Eine Architektur des steten Neubeginns

Yves Stump

Silvia Gmürs Bauten sind so verschieden wie die Menschen, für die sie geschaffen wurden. Ihre Architektur ist nicht dem Trend verfallen, sondern stellt den Menschen ins Zentrum. Silvia Gmür erhielt den Riehener Kulturpreis 2001. Die Laudatio:

«Transparenz» heisst ein Essay von Colin Rowe und Robert Slutzky, der in den frühen Sechzigerjahren geschrieben wurde und 1968 von Bernhard Hoesli - langjährigem Professor für Architektur und auch Lehrer der heute Geehrten - herausgegeben und kommentiert wurde. Darin wird unter anderem ein Transparenzbegriff herausgearbeitet, der über die blosse Wörterbuchdefinition eines materiellen Zustandes, das heisst einer rein physischen Bedeutung von Licht- beziehungsweise Luftdurchlässigkeit oder der kritisch moralischen Auszeichnung für «leicht erkennbar» und «offensichtlich», hinausgeht.


Es wird anhand von Beispielen in der kubistischen Malerei und der modernen Architektur akribisch versucht, die verschiedenen Bedeutungsschichten aufzudecken, mit denen der Begriff der Transparenz ausgestattet ist, und die Synonyme «Raum - Zeit, Simultaneität, Durchdringung, überlagerung, Ambivalenz und Mehrdeutigkeit aufgrund gleichzeitiger Wahrnehmung» genau zu analysieren, wobei eindrücklich zwischen Sein und Schein der Transparenz unterschieden wird, um so das Verhältnis von Inhalt und Form in der Architektur zu klären, und die Frage, ob ein Bauwerk «ist» oder ob es «bedeutet».


Liebe Silvia Gmür, dieses Büchlein lag an meinem Geburtstag vor bald zwölf Jahren, als ich als junger Architekt bei dir arbeitete, auf meinem Arbeitstisch (es war dir nie ein Geburtstag einer deiner Mitarbeiter entgangen!) mit der Widmung: «für deine eigene Transparenz».


Und wenn ich mich heute mit deinem umfangreichen Werk befasse, wenn ich dich als Architektin und Baumeisterin sehe, mich an deine Arbeitsweise, an den Umgang mit Kollegen oder auch Bauherrschaften und Unternehmern erinnere, drängt sich dieser Begriff der Transparenz in all seinen Facetten hervor:

Offenheit, Grosszügigkeit und Weitsicht - komplex statt kompliziert - subtile Vielschichtigkeiten im Sinne einer Liberalität, die verschiedene Interpretationen zulässt und trotzdem zwingend in der Aussage, radikal in ihrer Klarheit ist. Es sind dies Beschreibungen, die aber keineswegs nur auf deine Architektur bezogen sind, sondern auch auf dich als Menschen zutreffen, der nie zwischen Berufs- und Privatleben unterschieden hat und Architektur und Kunst als integrierten, zwingenden Teil seiner selbst mit dem Alltag in ein Gleichgewicht gebracht hat, wo sich die Dinge und Schönheiten des Lebens ergänzen. Deine Philosophie,

deine Suche richtet sich immer nach einer Ganzheit; in der überzeugung, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.


Deine Bauten zeichnen sich aus durch klare Strukturen, durch Eleganz, durch räumliche Poetik. Du reizt die Sinnlichkeit der Materialien aus und verfolgst die Aussagekraft der Dinge bis ins Detail - nicht die erzwungene Machbarkeit als solche interessiert dich, sondern ein konstruktiver Ansatz, bei dem sich Material, Entwurf und Konstruktion gegenseitig bedingen. Wie Musik, die, virtuos gespielt, trotz höchstem Schwierigkeitsgrad leichtfüssig und genussvoll daherkommt, haftet deinen Projekten diese sympathische Leichtigkeit des Seins an. Dem Betrachter oder Bewohner bleibt das wohltuende Gefühl von schönem Licht, von harmonischen Proportionen oder Farben; vielleicht ohne zu wissen, welch enorme Arbeit, welch quälende Suche und Zweifel diese Präzision und Reduktion auf das Wesentliche oft abverlangt.


Obwohl der Ausgangspunkt deiner Entwürfe immer ein anderer und der Aufgabe beziehungsweise dem Ort entsprechend spezifisch ist, steht immer der Mensch im Mittelpunkt deines Interesses sowie die Frage nach dem eigentlichen Inhalt, nach dem Wesen und Ursprung einer Sache oder eines Themas:

Was ist ein Haus oder ein Spital, wie funktioniert eine Stadt und ihre Bewohner, wie hat sich die Bedeutung einer Typologie zwischen einst und heute verändert, wie die gesellschaftspolitischen Randbedingungen, und welches können adäquate Antworten auf diese Realitäten sein?


Oft sind es neue, unerwartete Ansätze und Gedankenfragmente - ob konkret oder konzeptionell -, die gesammelt, analysiert und einem neuen Sinn zugeordnet werden. Verschiedenste Aspekte der Wirklichkeit werden zum Motor deiner Kreativität, wobei du dich auf einen ungeheuren Fundus persönlicher Erfahrungen sowie kunst- und architekturhistorisches Wissen stützen und verlassen kannst.


Deine Beschäftigung mit der Baukultur führte dich von Vitruv über Palladio, Schinkel und Ledoux zu den grossen Meistern der modernen Architekten: Le Corbusier, Mies van de Rohe und Alvar Aalto, für den du in den jungen Jahren gar gearbeitet hattest. Und du hast wie Scharoun, Lubetkin oder Prouvé, die du intensiv studiertest - auf der Basis der grossen Meister, aber frei von deren Dogmen -, dein Architekturvokabular entwickelt und teilst mit ihnen das Interesse an einer Architektur, in der Licht, Raum, Struktur und Form die Rolle spielen, die ihr von je her zukommen; einer Architektur, die verständlich und pragmatisch ist, ohne ihre Präsenz heftig erklären zu müssen.


Insofern haben dich Modeströmungen und kurzlebige Tendenzen nie interessiert; so wenig wie die heutige Tendenz vieler Architekten, jeden gemachten Gedanken, jede Projektskizze zu publizieren. Bücher über dein Werk sucht man vergeblich. Obwohl viele deiner Visionen Papier geblieben sind, stehen deine Entwürfe immer im Interesse

der Realisierbarkeit. Nach der Umsetzung eines Projekts richtet sich deine Konzentration bereits auf die nächste Herausforderung, nicht auf die Aufbereitung des Alten.


Abgeschlossene Bauten siehst du als nützliche Möglichkeit der überprüfung deiner Ideen, als nötige Schritte einer persönlichen, intellektuellen Entwicklung und als Grundlage für das nächste Thema. Insofern ist - obwohl deinem Werk keine offensichtlich lineare oder formale Kontinuität zugrunde liegt - jedes Projekt Teil eines Prozesses denkerischer Entfaltung und ein weiterer Schritt einer kontinuierlichen Forschung.


Leben und Werk

Silvia Gmür studierte zwischen 1959 und 1964 Architektur an der ETH Zürich, wo Sie unter anderen auf die namhafte Professorengeneration Werner Moser, Roland Röhn und Bernhard Hösli trifft. Nach dem Studium verbringt sie Jahre in London, Paris und New York, wo sie im renommierten Büro Mitchell-Giurgola Erfahrungen in Grossprojekten sammelt.


1972, nach ihrer Rückkehr, eröffnet sie ihr eigenes Architekturbüro in Riehen und baut für sich und ihre Familie ihr Haus und erstes Werk am Waltersgrabenweg - eine Arbeit aus ihrer Sturm-und-Drang-Zeit, wie sie es selbst bezeichnet -, ein Haus, von innen nach aussen entworfen, wo sie experimentiert mit der Dynamik von Licht und Raumfluss, befreit von jedem vorbestimmten Formenkanon - das Alltagsleben als ästhetisches Ereignis gewürdigt und räumlich thematisiert. Das Haus zeugt von dieser Energie, von dieser Lust und auch dem Mut am Bauen; mehr noch ist es aber Ausdruck einer substanziellen Beschäftigung mit der organischen beziehungsweise expressionistischen Architektur eines Scharouns oder von Fehling + Gogel und die Kritik an einer eindimensionalen Entwicklung und Banalisierung der Moderne, die die Semantik von Funktionen und Geschehnissen vernachlässigt.


Zwischen 1979 und 1982 ist Silvia Gmür Assistentin bei Professor Dölf Schnebeli an der ETH Zürich. Aufgrund ihrer leidenschaftlichen, umfassenden Art, Architektur zu betreiben und zu leben, und ihrer Begabung, sie motivierend zukünftigen Architekten zu vermitteln, wird sie zwischen 1983 und 1985 zu einer Gastprofessur für Architekturentwurf berufen.


Zwischen 1987 und 1990 - inzwischen hat sie ihr Büro an die St.-Johannsvorstadt in den Erlacherhof verlegt, Tür an Tür mit der Architekturkoryphäe Otto Senn - realisiert sie ihr erstes grosses Projekt, die Sanierungen des Engelhofs am Nadelberg, eines Baus aus dem 14. Jahrhundert. Das heutige germanistische, slawistische und nordische institut der Universität Basel ist das Resultat einer intensiven Auseinandersetzung, wie mit alter Bausubstanz umgegangen werden kann und - wie ich meine - umgegangen werden soll:

Anhand subtiler, aber auch klarer Eingriffe - unter Wahrung der Struktur und der Charakteristik des denkmal

geschützten Hauses - gelingt es ihr, Alt und Neu zu einem selbstverständlichen und würdigen Nebeneinander zu fügen, ohne dass das Alte museal abgestanden beziehungsweise das Neue störend oder penetrant erscheint: Zeit und Kontinuität, Geschichte und Gegenwart bedingen sich gegenseitig und werden zu nötigen Komponenten eines ganzheitlichen Entwurfs.


Dementsprechend ist es nie das blosse Interesse an der Baukunst allein, das die Architektin zu aussergewöhnlichen Leistungen treibt: Es ist darüber hinaus der Wille, klare Stellung zu gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Fragen zu beziehen, und ihre Haltung, mittels ihres Werkzeuges - der Architektur - zu versinnbildlichen.


So auch beim Alterszentrum Luzernerring, einem gewonnenen Wettbewerb aus dem Jahre 1989. Hier setzt sie mittels eines eleganten, grosszügigen und vor allem einladenden Gebäudes ihr Bild vom Altwerden in Würde um und schafft mittels spannungsvollen, räumlichen Qualitäten, sinnlicher Materialisierung und der poetischen Kraft der Farbe eine lebensfrohe, wohnliche Stimmung, weit ab von all den geläufigen, morbiden und biederen Asylen, die einen erschreckend an einen Wartesaal erinnern und jedem Enkelkind ein Gräuel sein müssen.


Ebenfalls um eine Sanierung von wertvoller Bausubstanz diesmal aus dem zwanzigsten Jahrhundert - handelt es sich beim umfassenden Umbau des früheren Bürgerspitals, dem heutigen Klinikum 1 in Basel, dessen Planung 1989 begonnen hat und sich bis heute hinzieht. Auch hier basiert die hohe Qualität des Umbaus auf der vielschich

tigen Strategie Silvia Gmürs. Neben ihrem umfangreichen Wissen um die Architektur der Moderne und der präzisen Analyse Hermann Bauers Werk werden persönliche Erfahrungen eines längeren Spitalaufenthaltes in den Entwurfsprozess eingewoben, die dem Haus letztendlich abseits der rein funktionalen Abläufe eine für das Personal wie für die Patienten menschenfreundliche Aura verleihen.


Es folgen weitere verschiedene Umbauten von Wohn- und Geschäftshäusern in der Innenstadt, die wir alle kennen und uns als erfrischende, grosszügige, mit Liebe zum Detail gestaltete Kaufräume in Erinnerung sind wie der Papyrus oder das Geschäftshaus Kost-Sport an der Freien Strasse.


Mit ihrem inzwischen gewachsenen Team realisiert sie zahlreiche Einfamilienhäuser mit immer wieder neuen Ansätzen wie zum Beispiel das Haus Vischer im BäumlihofAreal. Mittels pavillonartigem Charakter wird hier versucht, den wunderbaren Park möglichst wenig zu tangieren. Oder das luxuriöse Zweifamilienhaus in Küsnacht mit raffinierter Schnittlösung, bei dem eine erstaunliche Frische erzeugt wird, indem Metalltafeln und Glasbausteine Materialien also, die man eher mit Industriebauten assoziiert - das äussere Bild bestimmen.


Mit dem Anbau eines Wohnpavillons an ein Haus von Bernoulli am Rütiring in Riehen gelingt ihr wiederum der Link des sich ergänzenden Nebeneinanders in harmonischem Kontrast und die Aufwertung von einem autonomen Körper zum räumlichen Ensemble. In den Grundmauern einer

Doppelgarage im Bruderholz wird für eine ältere Dame ein sympathisches Einraum-Haus gebaut, das durch präzise Querbezüge und filigrane Einbauten auf kleinstem Raum eine unerwartete Grosszügigkeit erreicht.


Jüngeren Datums sind die drei Häuser für drei Frauen am Hallwilersee; eine faszinierende Neuinterpretation und Mischung zwischen Solitär- und Kollektivbauten, bei der die zu Beginn angesprochene Mehrdeutigkeit und Transparenz ganz deutlich zum Ausdruck kommt, wie auch das Anliegen der Architektin, sich nicht mit den wuchernden Einfamilienhausorgien abseits jeglichen Urbanen Anspruchs abzufinden.


Es sind dies nur einige Beispiele des unermüdlichen Anspruchs, Architektur - egal welchen Ausmasses, welchen Genres - immer wieder neu zu hinterfragen und zu interpretieren, ohne, von vermeintlicher Routine und Sicherheit geblendet, die Kreativität zu opfern.


Darüber hinaus werden unzählige Wettbewerbe, Projektund städtebauliche Studien erarbeitet, die, obwohl oft unausgeführt geblieben, ebenfalls Teil dieser substanziellen Suche und des Interesses darstellen, sich an der gegenwärtigen Debatte der Alltagskultur zu beteiligen und mittels eigenständigen Statements den Architektur- und gesellschaftspolitischen Diskurs zu bereichern.


Mit der Beschäftigung rund um das Klinikum 1 war der Grundstein für die profunden Kenntnisse im Spitalbau

gelegt, die es Silvia Gmür und ihrem Team ermöglichten, 1992 den Wettbewerb für den Neubau des Bettenhauses des rätischen Kantons- und Regionalspitals Chur zu gewinnen und in den folgenden Jahren umzusetzen. Ein Spital, geprägt von Eleganz, Schönheit und Gelassenheit, in dem die Stimmung eines Grandhotels oder Sanatoriums aufkommt, fernab dieser gängigen, furchteinflössenden «Genesungsmaschinen». Im Innern wird das Nebeneinander von öffentlichkeit und Privatheit thematisiert: mittels differenzierten Raumsequenzen werden Gänge und Wartenischen - analog Strassen und Plätzen in einer Stadt - zu intensiv genutzten Begegnungsorten. Im Privatzimmer findet der Patient seine Ruhe und Intimität, wohltuend umgeben von der wunderbaren Bergwelt, die durch präzise gesetzte Fenstererker in Szene gesetzt ist.


Inzwischen hat Silvia Gmür über die Schweizer Grenzen hinaus das Renommee als Architektin mit qualitativ hoch stehendem Œuvre und gilt zudem als Spital-Fachfrau, die zu entsprechenden Wettbewerben, Konzeptstudien und Projekten im In- und Ausland eingeladen wird. So für das Kantonsspital Frauenfeld, für die Sonnenklinik in Riehen

oder für ein Spital in Mestre bei Venedig. Hier in Basel realisiert sie zurzeit die dem Klinikum 1 angegliederte neue Frauenklinik; einen kristallinen, lichtdurchfluteten Glaskörper, in dessen Innern eine Geburt nicht mehr mit Unfall und Krankheit assoziiert wird, sondern mit einem Ereignis, das in stimmiger, meditativer Atmosphäre stattfindet.


Entsprechend der überzeugung, dass Erneuerungen nötige Aspekte der Entwicklung sind, hat Silvia Gmür 1995 ihre Bürostruktur verändert: Letztere besprochene Projekte und wohl die zukünftigen - entstanden und entstehen in Zusammenarbeit mit Livio Vaccini, dem grossen Maestro aus dem Tessin, mit dem Silvia Gmür neben dem Büro in Basel nun auch in Locamo ein Team leitet.


Die Vielseitigkeit, die dem Werke Silvia Gmürs zugrunde liegt, haftet ihr ebenso ausserhalb des Bürobetriebes eindrücklich an. Sie ist Mutter von zwei inzwischen erwachsenen Kindern, hat also mit enormer Energie und Lust den Spagat zwischen selbstständiger Arbeit und Familie geschafft. Ihr kulturelles Engagement, ihre anspruchsvollen Projekte und die profunde Auseinandersetzung mit der Baukunst haben sie zu einer begehrten und oft eingeladenen Referentin gemacht, ihr schnelles, präzises Denken und ihre analytische Begabung zu einer der meist eingeladenen Juroren und Jurorinnen für Architekturwettbewerbe. Durch ihre kommunikative Art und Fachkompetenz ist sie Mitglied unzähliger Kommissionen und Beratungsgremien, 1985 bis 1988 war sie Obfrau des BSA Basel.


Deine viel gepriesenen Kochkünste, liebe Silvia, seien hier nur am Rande erwähnt, aber Kreativität und Leidenschaft, wie du sie lebst, hören natürlich nicht bei der Architektur auf. Dank Frauen wie dir - und vielleicht ist hier der Begriff der Pionierin gar nicht so falsch - hat sich das Architektenmetier in den letzten zehn bis zwanzig Jahren immer mehr zu einem gern gewählten Beruf für Frauen entwickelt. Du hast wohltuend die Dinge als Frau analysiert und für spezifische Themen deine weibliche Sensibilität eingebracht; hast mitunter klar gemacht, dass Planung und Städtebau keine Männersache sind. Du hast unsere Umgebung, unsere Stadt mitgedacht, mitgebaut, mitgestaltet - in Riehen leider noch weniger als in Basel; aber wer weiss, vielleicht ist auch da Veränderung angesagt. Wir danken dir heute für dein innovatives Werk und freuen uns weiterhin auf die Transparenz deiner Ideen, Visionen und Projekte.


Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2002

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