Die Familie Löliger von Riehen

Michael Raith

Im Protokoll des Kleinen Rates, der damaligen Basler Regierung, findet sich unter dem 10. April 1728 folgender Eintrag: «Marx Löliger von Brattelen wird burger zu Riehen: Memoriale von Riehen zeigt an, welcher massen Marx Löliger von Bratteln, der das Schumacher handwerck zu Riehen erlernet und sich mit Anna Maria David, Rudolf Davids von dar Dochter verheyrathet, nun zu einem burger in ernanntem Riehen angenommen zu werden verlangte; Es widersetze sich aber diesem begehren dortige gemeind, mit dem vorgeben, dass sie mit burgern überhaüfet, absonderlich aber mit Schumachern genugsam versehen seyen; Marx Löhliger wiederholet darauf sein ansuchen um das Burgerrecht zu Riehen, es bittet aber nicht nur dortige Gemeind, sondern absonderlich die Zehen da wohnende Schumacher, ihn abzuweisen; ://: Solle dieser Marx Löliger zu einem burger von Riehen gegen die gebühr angenommen werden.»

So kam die Gemeinde Riehen gegen ihren Willen zu einem neuen Geschlecht, aus dem später einige bemerkenswerte Persönlichkeiten hervorgehen sollten. Woher kam die Familie? Der Name Löliger — auch Löhliger, Lölinger, Löhlein geschrieben — taucht in verschiedenen Gegenden des südlichen deutschen Sprachgebietes schon im ausgehenden Mittelalter (z. B. 1248), als die Familiennamen nach und nach entstanden, auf. Seine Wurzel ist das Wort «Loh» (= Gehölz), ein Löliger ist also jemand, der beim Gehölz wohnt.

Die historisch fassbaren Anfänge unserer Familie Löliger finden sich um 1500 im fürstbischöflich-baslerischen Reinach. Vermutlich standen die Löliger dort im Ansehen, denn Petter Löllinger ist 1558 bis 1562 als Meier bezeugt. Die Geschicke Reinachs zur Reformations- und Gegenreformationszeit haben dann zur Auswanderung der Löliger aus dieser Gemeinde geführt: bereits 1525 hielt der ehemalige Augustinermönch Markus Heiland reformierten Gottesdienst in Reinach. Der energische Bischof Jakob Blarer von Wartensee setzte aber siebzig Jahre später die Messe durch: sie wurde am 27. August 1595 erstmals wieder gelesen. Reinach blieb ein katholisches Dorf.

Kurz darauf, nämlich am 20. November 1596, erhielt Hans Lölinger von Reinach durch den Basler Rat die Bewilligung, sich in Pratteln niederzulassen. Die Löliger hatten sich der Gegenreformation entzogen: die Familie besteht in Reinach nicht mehr, ist aber im benachbarten Münchenstein — dort allerdings Loeliger geschrieben — verbürgert. Auch in Pratteln entwikkelten sich die Löliger zu einem ansehnlichen Geschlecht, dessen heute bekanntester Vertreter der Lehrer Ernst Löliger (* 1911), bis 1975 freisinniges Mitglied des basellandschaftlichen Regierungsrates, ist.

Wie kamen die Löliger von Pratteln nach Riehen? Bis zum Bau der Eisenbahnen gab es nur eine praktische Möglichkeit, vom einen Dorf ins andere zu gelangen, nämlich den Fussmarsch, der für diese Strecke ungefähr drei Stunden in Anspruch nahm. Ein direkter Sichtkontakt besteht jedoch zwischen St. Chrischona und Pratteln. Und so findet sich auch die erste Erwähnung des Namens Löliger in Bettingen: Maria Löliger von Pratteln (1671 — 1737) heiratete 1699 in der Riehener Dorfkirche Hans Krebs von Bettingen (1668—1743). Vielleicht waren es Besuche bei dieser Bettinger Tante, die eine Generation später ein Prattler Geschwisterpaar zur Auswanderung nach Riehen bewegten.

Die Untertanen der Stadt Basel konnten sich im Kantonsgebiet relativ frei niederlassen. In den Erwerb eines Bürgerrechts redeten — wie wir gesehen haben — die «Gnädigen Herren» allerdings hinein. Das kleine Basler Staatswesen war überschaubar und wurde im 18. Jahrhundert in absolutistischer Weise regiert, das heisst, die Regierung kümmerte sich um jede Kleinigkeit.

Der von Reinach nach Pratteln gezogene Hans Lölinger besass einen Sohn gleichen Namens, dieser wurde Vater von 18 Kindern. Das neunte von ihnen war der spätere Schneider Jörg Lölinger (* 1636), dessen Frau Anna geborene Burckard (1644—1694) wieder zehn Kindern das Leben schenkte. Eines dieser Kinder hiess Friedrich Loelicker und wurde zum Ahn des erwähnten Regierungsrates, ein zweites war die oben genannte Frau Krebs-Löliger in Bettingen und ein drittes der «Tambour-Major» Hans Georg Lölicker (1678—1753). Zwei seiner Kinder haben nach Riehen und hier in die gleiche Familie hinein geheiratet.

Diese — noch heute blühende — Familie hiess und heisst David. Der Sattler Johannes David, ein Stadtbürger, hatte wegen eines Deliktes Urfehde schwören und Basel verlassen müssen. Er Hess sich in Riehen nieder, heiratete um 1650 die Bettingerin Anna Schlup (1631 — 1701) und wurde Bürger der Landgemeinde: ein für die damalige Zeit fast revolutionärer Vorgang. In der Stadt nämlich galten die Davide als alte ratsfähige Metzgersfamilie vor Zeiten viel, sie waren aus Oltingen gekommen, sassen aber schon kurz nach dem grossen Erdbeben in der Regierung (evtl. schon 1361). Ebenfalls das Sattlerhandwerk erlernte Rudolf David (* 1671), der Sohn von Johannes. Er hat dann aber den verwandten Beruf eines Schuhmachers ausgeübt. Bei ihm ging Marx (= Markus) Löliger von Pratteln in die Lehre. Später scheint er dort auch als Geselle gearbeitet zu haben. Zu jener Zeit war jeder Mann auf dem Dorfe, sogar der Lehrer und oft der Pfarrer, in erster Linie Bauer. Dem Handwerk widmete man sich nebenher. Trotzdem war der Konkurrenzkampf hart, denn zu verdienen gab es wenig und der Durchschnittsriehener musste tüchtig arbeiten, um sich einigermassen durchzubringen.

Marx Löliger — er schrieb sich auch Lölicker, Lölikker und Löhlinger (die endgültige Fixierung der Rechtschreibung der Familiennamen ist erst durch die Einführung des Zivilstandes 1870/4 erfolgt) — heiratete Maria David (1707—1774), die Tochter seines Meisters. Das geschah am 9. Februar 1728 in der Dorfkirche; wenige Wochen später gelang ihm, wie wir gesehen haben, auch der Erwerb des Bürgerrechtes. Ein Jahr später konnte er sich das kleine Haus Oberdorfstrasse 2 (= Restaurant Sängerstübli) kaufen. Und im Jahre 1734 heiratete auch seine Schwester Anna Maria Lölikker (1714—1752) nach Riehen: ihr Erwählter war der «Kiefer» Johannes David (1706—1758), ein Cousin der Frau Maria Löliger-David. Unter den Nachkommen des Ehepaars David-Löliger finden sich fast alle Riehener Schäublin, darunter der Sängervater, Waisenvater und Doktor honoris causa Johann Jakob Schäublin (1822—1901).

Die Beziehungen zwischen Pratteln und Riehen müssen noch lange fortbestanden haben. Noch Jahrzehnte (so 1806!) nach der Einbürgerung des Marx Löliger finden sich Prattler Löliger als Götti und Gotten der Kinder ihrer Riehener Verwandten. Auch haben sich die Riehener Löliger unter anderem wieder nach Muttenz und Frenkendorf verpflanzt, während umgekehrt Prattler Löliger in Muttenz und selbst in Riehen niedergelassen waren. Heute ist es auf Anhieb nicht mehr möglich, einen Löliger auf Grund seines Wohnortes als Prattler, Münchensteiner oder Riehener zu identifizieren: Schweizer Haus Oberdorfstrasse 2: 1729 von Marx Löliger-David (1706—1755) erworben, erster Sitz der Familie Löliger in Riehen, bleibt bis zum Ende des 18. Jh. Eigentum des ältesten Sohnes Johannes Löliger-Baumann (1735—1798). Im danebenliegenden Haus Rössligasse 50 sind seit 1914 Emil Löliger-Rominger (1881—1935), danach Werner Georg Löliger-Kleeb (* 1916) zu Hause.

Löliger gibt es nur aus diesen drei Orten, einige von ihnen haben sich später allerdings in der Stadt Basel eingebürgert.

Marx Löliger-David starb jung mit 49 Jahren. In seiner Zeit war das nicht aussergewöhnlich. Auch die enorme Kindersterblichkeit gehörte bis zur letzten Jahrhundertwende zum selbstverständlichen Leid fast jeder Familie. Die Familie von Marx wurde allerdings nur mässig von ihr betroffen: lediglich zwei seiner neun Kinder erreichten weniger als vier Lebensjahre. Rechnet man die früh — das heisst vor der Erreichung ihres zehnten Altersjahres — verstorbenen Kinder nicht, so ergibt sich für die Nachkommenschaft von Marx Löliger im Mannesstamm (also alle Kinder, die Löliger hiessen, auch wenn die Mädchen später durch Verheiratung ihren Namen verloren; ausgenommen sind lediglich einige später legitimierte Kinder) folgende Statistik: sieben Kinder, elf Enkel, 27 Löliger-Urenkel. In der vierten Generation sind dreissig, in der fünften 71 Löliger zu zählen. Diese fünfte Generation umfasst Geburtsjahrgänge von 1850 bis 1904. Dann nehmen die Löliger — teils bedingt durch die Auswanderung nach Amerika — wieder ab: die sechste Generation (1873 bis 1930) umfasst noch 53, die siebte (1922 bis 1970) noch 27 Löliger. Die jüngste Generation beginnt mit dem Geburtsjahr 1952 und hat bis jetzt 17 Angehörige. Die Gesamtzahl aller Riehener Träger des Namens Löliger beträgt mit den Stammeltern und ohne die klein gestorbenen Kinder (und auch ohne Berücksichtigung der Adoptionen) 245 Personen.

Unter diesen vielen Löliger gab es eine ganze Anzahl origineller Leute, die meisten übten das Küferhandwerk aus und von 1786 bis 1846 war das Amt eines Sigristen in den Händen von Vater Hans Jacob (1742—1819) und Sohn Hans Georg (1776—1846) Löliger. Wie in jeder Familie gab es daneben auch negative Berühmtheiten und die Gemeinde war froh, als einige von diesen nach Amerika auswanderten (der erste 1862 nach Uruguay). Stärker nachgewirkt haben aber die aus der Familie hervorgegangenen Politiker.

Bis 1798 hatten die Löliger im Dorf nicht mitzureden: die einflussreichen ämter befanden sich weitgehend in bestimmten Zweigen der Familien Wenk und Schultheiss. Erst die Napoleonische Zeitenwende mit ihren vielfachen Umwälzungen ermöglichte auch «neuen» Familien Teilhabe an der — freilich eher geringen — Macht. Der erste Angehörige der Löliger-Sippe, weicher auf diese Weise aufstieg, war Hans Jakob (1777—1849), ein Sohn des eben genannten Sigristen Hans Jacob. Er wohnte, wie die meisten seines Stammes, im Oberdorf und erbaute 1826 die Liegenschaft Oberdorfstrasse 4. Seit 1814 amtete er als Zivilrichter und 1820 wurde er gar zum Präsidenten des Gerichts ernannt. Gemeinderat war er seit 1814, eine Beförderung zum Gemeindepräsidenten lehnte er ab (1816). Er nahm in den Trennungswirren 1831 Partei für die Landschaft und wurde deswegen von den Städtern gerichtlich verurteilt: er durfte nicht mehr Gemeinderat sein. Zum Trotz wählten ihn die Riehener in den Grossen Rat, dem er bis 1837 angehörte.

Sein Sohn Nikiaus Löliger (1814—1899) ist der bis jetzt wohl bedeutendste Vertreter der Familie gewesen. Er wurde Bäcker, war Verwalter der «Sparund Leihkasse Riehen» und kaufte 1860 die Landvogtei (Kirchstrasse 13). Seine erste Frau war Salome Jundt von Bottmingen (1811 —1869), die Tochter eines in Riehen vorzüglich wirkenden Lehrers, seine zweite Frau Lydia von Brunn (1820—1898), eine Pfarrerstochter und Enkelin des Begründers der Basler Mission, Pfarrer Niclaus von Brunn zu St. Martin (1766—1849). Diese zweite Ehe weist in die geistige Heimat von Nikiaus Löliger: er lebte in den erwecklich-pietistischen Kreisen seiner Zeit und das sowohl in Riehen als auch in der Stadt. Bekannt ist sein vehementer Kampf gegen den kirchlichen und politischen Freisinn. Als Konservativer gehörte er seit 1861 dem Gemeinderat und dem Grossen Rat an. Richter war er seit 1848. Die Liste seiner kommunalen, kantonalen und kirchlichen ämter ist lang. Gemeindepräsident blieb er bis 1876, sein Rücktritt war das Symbol für einen freisinnigen Durchbruch auch in Riehen.

Neben ihm stand sein Cousin und Namensvetter Nikiaus Löliger (1823— 1884), zum Unterschied «jünger» geheissen. Dieser Nikiaus war freisinnig, widersprach in fast allen Fragen der Zeit seinem Pendant, das mit ihm im Gericht, im Gemeinderat, im Grossen Rat und in der Kirchensynode sass. In Anspielung an den grossen Politiker des jungen Basler Freisinns, Wilhelm Klein (1825—1887), wurde der jüngere Nikiaus der «Klein des Landbezirks» genannt.

Samuel Löliger, Bäckermeister, dann Wirt, (1846—1894), ein Sohn von Nikiaus Löliger-Jundt, war 1875—1878 ebenfalls Mitglied des Grossen Rates, bereitete aber seinem frommen Vater keine Freude und starb als gebrochener Mann.

Die politische Ader vererbte sich in der Nachkommenschaft von Johann Friedrich Löliger (1810—1883), einem Bruder von Nikiaus Löliger, dem Gemeindepräsidenten. Dieser, ein Küfer, wohnte im Bauernhof Oberdorfstrasse 24/26 und gehörte dem Gemeinderat nur ein Jahr lang (1844/5) an. Sein Sohn, ebenfalls Küfermeister, hiess Ludwig Löliger (1846—1928), erwarb sich den Meierhof (Erlensträsschen 7) im Jahre 1873 und diente der Gemeinde als Gemeinderat, Bürgerrat, Mitglied des Kirchenvorstandes und als FassSinner. Dreizehn Kinder gingen aus seiner Ehe mit der Rössliwirtstochter Maria Salathe (1847—1938) hervor. Das politische Talent hat sich unter seinen Nachkommen vererbt: sein Sohn, der Küfermeister und Weinhändler Louis Löliger (1868—1951) gehörte dem Weiteren Gemeinderat an, und drei seiner Enkel sassen sogar gleichzeitig im Dorfparlament: der Sozialdemokrat Wilhelm Löliger (1907—1961) sowie die Brüder und VEW-Vertreter Emil (* 1911) und Werner Löliger (* 1916), Emil Löliger ist seit 1968 Mitglied des Grossen Rates (nachdem die Familie seit 1884 in diesem nicht mehr repräsentiert gewesen war).

Nicht alle Löliger wählten den Weg in die Politik. Sie widmeten sich ihren meist technischen Berufen. Hans Georg Löliger (1809—1850), ein Sohn des gleichnamigen Sigristen, war Lehrer. Manche Angehörige haben sich auch als treue Beamte und Angestellte ausgezeichnet. In neuerer Zeit mehren sich die Löliger, welche akademische Berufe ausüben und Kaderpositionen bekleiden. Doch diese Entwicklungen entziehen sich noch dem Zugriff der Geschichte.

Von den Auswanderern der Familie war bereits die Rede. Leider ist von ihren Nachkommen nichts bekannt. Es ist aber zu vermuten, dass es sie gibt. Wie wird wohl «Löliger» in den USA — dorthin zog es die meisten — ausgesprochen? In der Regel blieben sie aber, wenn nicht gerade in der Gemeinde, so doch im Lande. In den Jahren 1885, 1904, 1915 und 1932 erfolgten Einbürgerungen von Riehener Löliger in der Stadt Basel: auf das Bürgerrecht von Riehen hat dabei aber keiner verzichtet.

Dann und wann haben Löliger-Familien Adoptionen vornehmen können. Deswegen sind nicht alle Träger des Namens Löliger auch miteinander blutsverwandt. Aber selbst davon abgesehen wäre es vermessen, der weitverzweigten Familie einen gemeinsamen Charakter zuzuerkennen. Was aber schon behauptet wurde, ist, dass den Löliger dann und wann eine gewisse äussere ähnlichkeit eigen sei. Für die Mitbürger ist das Gedenken an den vor 250 Jahren erfolgten Eintritt ins Riehener Bürgerrecht Grund zum Glückwunsch und zum Dank für das, was von Gliedern dieser Familie für die dörfliche Gemeinschaft geleistet worden ist.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1978

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