstation Sunnehus. Rückblickend resümiert OT-Präsident Raymond Dutoit: «In der Drogenarbeit mussten wir schmerzlich lernen und einsehen, dass wir mit unserem christlichen, abstinenzorientierten Therapiekonzept nicht das Allheilmittel gegen Drogenkonsum und -sucht gefunden haben. Mühsam nur lernten wir, im politischen Engagement für eine vernünftige Drogenpolitik mit anderen Gruppierungen zusammenzuarbeiten.» Bei künftigen auf einzelne Sachfragen beschränkten Aktivitäten wolle die OT verstärkt mit anderen politischen Kräften zusammenspannen, sagt Dutoit. Welche Bereiche das sind, werde die Zukunft zeigen.

Drogentherapiekonzept war kein Allheilmittel

Augenscheinlich in der Geschichte des OT ist der Ausstieg aus der Drogenarbeit. In der Jubiläumsschrift wird die Schliessung der Therapiestation Fischerhus 2000 begründet mit der «gesamtschweizerischen Krise und Liberalisierung in der Drogenpolitik». Die Nachfrage nach «abstinenzorientierten Therapieplätzen» sank, die Finanzierung wurde ein grosses Problem. Dies führte 2002 auch zur Schliessung der

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2005

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