Der falsche Blickwinkel

Fritz Weissenberger

Mit umgehängtem Fotoapparat verliess ich unser Haus und wandte mich dem Dorfkern zu. Nach kurzer Landesabwesenheit wollte ich sehen, was sich in dieser Zeitspanne in unserem Dorf verändert hatte. Ausserdem war ich gewillt, meinen Bekannten in England, wo wir uns für eine bestimmte Zeit niedergelassen haben, einige Fotos mitzubringen. Ich hatte mir deshalb vorgenommen, das typische Bild Riehens mit der Kamera festzuhalten.

Bedacht auf solche Schnappschüsse schlenderte ich am Polizeiposten vorbei dem Dorfzentrum zu. Das Verkehrslicht beim Ochsenbrunnen stand für die Fussgänger auf rot.

«Heisst dieser alte ehrwürdige Brunnen eigentlich noch so?» fragte ich mich, während sich von der Grenze her ein Tramzug näherte. Je mehr sich die Strassenbahn der Kreuzung näherte, desto röter erschien mir das Männchen in der Verkehrsampel. Jetzt besann ich mich darauf, in England noch nie eine Strassenbahn gesehen zu haben. Klick! Die Engländer werden dieses Bild mit der Bahn auf der Strasse vielleicht belächeln. Aber was macht das schon, auch für uns wirkt das Ungewohnte manchmal komisch. Typisch für Riehen kann dieses Bild allerdings nicht sein.

Ein Stoss der hinter mir wartenden Fussgänger liess mich aus meinen Gedanken erwachen. Das rote Männchen war tatsächlich verschwunden, ohne dass ich davon Notiz genommen hatte. Vom Strom der einkaufenden Männer und Frauen wurde ich in die Schmiedgasse gezogen. Beim prächtigen Blumenarrangement am Webergässchen blieb ich stehen.

Aus dem ehemaligen Gässchen ist eine richtige Allee geworden. Es schien mir, als habe der nun fertig erstellte Cenci-Neubau den kleinen Verbindungsweg endgültig zur Geschäftsstrasse gemacht. Die beiden Eckhäuser, an der Rössligasse zur einen und an der Schmiedgasse zur andern Seite, sind die einzigen überbleibsel, die nun von den grossen Geschäftshäusern fast erdrückt werden. Der alte Bauernhof an der Rössligasse, der diese Bauepoche überlebt hat, wirkt fast wie ein Denkmal aus vergangener Zeit. Dabei ist es noch nicht einmal 30 Jahre her, als sich beidseits im Webergässchen ein ähnliches Bild bot.

Die schönen und freundlichen Ladengeschäfte brauchte ich nicht zu fotografieren, da die feinen, aber oft wesentlichen Unterschiede zu den englischen Shops nicht sichtbar werden. Die Sauberkeit und erlesene Auswahl im Sortiment konnte ich ja nicht aufs Bild bringen.

 

Deshalb versuchte ich aus dem Einkaufsgewimmel zu kommen und begab mich auf den fast menschenleeren Platz vor dem Gemeindehaus. Von dieser stillen Warte aus konnte ich den Trubel aus Distanz beobachten.

Parkplatz suchende Väter fuhren mit dem Auto im Kreis herum, während die Mütter und Kinder schwere überquellende Taschen, Körbe und Papiersäcke herbeischleppten. Es war ja schliesslich auch Gründonnerstag. Obwohl das Radio wieder die übliche Osterbotschaft über die unvermeidliche Walenseeschlange verkündet hatte, schien es mir, dass viele Leute lieber in der trauten Heimat bleiben wollten.

Dann aber kehrte ich dem Einkaufsrummel endgültig den Rücken und betrachtete mir das Gemeindehaus. Schon oft war ich in- und ausserhalb dieses Riehener Rathauses. Nun musste ich mir aber eingestehen, dass ich das Gebäude noch nie richtig betrachtet hatte, und bannte es schnell auf den Film. Im Weitergehen überlegte ich mir, ob dieses Bild unsere Gemeinde «typisch» repräsentieren kann?

Hinter dem Gemeindehaus setzte ich mich auf die Mauer, die den Parkplatz vom Grünpark abtrennt. Hier besann ich mich, dass dieser Parkanteil der einzige verbliebene Rest der ehemaligen Taubstummenanstalt darstellt.

Ich erinnerte mich an die feierlichen 1. August-Feiern und an die herbstlichen Winzerfeste, die in diesem Park durchgeführt wurden. Da wurde jeweils eine kleine Holzbühne aufgebaut, und wir durften als Jugendriegler der versammelten Dorfgemeinde die gut einstudierten Pyramiden vorzeigen.

Verlassen lag der gepflegte Parkrest vor meinen Augen. Schade, dass die prächtig blühenden Rhododendron von den vorbeihetzenden Leuten kaum beachtet wurden.

Mein Blick schweifte dann über den Parkplatz hinweg zu den alten Riegelbauten neben dem Landgasthof. «Werden diese noch stehen, wenn wir wieder nach Riehen zurückkommen?» fragte ich mich, während ich durch den Sucher meiner Kamera den günstigsten Blickwinkel fand.

Immer noch suchte ich das typische Bild Riehens und begann langsam zu befürchten, dass ich dieses nicht finden könnte. «Irgendwo muss doch Riehen seine Eigenart haben?» murmelte ich in mich hinein.

Nun beobachtete ich die spielenden Kinder auf der Spielecke des Gemeindeparks. Das Plätschern des Springbrunnens wurde durch die frohen Kinderstimmen übertönt. Dann stand ich plötzlich vor dem neuen grossen Postkomplex. Unseren Kindern werden wir eines Tages erklären müssen, woher der Name Bahnhofstrasse stammt, denn von der Bahnstation ist nichts mehr zu sehen.

Während ich am Postgebäude vorbeiging, verglich ich die hellen Schalterund Büroräume mit dem Post Office unserer, etwa gleich grossen, englischen Wohngemeinde, das ungefähr die Grösse eines Wohnzimmers aufweist. Klick! Aber natürlich wird auch dieses Bild mit Riehen nichts zu tun haben, sondern gibt eher den hohen Stand der schweizerischen Baukultur wieder.

Nun stand ich vor dem gediegenen Abgang zur Wiesentalbahnunterführung. «Diese aussergewöhnliche Gestaltung einer einfachen Fussgängerunterführung ist wohl typisch für Riehens Sinn fürs Detail, aber das Bild Riehens wird auch dieses Foto nicht repräsentieren können», dachte ich beim Anblick der fast künstlerischen Bepflanzung.

Aus dem hell erleuchteten Tunnel trat ich wieder ans Tageslicht und schaute mich um. Mitten in der kleinen Anlage stand ein Metallgerüst, das mir völlig unbekannt war. Doch dann erinnerte ich mich, in der Riehener Zeitung von einem Kuh-Kunstwerk gelesen zu haben. «Es soll irgend etwas mit Nostalgie zu tun haben?» grübelte ich in meinen Erinnerungen an diesen Artikel und zückte auch hier meine Kamera. Beim genaueren Betrachten dieses scheinbar so berühmten Kunstwerkes konnte ich wohl eine Kuh erkennen, mit Nostalgie hingegen konnte ich mit dem besten Willen keinen Zusammenhang finden. Wahrscheinlich habe ich nicht die kunstverständigen Augen dazu. Mir jedenfalls gefallen einige der Riehener Brunnenfiguren besser als dieses Kunstwerk.

In Richtung Moos setzte ich meinen Weg fort. Als ich am Moosweg vorbeiging, stellte ich fest, dass dort eine rege Bautätigkeit ausgebrochen ist.

Nun verlängerte ich meinen Schritt und stieg bergan. Beim Scheibenstand setzte ich mich unter einen blühenden Kirschbaum. Der Verkehrslärm vom Dorf her war kaum noch zu hören. Um so angenehmer war das leise Summen der Bienen, die die weissen Blüten umschwärmten. Schnell eine Aufnahme!

«Blühende Kirschbäume, das Wahrzeichen Riehens?» überlegte ich mir, immer noch auf der Suche nach einem bestimmten Motiv. Die Hektik des Dorflebens liegt so nahe beim erholsamen ländlichen Leben hier oben, wo nun plötzlich das Jagdhorn des Wildhüters zu hören war.

Nur die Ameisen, deren Bau ich mit den Schuhen unbewusst zertrampelt hatte, vergönnten mir diese Ruhepause und begannen in Scharen an meinen Beinen herauf zu krabbeln. Wütend sprang ich auf, schüttelte die «Störenfriede» ab und setzte meinen Weg fort. In Gedanken ging ich nochmals durchs Dorf und überlegte mir, ob ich etwas übersehen hätte. «Der Meierhof zum Beispiel, oder das Wettsteinhaus, hätten nicht diese beiden restaurierten Baudenkmäler das Bild unseres Dorfes als typisch wiedergegeben?»

Am Waldrand beim Nollenbrunnen drehte ich mich erneut um und blickte über die weissblühenden Kirschbäume hinweg ins Tal. Das Grün der Bäume und Sträucher verschluckte die vielen Häuser des Dorfes fast vollständig. Nur wenige überragende Gebäude, Dächer und Türme schauten aus dem grünen Laub hervor.

«Ist dies etwa das typische Bild Riehens? Ist das Wahrzeichen dieser Gemeinde sein prächtiger Grünbestand? Zeigt sich vielleicht gerade aus dieser Sicht der eigentliche Charakter?» fragte ich mich, während mein Blick übers Dorf hinweg ins benachbarte Elsass wanderte.

«Oder ist etwa das Typische an Riehen, dass es gar nicht typisch ist? Blödsinn!» Solche unsinnigen Gedanken gingen mir durch den Kopf, und je länger ich darüber nachdachte, je mehr kam mir zum Bewusstsein, dass sich das Gesuchte gar nicht bildlich festhalten lässt. Plötzlich wurde mir klar, dass ich versucht hatte, das Gefühl der Verbundenheit zur Heimat, mit all seinen Erinnerungen und Jugenderlebnissen, mit der Kamera festzuhalten. Das typische Bild Riehens konnte ich natürlich aus diesem Blickwinkel nicht finden.

Mit dieser Erkenntnis setzte ich gelassen meinen Weg fort, liess den Fotoapparat für den Rest des Weges umgehängt und nahm mir vor, die gemachten Photos nur für mich selbst zu verwenden.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1978

zum Jahrbuch 1978