Die Wattefabrik am Mühleteich und die Riehener Eisbahn

Paul Bertschmann

Wer von der älteren Generation erinnert sich noch des rauchenden Hochkamins, der den markanten Akzent zur Gebäudegruppe der einstigen Mühle an der Weilstrasse 12/14 setzte? Am östlichen Rand der offenen Wiesenaue errichtet, empfand ihn auch der Ortsfremde keineswegs als störenden Faktor im Landschaftsbild. In diesen Gebäuden suchte und fand der Chemiker Karl Schonlau in den Jahren 1911-1929 immer neue Verfahren, Zellstoffwatte chemisch rein herzustellen und diesen Rohstoff zu den verschiedensten Produkten zu verarbeiten.

Karl Schonlau wurde am 19. Mai 1886 in Zell im Wiesental geboren, wo sein Vater Teilhaber der Zellulosefabrik Zell war. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Fulda und Karlsruhe bildete er sich am Friedrichs-Polytechnikum in Kothen (Anhalt) zum dipl. ing. Chemiker aus. Nach verschiedenen Praktika in Papiermaschinen- und Papierfabriken gründete er 1911 die Firma «Internationale Spezialfabrik für Watten und pharmazeutische Erzeugnisse Schonlau, Fuchs & Richter, Riehen b. Basel»; bereits im Dezember 1912 arbeitete er ohne Compagnons, und der Handelsregistereintrag lautete nur noch auf Schonlau. Karl Schonlau übernahm die leerstehenden Gebäude der Alten Mühle an der Weilstrasse in Riehen, die 18 81 von Johannes Wanner-Wenk auf Dampfbetrieb umgestellt worden war und seit 1905 dem Wasserwerk gehörte. Mit einem von Gemeindepräsident Otto Wenk unterzeichneten Schreiben vom 26. Mai 1911 wurde ihm die Erlaubnis erteilt, einen Telefonanschluss zu betreiben.

Karl Schonlaus Absicht war es, die am Ende des letzten Jahrhunderts erfundene Zellstoffwatte zu entwickeln und als Ersatz für Baumwollwatte im grossen Stil auf den Markt zu werfen. Die Zellstoffwatte war um das Jahr 1880 von Jakob Feierabend in Niedernhausen im Taunus als Nebenprodukt bei der Herstellung von glatten Seidenpapieren erfunden worden. Infolge eines Formfehlers konnte Feierabend das Produkt in Deutschland nicht patentieren lassen, und lange Zeit lag seine Erfindung brach; erst nach der Jahrhundertwende wurde die Produktion aufgenommen. Karl Schonlau kannte das Produkt vermutlich aus seiner Studienzeit; er erkannte dessen Wert für die Zukunft und stellte als erster in der Schweiz Zellstoffwatte unter dem Namen «Apina» her, die sich «durch unübertroffene Aufsaugfähigkeit, Weichheit, Schmiegsamkeit und Billigkeit» auszeichnete, wie ein Firmenprospekt festhielt. Daneben entwickelte er verschiedenste Produkte aus Zellstoffwatte, - die Eintragung ins Handelsregister nennt «Damenbinden, Damen-Tampons, Bettunterlagen, Fussschweiss-Einlagen, Zahnrollen für zahnärztliche Behandlung, Leibbinden, Mensurbinden, Pferdebinden und Filtermassen», alle unter dem Markennamen «Apina-Watte».

Der Firma Zielvorstellung war, ihrem Produkt eine vielfache Verwendungsmöglichkeit zu verschaffen, und so kreierte Karl Schonlau eine «Plastische Wand- und Deckenbekleidung», die er zwischen 1912 und 1915 in England, Frankreich, der Schweiz und Osterreich patentieren liess. Man erwog auch die Gründung einer Tochtergesellschaft in Paris, musste aber die Pläne wegen des bevorstehenden Ersten Weltkrieges fallenlassen. Damals ermass wohl niemand die Bedeutung der Zellstoffwatte für die kommenden Kriegsjahre. Da die Schweiz verschont blieb, genügten ihr die reichlichen Vorräte an Baumwollwatte. Anders dagegen in Deutschland: durch die Blockade gezwungen, sah sich die Armeeleitung nach der inzwischen bekannt gewordenen Verband-Zellstoffwatte um, damit der enorme Bedarf der Heeressanität gedeckt werden konnte. Die Riehener Wattefabrik erhielt grössere Lieferaufträge. Dazu kam die Fabrikation von Nitrierzellstoff für die Pulverfabrikation (Schiessbaumwolle); die Firma Schonlau erhielt 19151925 grössere Aufträge der Eidgenössischen Pulverfabrik Wimmis für die Schweizer Armee. Diese rasante Entwicklung zeigte sich in den Jahresumsätzen der Wattefabrik, die von Fr. 107 277.— im Jahre 1914 bis auf Fr. 608 003.— im Jahre 1918 anstiegen. In jenen Jahren waren die hochbeladenen zweispännigen Fuhrwerke, welche die riesigen Zelluloseballen vom Riehener Bahnhof an die Weilstrasse transportierten, ein bekanntes Bild in unseren Strassen.

Nach dem Krieg gingen die Umsatzzahlen rapid zurück (Fr. 168 520.— im Jahre 1919), um 1920 nach der Aufnahme der Seidenpapierfabrikation nochmals auf Fr. 795 717.— zu steigen. Doch die katastrophale Währungslage in wichtigen Absatzländern brachte enorme Schwierigkeiten. An neuen Investitionen nicht interessiert, die mit unberechenbaren Wagnissen verbunden waren, musste die Wattefabrik Schonlau im Krisenjahr 1929 einen Nachlassvertrag abschliessen. Karl Schonlaus Ideen aber leben in den Produkten der Papierfabrik Baisthal weiter; denn diese Fabrik kaufte 1929 von Schonlau einige Spezial-ZellstoffWatteverarbeitungsmaschinen sowie das Verfahren für die Herstellung von Zellstoffwatte «und tat damit einen der wichtigsten Schritte für die spätere Entwicklung der Firma», wie in der Jubiläumsausgabe 1983 der «Tela-Zytig» zum 100jährigen Bestehen der Papierfabrik Baisthal steht. Die Fabriktore schlössen sich definitiv anfangs der Dreissigerjahre, der eingangs erwähnte Kamin wurde geschleift. Karl Schonlau verbrachte seinen Lebensabend bis zu seinem Tode am 6. August 1943 in Basel.

Eng verbunden mit der Riehener Wattefabrik ist auch die Geschichte der alten Eisbahn, die zu Winterszeiten von 1911-1922 auf dem angrenzenden Gelände betrieben wurde. Sie hatte Ausbuchtungen und war flächenmässig etwa 21/2mal so gross wie der heutige Eisweiher am Erlensträsschen.

Im Jahre 1909 hatte der Verkehrsverein einer Sonderkommission den Auftrag erteilt, der Riehener Bevölkerung eine Eisbahn zur Verfügung zu stellen. Diese Eisbahn in den Stellimatten war die einzige weit und breit und zu Betriebszeiten der zentrale Ort von jung und alt. Sorgenvolle Tage blieben der Kommission oft nicht erspart, wenn kurz vor Betriebsöffnung Schneefall oder Ausbleiben der Wasserzufuhr aus dem nahen Fabrikkanal die Eisbahn gefährdeten. Den Launen des Wettergottes musste man sich beugen, gegen das Versiegen des Wassers aber brauchte es die Mithilfe des Fabrikherrn Schonlau mit seinen Interventionen bei der Wuhrgenossenschaft Tumringen, wo das Wasser vom Wiesefluss abgezweigt wurde. In zwei noch erhaltenen Briefen aus den Jahren 1912 und 1915 an Karl Schonlau übermittelt der Verkehrsverein Riehen «dem verehrten Herrn Gönner unseres Eisbahnunternehmens den wohlverdienten Vereinsdank».

Ungeduldig erwartete die Schuljugend jeweils die Betriebsöffnung. War es soweit, drang die Kunde wie ein Lauffeuer in alle Häuser. Die Eltern wussten dann, wo sich ihre Kinder an den schulfreien Nachmittagen herumtrieben, nämlich auf dem Eis. Den Spätheimkehrern drohte dann meistens keine Strafe.

Ja, das sonntägliche Eislaufen war ein besonderes Erlebnis! Nicht nur unterschied sich die Stadt- und Dorfbevölkerung in der Bekleidung, sondern die elegantere Fahrweise auf dem Eis zeichnete den Städter aus. Die Riehener Jungmannschaft ereiferte sich mehr im Nachjagen, und achtlos glitten manche vor die Füsse Erwachsener. Dies tat ihrem Vergnügen keinen Abbruch. Ein hochgewachsener Herr, ein markantes Gesicht über einer schwarzen, breitausladenden Künstlerkrawatte, zog die Aufmerksamkeit vieler Anwesender auf sich. Er hatte ein fremdländisches Aussehen, war aber Welschschweizer und Französischlehrer an der Basler Töchterschule. Er musste einer jener Bevorzugten sein, die Schlittschuhunterricht genossen hatten, denn seine Kunstlaufschlittschuhe verrieten dies. In der Tat war er die interessanteste Figur auf dem Eisplatz, und sein Können zeigte sich beim Paarlaufen mit einer seiner Schülerinnen. Wie elegant und beschwingt vollführten sie Figuren zur Melodie von Waldteufels «Schlittschuhläufer», den der musizierende Musikverein zum besten gab. Neben dem Eislaufen zog auch das sonntägliche Konzert viele Schaulustige an. Dichtgedrängt verfolgten sie das muntere Treiben vom Drahtzaun aus, der den Eisplatz gegen die Weilstrasse abschloss. Kalte Füsse nahmen sie anscheinend willig in Kauf, denn die abwechslungsreichen Stunden lieferten Gesprächsstoff für den kommenden Alltag.

Am Eingang der Eisbahn stand eine unscheinbare Holzhütte. Durch das Schiebefenster hielt am Sonntag der Kassier, werktags die Wirtin den Besuchern das Eintrittsbillet entgegen, das 10 Rappen pro Kind, für einen Erwachsenen das Doppelte kostete. Der Konzertzuschlag am Sonntag von weiteren 10 Rappen fiel dem Musikverein zu; ein bescheidenes Entgelt für die gebotene, stundenlange Unterhaltung! Die Musikanten waren sichtlich abgehärtete Männer, denn der glühende Kohlenofen, um den sie sich sitzend scharten, reichte gerade zum Erwärmen der Knie aus, bevor sich die Hitzestrahlen durch die offenen Seiten des behelfsmässig erstellten «Pavillons» verflüchtigten.

Ein Sonntag im Februar des Jahres 1917 blieb unvergessen. Vier Jünglinge, jeder über Brust und Rücken mit einem Plakat «Eisbahn Riehen offen» behangen, durchzogen vormittags die Innerstadt Basels und warben so bei der Stadtbevölkerung. Der Propagandaeinfall zahlte sich aus. Besucher aus der Stadt strömten nach Riehen wie selten zuvor. Die Strassenbahn führte Extrakurse, und der Massenaufmarsch erreichte fast 2000 Personen. An dem strahlenden Wintertag schien auch die Sonne Freude daran zu haben, und ihre bereits frühlingshaften Strahlen widerspiegelten sich auf der blanken Eisfläche. Plötzlich gegen vier Uhr meldeten Kinder, sie seien auf dem hintern seitlichen Eisplatz eingebrochen und zeigten auf ihre nassen Strümpfe und Schuhe. Ihnen folgten Erwachsene, denen Risse und Wölbungen in der Eisdecke aufgefallen waren. Diese Wahrnehmungen alarmierten das Aufsichtspersonal, sofort musste gehandelt werden. Ein Trompeter blies kräftig zum Rückzug, ähnlich wie bei einer Feuerwehrübung. Dazu halfen energische Handzeichen, die Massen schleunigst an Land zu beordern. Nach wenigen Minuten schon schoben sich ausgebrochene Eisblöcke leicht übereinander. So endete an diesem Sonntag abrupt das Vergnügen. Kein Lamentieren war zu vernehmen, sondern männiglich freute sich bereits auf den nächsten Winter.

Bis zum Jahre 1922 war die Eisbahn der Treffpunkt der Riehener Jugend, und in all den Jahren sorgte Karl Schonlau dafür, dass durch die ungestörte Wasserzufuhr aus dem Mühleteich dieses winterliche Vergnügen nicht gestört wurde. Als 1926 der Eisweiher am Erlensträsschen zur offiziellen Eisbahn ernannt wurde, fand ein Kapitel Riehener Geschichte seinen Abschluss, das in den Herzen vieler heute alt gewordener Riehener weiterlebt.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1983

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