Der Fremdsprachenunterricht verlässt das Klassenzimmer

Barbara Imobersteg

Das Projekt «Educomm - Schulpartnerschaften» schafft neue Voraussetzungen, um den Schülerinnen und Schülern der OS-Stufe die französische Sprache näher zu bringen.

 

Austauschpädagogik? «Ein kompliziertes Wort und ein doofes Wort» (Nora, 13 Jahre alt), «hat vielleicht etwas mit Schüleraustausch zu tun und was dahinter steckt» (Mischa, sechzehn Jahre alt), «wenn man sich über Pädagogik austauscht?» (Aline, 18 Jahre alt).

Bildungsverantwortliche würden wohl am ehesten der mittleren Variante Recht geben, obschon die beiden anderen Antworten auch nicht ganz falsch sind. Nach dem Verständnis der Austauschpädagogik stecken hinter einem Schüleraustausch tatsächlich verschiedene Absichten - pädagogische Ansprüche, die mehr umfassen als die Intensivierung des Sprachtrainings.

Eine Horizonterweiterung

Im Zentrum für die Lernenden steht die Begegnung mit dem Fremden als reale Begebenheit. Werden im regulären Unterricht Fremdsprachen vermittelt, bleibt der Erlebnisspielraum der Schülerinnen und Schüler sehr eingeschränkt - die Sprache bleibt im Klassenzimmer. Wohl werden mit wirkungsvollen didaktischen Mitteln wie Rollen- und Szenenspielen Alltagssituationen nachempfunden, das sprachliche Handeln wird dabei aber immer nur simuliert. Erhalten die Lernenden im Rahmen eines Schüleraustauschs Gelegenheit, mit fremdsprachigen Personen in Kontakt zu treten, erhält die Kommunikation eine andere Bedeutung. Die Anwendung der Fremdsprache gehört nicht mehr zu einer bestimmten Unterrichtseinheit, sondern sie wird notwendig, um sich verständigen zu können. Der Gebrauch der fremden Sprache eröffnet gleichzeitig die Möglichkeit, Neues und Andersartiges kennen zu lernen. Die Sicht auf Schulbuch, Vokabeln und Grammatik erfährt eine Horizonterweiterung - die Sprache wird tatsächlich zum Kommunikationsmittel.

 

Die Anliegen der Austauschpädagogik erschöpfen sich nicht in einem Aufbessern der Sprachkenntnisse. Sie umfassen vielmehr ein Sprachverständnis, das auch den Zugang zu fremden Denk- und Lebensgewohnheiten beinhaltet und das soziale Zusammenhänge erfassen kann. Erwiesenermassen fördern solche Kompetenzen zugleich das Bewusstsein und Verständnis für die eigene Kultur und Sprache. Schüleraustausch im Sinne der Austauschpädagogik ist also ein Beitrag zur interkulturellen Kommunikation. Was von Kritikern möglicherweise als Ablenkung vom «Kerngeschäft» missverstanden wird, ist in der Tat eine reichhaltige Lernerfahrung, die viele Kompetenzen und im Speziellen den Spracherwerb nach einem ganzheitlichen Ansatz fördert.

Austauschprogramme werden im Kanton Basel-Stadt seit vielen Jahren realisiert und auch von Seiten des Erziehungsdepartements unterstützt. Im Jahr 2002 konnte eine neue Idee verwirklicht werden. Zu ihrem 125-Jahr-Jubiläum lancierte die GGG ein Projekt zur Förderung des Schüleraustauschs an den Orientierungsschulen. Nachdem Austauschprojekte bislang nur vereinzelt und folglich mit grossem Aufwand realisiert worden waren, fand man mit dem Modell «Educomm» eine viel versprechende Alternative.

Fremder als Englisch

Mit der Errichtung von Schulpartnerschaften können die Austauschaktivitäten besser verankert, kontinuierliche Beziehungen aufgebaut und Synergien genutzt werden. «Educomm» sieht Partnerschaften von Basler und Riehener Schulen mit Schulen in der französischen Schweiz und dem Elsass vor. Gerade die französische Sprache wird von den Kindern als besonders schwierig erlebt und erscheint ihnen «fremder» als das allgegenwärtige Englisch. Der direkten Begegnung mit der französischen oder welschen Sprache und Kultur kommt deshalb besondere Bedeutung zu. Ist eine Partnerschaft erst einmal besiegelt, können Kontakte rasch und unbürokratisch geknüpft oder wieder aktiviert werden. Kollegien und Schülerschaft lernen sich bei jedem Austausch besser kennen, die Beziehung kann wachsen und sich festigen.

Mit fünf Orientierungsschulen ging «Educomm» im Jahr 2002 in die einjährige Pilotphase. Inzwischen sind elf Schulhäuser beteiligt, drei davon in Riehen: die OS Hebel, die von Anfang an dabei war, die OS Wasserstelzen und die OS Grendelmatte.

Zweisprachig Velos flicken

An jedem Ort ist eine für den Austausch verantwortliche Person eingesetzt, die die Lehrkräfte bei der Organisation und Koordination unterstützt. Die Infrastruktur ist bereits gewachsen. Bei der pädagogischen Dokumentationsstelle ist eine «Austauschbibliothek» entstanden mit Publikationen zum Thema und Dokumentationen der bisherigen Aktivitäten. Angeboten werden auch zwei Koffer mit Spielen, die eine sprachliche Verständigung erfordern - die Dictionnaires werden mitgeliefert. Für musisch Begabte kann eine Gesangs- und Karaokeanlage ausgeliehen werden mitsamt Mischpult, CD's und Textheften in deutscher und französischer Sprache.

Handwerklich Orientierte können auf das erfolgreiche Velo-Recycling-Projekt zurückgreifen. Die alten Drahtesel bekommt man von der Polizei, die Kontaktadressen zu hilfsbereiten Mechanikern liegen vor. 16 «zweisprachig rezyklierte» Velos stehen schon jetzt für Austauschaktivitäten bereit. Sportliche Klassen dürfen sich vielleicht sogar auf ein River Rafting im «Parc des eaux vives» in Huningue freuen - eine mögliche gemeinsame Exkursion, die bereits Anklang gefunden hat. Ausflugsideen finden sich zuhauf auf der «Educomm»-Website, ebenso Kennenlernspiele, Denksportaufgaben, Postenläufe, Arbeitsblätter aller Art bis hin zu den Geschenkideen für die Partnerklasse.

Werden sie mich verstehen?

Die «Begegnung mit dem Fremden» will gut vorbereitet sein. Wenn man eines Tages einer neuen Schulklasse gegenübersteht und in 20 unbekannte Gesichter blickt, ist die Verunsicherung gross. Wie wird wohl der gemeinsame Tag? Werden sie mich verstehen? Werden sie mich mögen? Was soll ich wohl sagen? Solche und ähnliche Gedanken wälzen alle Schülerinnen und Schüler im Kopf, wenn es so weit ist. Dem ersten Treffen gehen allerdings einige Schritte der gegenseitigen Annäherung voraus. Alle Partnerklassen nehmen zuerst schriftlich Kontakt miteinander auf. Die Schülerinnen und Schüler schreiben sich Briefe, stellen sich vor, fragen nach den Hobbys und Interessen und warten gespannt auf die Antworten. Obwohl man sich dabei helfen lassen darf, schleichen sich einige Fehler ein. Beide Seiten dürfen beruhigt feststellen: «Die andern können es auch nicht besser.»

Im Hintergrund wirken die Lehrkräfte, koordinieren die zeitlichen Abläufe, sorgen dafür, dass fehlende Antwortbriefe eintreffen und bereiten gemeinsam das erste Treffen vor. Wer hat wann Ferien, Prüfungen, Lager ...? Was kennen und können die Kinder? Viele Fragen gilt es zu klären bei der Planung der Austauschaktivitäten. Geht die Fahrt über die Grenze, müssen für Kinder spezielle Zollformulare ausgefüllt werden. Ist ein Besuch bei einer Gastfamilie vorgesehen, müssen genügend Eltern gefunden werden, die ihre Zeit zur Verfügung stellen können. Für die langfristige Planung gilt es zu bedenken, dass in Frankreich jedes Jahr die Klassen neu zusammengesetzt werden, was die Organisation zur Aufrechterhaltung der Partnerschaft erschwert.

Peinliche Küsschen

Bei den Schülerinnen und Schülern steigt derweil die Spannung. Sie möchten langsam wissen, wer ihre «correspondants» sind. «Wir waren sehr nervös vor dem ersten Rendez-vous», erzählt Alexandra. Sie ist mit ihrer Klasse nach Rixheim gefahren. «Der Begrûssungsapéro in der französischen Schule war eher steif, erinnert sie sich. Bei einem lustigen Kennenlernspiel kam aber schliesslich gute Stimmung auf. Die grosse Herausforderung für Alexandra stellte das Mittagessen bei der Gastfamilie dar. Sie hatte Angst, Fehler zu machen oder kein Wort zu verstehen. Tröstlich war, dass es allen gleich erging. Schlimm war es dann doch nicht. Der französische Partner und seine nette «Maman» gaben sich Mühe, langsam zu sprechen und stellten einfache Fragen.

Etwas peinlich waren die Küsschen, die in Frankreich den gut schweizerischen Händedruck ersetzen. Das Mittagessen mit Gastkindern war auch für die beteiligte Mutter anstrengend. Manche Kinder blieben stumm, andere Hessen sich höflich auf Fragen ein, die die peinliche Stille verhindern oder mindern sollten. Ein lockeres Tischgespräch kann in dieser Situation wohl nicht erwartet werden. Viele Eltern arbeiten ohnehin über Mittag und die Lehrkräfte müssen für die betroffenen Kinder Alternativen suchen.

Sie versuchen es einfach

Vom Nachmittagsprogramm war Alexandra nicht restlos begeistert. Beim gemeinsamen Sportprogramm kamen die Schweizerinnen fast nie in Ballbesitz. Aber im Grossen und Ganzen hat ihr der Tag in Rixheim gut gefallen. Erfolgs- und Misserfolgserlebnisse haben sich in etwa die Waage gehalten - so ihr Résumé. Auch die nachfolgenden Treffen mit der Partnerklasse endeten für Alexandra mit einer ausgeglichenen Bilanz. Ob die Begegnung mit der französischen Sprache und die praktische Anwendung positiv erlebt wurden, hing einerseits mit dem gebotenen Programm zusammen - Museumsbesuche lösen bekanntlich nicht immer Begeisterung aus - und wurde andererseits von der Zusammensetzung der Gruppe oder Partnerschaft bestimmt. «Mein Partner war der Typ Musterschüler, der am liebsten klassische Musik hört, das ist nicht gerade meine Linie», gesteht Alexandra. Die guten Gespräche mit gegenseitigem Engagement fanden deshalb nicht bei den geplanten Partnerübungen statt, sondern unterwegs, in der Pause, beim «Pique-nique» - bei allen Gelegenheiten, die einen freiwilligen Austausch und die freie Wahl des Gegenübers ermöglichten.

Dass die soziale Komponente eine wichtige Rolle spielt, weiss auch die Französischlehrerin. Sie plädiert für eine möglichst frühe erste Kontaktnahme: «Im ersten OS-Schuljahr gehen die Kinder frisch darauf los. Sie versuchen einfach zu sprechen, selbst wenn sie noch nichts können. Dieses Ausprobieren macht ihnen Spass und so lernen sie unglaublich viel.» Wenn die Kinder das Jugendalter erreichen, geht diese Art der Spontaneität zurück. Die Erfordernisse der Erwachsenenwelt kommen näher. Man muss «cool» sein, man ist darauf bedacht, Peinlichkeiten zu vermeiden. Die Annäherung an andere Jugendliche - egal welcher Herkunft - wird komplizierter. «Am einfachsten geht es, wenn man jemanden findet, der einem gefällt und gleiche Interessen hat», hält Alexandra fest. Einen solchen Kollegen hat sie tatsächlich kennen gelernt in Rixheim. Mit ihm tauscht sie sich regelmässig per E-Mail aus und das ist zugleich ihre bevorzugte Lernsituation. Sie erzählt, sie versucht zu verstehen, sucht die fehlenden Wörter im Dictionnaire. Sie fragt bisweilen die grosse Schwester, sie klärt sogar - wenn nötig - Missverständnisse auf Französisch und sie hat keine Angst, Fehler zu machen.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2006

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