Der Pianist Rudolf Serkin und seine Riehener Jahre

Siegfried Schibli

Musikalische Wunderkinder pflegen entweder rasch zu verblühen oder aber ein Leben lang hohes gestalterisches Niveau durchzuhalten. Zu letzteren zählen in unserer Zeit der im Frühjahr 1991 fünfundsiebzig gewordene Geiger Yehudi Menuhin - und Rudolf Serkin, der als Sohn eines russisch-jüdischen Sängers am 28. März 1903 im böhmischen Eger geboren wurde und am 8. Mai 1991 im amerikanischen Bundesstaat Vermont gestorben ist. Mit zwölf Jahren debütierte Serkin, in Wien Schüler des Pianisten Richard Robert und des Komponisten Joseph Marx, mit Mendelssohns erstem Klavierkonzert. Entscheidend wurden für ihn zwei frühe Begegnungen: mit Schule und Person Arnold Schönbergs, in dessen «Verein für musikalische Privataufführungen» der sechzehnjährige Serkin mitwirken durfte (er spielte Werke von Josef Suk und Alban Berg) und dessen ästhetik der unbedingten Modernität er gleichsam in sich aufsog - und Adolf Busch, zu dessen ständigem Klavierbegleiter der siebzehnjährige «Geheimtip» Rudi Serkin gleichsam über Nacht ernannt wurde. Die Kritik erkannte sogleich, dass da keine Verlegenheitspaarung vorlag, sondern eine aussergewöhnliche musikalische Partnerschaft, und begrüsste Serkin als «kongenialen KlavierKameraden» Büschs.

Pianist bei Busch Als Klavierpartner Büschs, als Triopartner mit den Brüdern Adolf und Hermann Busch, als Klavierquartett-Pianist und als Solist von Büschs Kammerorchester wurde Serkin berühmt. Er folgte Busch fortan bis zu dessen Tod 1952 auf allen Wegen, ging erst mit ihm nach Berlin (wo Serkin vergeblich versuchte, Ferruccio Busoni als Lehrer zu gewinnen), 1922 nach Darmstadt und 1927 nach Basel, wo die Büschs eine Villa an der St. Alban-Vorstadt 96 bewohnten, und 1932 schliesslich nach Riehen. Beide wurden im schweizerischen Exil - Auftritte in Deutschland verboten sich für Juden von selbst - sesshaft und erhielten das Riehener Bürgerrecht: Serkin wohnte von 1932 an unmittelbar neben der Familie Busch am Schnitterweg in einem von einem schwäbischen Architekten entworfenen Haus, das «wie ein Junges an das behäbige Mutter-Haus von Adolf Busch angebaut war»1). 1935 heiratete Serkin Adolf Büschs Tochter Irene; der Ehe sollten sechs Kinder entspringen, darunter der nachmalige Pianist Peter Serkin.2) Die Basler beziehungsweise Riehener Jahre Rudolf Serkins und der Familie Busch dauerten bis 1939 - der Weltkrieg bedrohte auch die Schweiz, zudem suchten beide nach einem Wirkungsort von grösserer internationaler Ausstrahlung. Damals wurde Serkin, der 1936 sehr erfolgreich unter Toscanini in den USA konzertiert hatte (Mozart, Klavierkonzert B-Dur KV 595), als Lehrer an das Curtis Institute of Music in Philadelphia berufen und nahm die amerikanische Staatsbürgerschaft an. 1968 wurde er als Nachfolger des Geigers Efrem Zimbalist zum Direktor dieses renommierten Instituts berufen. Sein Name verbindet sich seither auch mit dem 1950 von ihm und Busch begründeten Festival von Marlboro im Bundesstaat Vermont. Dort wurde Serkin zum Anreger und Mentor zahlreicher Musiker und Musikerformationen, so etwa 1964 des später weltberühmten Guarneri-Quartetts, dessen Primarius Arnold Steinhardt über Serkin geäussert hat: «In der deutschen Tradition stehend, war Serkin der Einheit von Inhalt und Form, von Struktur und Empfindung tief verpflichtet. Bei ihm war musikalische Farbigkeit kein Selbstzweck. (...) Bei Serkin wie auch bei Casais (...) konnte man lernen, dass profundes theoretisches Wissen und leidenschaftliches, mitreissendes Musizieren nicht im Gegensatz zueinander stehen müssen.»3)

 

Der Ausdrucksmusiker

Am 17. April 1936 spielten Adolf und Hermann Busch sowie Rudolf Serkin unter der Stabführung von Fritz Busch, dem ältesten der Busch-Brüder (der 1933 nach Buenos Aires ans Teatro Colon gegangen war) im Basler Musiksaal in einem Extrakonzert der AMG (Allgemeine Musik-Gesellschaft) mit dem Orchester der BOG (Basler OrchesterGesellschaft) das Doppelkonzert von Brahms und das Tripelkonzert von Beethoven. Dass die Kritiken enthusiastisch waren, wundert nach all dem Gesagten nicht. Bemerkenswert aber die begrifflichen Mittel, mit denen die Rezensenten das Gehörte, das Erlebte in Worte zu fassen versuchten. Wilhelm Merian spricht in den «Basler Nachrichten» vom 20. April 1936 von Serkins «fanatischer Besessenheit» und von seinem «immer sprühenden, eruptiven Gestaltungswillen und seiner virtuosen Brillanz»; sein Kollege Werner Lüthy von der «National-Zeitung» hebt gleichentags Serkins «rhythmische Energie und die Eleganz seiner Darstellung» sowie das «musikantische Draufgängertum der drei Solisten» hervor4). Jahrzehnte später vergleicht Joachim Kaiser den Eindruck Serkins auf der Bühne mit dem eines Ekstatikers: «Manchmal reisst er die Hände von der Klaviatur, als sei sie mit Starkstrom geladen. (...) Jedes Crescendo gerät ihm, als habe Prometheus es selbst komponiert. (...) Alles Langsame gerät herrlich über den Entladungen jedoch liegt etwas Fieberhaftes.» In den jüngsten Aufnahmen will Kaiser bei Serkin eine «Alterswildheit» ausmachen: «Er spielt immer schneller, immer unkonzilianter, immer gewaltsamer...»5). Und nochmals Arnold Steinhardt vom Guarneri-Quartett: «Bei grossen Werken, etwa der Hammerklavier-Sonate, war es, als ob ein Tornado über die Bühne fegte.»6) Wildheit, Besessenheit, Energiegeladenheit: ständig wiederkehrende Topoi über Serkin, die bei aller Relativität des journalistischen Redens über Musik doch etwas aussagen über dessen Musizierstil und seine geistige Haltung. Man mag diese mit Schönbergs Diktum illustrieren, Kunst komme nicht von Können, sondern von Müssen, oder mit seinem Aperçu, es gebe nur einen Weg, der nicht nach Rom führe, den Mittelweg.

Animato, espressivo, martellato

Sich ein präziseres Bild von dieser Musikerpersönlichkeit zu machen, fällt heute nicht allzu schwer. Denn auf Tonträgern liegen Musikaufnahmen Serkins vor, die eine Zeitspanne von mehr als fünf Jahrzehnten umfassen, und der Schallplattenindustrie muss man für einmal nicht den Vorwurf machen, sie lasse die wertvollsten Aufnahmen in den Archiven verschimmeln. Nehmen wir eines der frühesten Tondokumente des Busch-Trios in seiner ersten Besetzung (Adolf Busch, Karl Doktor, Hermann Busch) mit Serkin am Klavier, die 1932 entstandene Aufnahme des Klavierquartetts in A-Dur op. 26 von Johannes Brahms7). Der trockene, unpathetische Ton, mit dem Serkin die Eröffnungstakte spielt, ist durchaus nicht nur aufnahmetechnisch bedingt, sondern entspricht der «Neuen Sachlichkeit», mit der Serkin und die Büschs aus dem Spätromantiker Brahms das damals Virulente herausspürten (Busoni soll Serkin geraten haben, doch etwas «schmutziger» zu spielen, das heisst mehr Pedal zu nehmen - offenbar ohne Erfolg). Freilich nicht, um diese Kammermusik irgend spektakulär zu vergrössern. Sie hält fest an ihrem sozialen Ort, dem bürgerlichen Salon, wahrt bei allen ForteAttacken der raschen Sätze auch etwas Privates, Intimes. Das zeigt sich am deutlichsten im langsamen Satz des Klavierquartetts, den die Interpreten mit höchst vorsichtiger Tongebung ausstatten: Die Originalvorschriften «con sordino» für die Streicher und «una corda» für das Klavier werden befolgt, wodurch der Musik etwas Geisterhaftes zuwächst. Ganz nebenbei darf man auch auf die hohe spieltechnische Perfektion dieser Aufnahme hinweisen, die ja noch ohne die heute übliche raffinierte Studio-SchnittTechnik auskommen musste.

Eine zweite Aufnahme, die hier als Beleg für Serkins ausserordentliche Interpretationskunst dienen möge, stammt von 1962 und entstand mit dem Columbia Symphony Orchestra unter dem Dirigenten George Szell, einem Geistesverwandten von Rudolf Serkin: Béla Bartók, 1. Klavierkonzert, geschrieben 19268). Dieses dem frühen Strawinsky-Stil sehr nahe Werk fordert nun ganz den perkussiven, sauberster Repetitionstöne und prägnanter Non-legatoAkkorde fähigen Interpreten heraus, und es ist spannend zu erleben, wie die Klavierstimme nach dreissig Einleitungstakten sozusagen aus dem Perkussionsfeld der Pauken herauswächst. Die Kraftreserven des jetzt fast sechzigjährigen Meisters sind scheinbar unerschöpflich, ebenso staunenswert ist die Geläufigkeit, mit der Serkin im dritten Satz die vielen «kleinen Noten» hinwirft und dynamische Nuancen anbringt, wo andere Pianisten vollauf mit dem Erreichen der richtigen Tasten beschäftigt sind.

Die vielleicht berühmteste Aufnahme Serkins überhaupt ist die 1969 entstandene Einspielung der HammerklavierSonate op. 106 von Beethoven. Damit war für ihn das Thema «Spätstil Beethovens» indes noch nicht abgeschlossen. In einem Inteview bekannte er 1983, erst als fast Sechzigjähriger habe er es gewagt, diese Werke öffentlich zu spielen, und er sei auch jetzt noch nicht fertig damit - «ich tue es nicht, weil ich meine, ich könnte es jetzt besser, ich tue es, weil ich nicht mehr so viel Zeit habe, damit zu warten»9). Noch im Herbst 1987 - als fast Fünfundachtzigjähriger! - spielte Serkin die Opera 109, 110 und 111 im Wiener Konzertverein, und dort entstanden die Live-Mitschnitte, die unlängst auf Compact Disc erschienen sind10). Es sind Dokumente auch eines pianistischen Spätstils, in dem freilich keine Kanten geglättet und keine Ausdrucks Ballungen gemildert sind: Wie Serkin etwa das Prestissimo der E-Dur-Sonate hinschleudert, wie er die Variationen unter einen grossen Bogen zwingt, wie er die Fuge der AsDur-Sonate in das Instrument wuchtet, das alles ist von hoher Authentizität. Gewiss, da gibt es ein paar falsche Noten. Aber sie unterlaufen Serkin bezeichnenderweise nicht bei den «schwierigen Stellen», die ihm aus jahrzehntelanger Praxis souverän gelingen, sondern an unscheinbaren Orten - dort, wo es für den Titanen Serkin in den Partituren nichts zu beissen, keine weltbewegenden Probleme zu lösen gab. Denn ein Pianist in der grossen idealistischen deutschen Tradition blieb Serkin bis zuletzt.

 

Anmerkungen 1) Paul Gessler: «Zum 70. Geburtstag von Rudolf Serkin», in: Basler Nachrichten vom 28. März 1973

2) Zu Adolf Busch und Riehen vgl. die Beiträge von Hans Ehinger: «Adolf Busch. Kleines Porträt eines grossen Meisters» und Paul Gessler: «Erinnerungen an Adolf Busch», RJ 1964, S. 5-14 und 15-20

3) «Die Kunst des Quartettspiels. Das Guarneri-Quartett im Gespräch mit David Blum», Kassel 1988, S. 163

4) m.: «Ein ungewöhnliches Extrakonzert. Vier Mitglieder der Familie Busch bestreiten ein Symphoniekonzert», in: Basler Nachrichten vom 20. April 1936; Wy.: «Extrakonzert der A.M.G.», in: National-Zeitung vom 20. April 1936

5) Joachim Kaiser: «Grosse Pianisten in unserer Zeit», München/Zürich 1989, S. 141

6) s. Anmerkung 3)

7) EMI C 147-01555/56 (2 LP, mono)

8) Sony/CBS MPK 46446 (CD)

9) «Die Zeit» vom 26. März 1983, zitiert im Programmheft des Basler Kammerorchesters vom 3./4. November 1983

Anmerkungen:

10) Deutsche Grammophon 427 498-2 (CD)

 

Personen

(soweit nicht schon in der GKR, im RRJ oder in RJ 1986 ff. vorgestellt)

Busch, Fritz (1890-1951), Dirigent und Pianist

Busch, Hermann (1897-1975), Violoncellist

Lüthy, Werner (1896-1964), Dr. phil., Journalist, Musikreferent

Merian, Wilhelm (1889-1952), Dr. phil., Redaktor «Basler Nachrichten», Professor für Musikwissenschaft

Serkin, Peter (*1947), Pianist

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1991

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