Erinnerungen ans Niemandsland


Gabrielle Alioth


«Wo kommst du denn her?», fragt das Eichhörnchen überrascht, während es über meinen Schreibtisch hüpft.


«Vom Bluttrainweg.»


Das Eichhörnchen grinst.


«Was gibt es da zu grinsen?»


«Das muss ein komischer Ort sein mit so einem Namen.»


«Es war das Paradies.»


Das Paradies


Ich wurde im Paradies geboren. Meine beiden älteren Schwestern liessen keinen Zweifel daran, denn im Gegensatz zu ihrem Leben begann meines nicht in einer düsteren Wohnung an der Vogesenstrasse 67 in Basel, sondern in dem hellen Einfamilienhäuschen am Bluttrainweg 9 in Riehen, das meine Eltern 1951, vier Jahre vor meiner Geburt, gekauft hatten. So hing anstatt des Fluchs einer kinderhassenden, im Treppenhaus lauernden Nachbarin der Zauber selbstgewählter Tapeten über meiner Wiege, und durch das Fenster schien die Sonne. 


Tatsächlich sind die ersten, noch erinnerungslosen Jahre meines Daseins von einer fast blendenden Helligkeit erfüllt, die sich auch auf den Fotos aus jener Zeit wiederfindet. Durch lichte Zäune geht der Blick auf Brachland und Bahndamm, und da sind die Umrisse des Niederholzschulhauses in der Ferne. Dort gingen meine Schwestern zur Schule, während ich die Tage im Garten verspielte.


«Eine glückliche Kindheit», stöhnt das Eichhörnchen. »Wie langweilig.»


Während eines Abendessens stellte meine Mutter fest, dass sie mich im Kinderwagen im Garten vergessen hatte. Der Rollladen wurde wieder hochgezogen, der Kinderwagen mit der schlafenden Jüngsten geborgen. Trotz all ihrem Elan müssen meiner Mutter die Ansprüche des Hausfrauenideals der 1950er-Jahre ab und zu über den Kopf gewachsen sein, und der Vorfall ging als ‹lustige Geschichte› in die Familienchronik ein. Er bestärkte allerdings auch meine später aufkeimenden Zweifel an meiner paradiesischen Kindheit, und tatsächlich sitze ich in meiner frühesten Erinnerung nicht am Rand des Sandkastens, auf der Schaukel neben dem Flieder oder plantschend im Waschzuber, sondern in dem rot-grün karierten Sportwagen, den jemand durch die Unterführung zwischen Wasserstelzenweg und Keltenweg schiebt.


«Gedächtnisforscher sagen, dass man sich erst ab drei Jahren erinnern kann», konstatiert das Eichhörnchen. 


«Das könnte etwa stimmen.»


«Und dass sich die Erinnerung jedes Mal, wenn man sie abruft, verändert.»


«Was willst du damit sagen?»


«Warum sollte dir gerade das in Erinnerung geblieben sein?»


«Ich weiss es nicht. Vielleicht war es eine Vorahnung auf mein rastloses Leben.»


Der Bahndamm


Was ausserhalb des elterlichen Gartens lag, übte von Anfang an eine unwiderstehliche Anziehung aus. Zwar war der Schotterweg hinter dem Haus einem Teerstreifen gewichen, und die Hasen und Füchse, die sich in den Kindheitserinnerungen meiner Schwestern dort Gutenacht sagten, bekam ich nie zu Gesicht. Aber da war der inzwischen von Dickicht überwucherte Bahndamm. Ein für Erwachsene unsichtbarer Einschlupf führte in die Wildnis, die von niedrigen Pfaden durchzogen war. Dort hockte ich in märchenhafter Geborgenheit, während die rotbraunen Räder der Züge zum Berühren nahe an mir vorbei brausten, und oft stellte ich mir vor, ich selbst würde einmal auf diesen Schienen in ferne Länder fahren.


«Der Bahndamm war so schmal, dass du deine Mutter aus dem Küchenfenster rufen hörtest, wenn es Mittagessen gab», wendet das Eichhörnchen ein. «Und der Zug fährt nur bis ins Wiesental.»


Weniger zugänglich, aber nicht minder faszinierend war das Areal der Baufirma Hupfer, das direkt an unseren Garten angrenzte. Dort ruhten, von hohen Zäunen umgeben, neben Betonröhren und Steinblöcken Teile von Kränen wie schlafende Monster auf einer im Sommer blühenden Wiese. Auch die sieben Zwerge wohnten dort, der Froschkönig und all die Tiere aus den Gutenachtgeschichten meines Vaters.


Das Eichhörnchen räuspert sich.


«Ja doch, auch Eichhörnchen.»


Tatsächlich huschte ab und zu ein Wiesel über die verrostenden Kranträger, und in Herbstnächten krochen Igel unter dem Zaun hindurch in unseren Garten hinein, wo der Hund sie jaulend umkreiste. Der geheimnisvollste Ort meiner Kindheit allerdings lag vor den Blicken verborgen hinter dem Landauerkirchlein.


Die Kiesgrube 


Die alte Kiesgrube jenseits des Bluttrainwegs diente der öffentlichen Müllabfuhr als Deponie. Wir sahen die Lastwagen ein- und ausfahren, rochen sie natürlich auch, und wenn der Abwart des Landauerkirchleins mit dem Gewehr über der Schulter den Blutt-rainweg hinunterging, wussten wir, dass die Ratten wieder überhandnahmen. Als die Gemeinde etwas weiter oben am Rande des Geländes ein Gebäude mit Tiefkühlanlagen baute, füllte sich der Strassengraben vor unserem Haus mit sterbenden Salamandern und bestärkte mich im Glauben, die Müllhalde sei eine Pforte zur Unterwelt. Gesehen habe ich sie allerdings nie. Die Warnungen meiner Eltern müssen so drastisch gewesen sein, dass ich nicht wagte, auch nur einen Fuss auf den Weg zu setzen, der zu der Grube führte, und vielleicht taucht sie deshalb bis heute in meinen Träumen als Ort der ewigen Verdammnis auf.


Etwas von dem Grauen der Kiesgrube haftete auch am Landauerkirchlein und seinem gewehrtragenden Abwart. Ich bemitleidete die Kinder, die in der roten Holzbaracke in den Religionsunterricht mussten, und das schrille Glockengeläut, das uns am Sonntagmorgen aus dem Schlaf riss, konnte nichts Gutes verkünden. Wie die anderen Bewohner des unteren Bluttrainwegs waren wir froh, als das Kirchlein dem Freizeitzentrum wich, auf dem Areal der Kiesgrube Spielplätze entstanden, und begriffen erst später, dass unsere Abgeschiedenheit dadurch endgültig zerstört wurde.


«Manchmal verwechselt das Gehirn Dinge, die hätten sein können oder hätten sein sollen, mit echten Erinnerungen.»


«Sagen die Gedächtnisforscher?»


«Genau.» 


Die Gärten der Nachbarn


Als ich in den Kindergarten kam – in einem der pyramidenförmigen Bauten am Langenlängeweg, in dem eine Kindergärtnerin mit hoch toupiertem Haar mich meinen Fantasien überliess –, gingen meine Schwestern bereits in der Stadt zur Schule, und die Auswahl an Spielgefährten in den sieben Reihenhäuschen am Bluttrainweg war und wurde beschränkt. Am liebsten sahen es meine Eltern, wenn ich mit der Tochter des geschiedenen Inhabers eines Elektroinstallationsgeschäfts spielte. Diese verbrachte jede Woche einen Tag bei ihrer Grossmutter, die in Nummer fünf wohnte, und ich durfte sogar zum Abendessen dort bleiben. Nie wieder in meinem Leben habe ich so gute Bratkartoffeln gegessen wie bei Frau Mauch, und dass ich in einem Frühling, allein auf der Strasse, meine Hand durch ihren Gartenzaun streckte, um eine der damals noch seltenen armenischen Traubenhyazinthen zu pflücken, erfüllt mich bis heute mit Scham. Selbstverständlich liess die Strafe nicht auf sich warten. Mein Arm blieb stecken im Zaun, mein Heulen rief den – für einmal gewehrlosen – Abwart des Landauerkirchleins herbei und dieser verständigte meine Mutter. Mit zusammengepressten Lippen rieb sie meinen Arm mit Seife ein, bis ich ihn aus dem Zaun ziehen konnte. Ein blauer Punkt unter meinem Ellenbogen zeugt bis heute von meiner Missetat.


Meine Eltern bemühten sich um ein gutes Verhältnis mit allen Nachbarn, aber meine Mutter machte keinen Hehl daraus, dass es Unterschiede gab. Als Tochter eines im Zürcher Kantonsrat aktiven Bäckermeisters in Feuerthalen aufgewachsen, war sie nach der Heirat mit meinem Vater – Sohn eines Schaffhauser Bahnangestellten und Buchhalter bei der J. R. Geigy AG – nach Basel gekommen, und sie hatte klare Vorstellungen von den Leuten, mit denen wir Umgang pflegen sollten. Die Kinder aus dem Nachbarhaus am Bluttrainweg zum Beispiel gehörten im Grunde nicht dazu, aber es waren die einzigen, die – nachdem die Tochter des Elektroinstallateurs aus mir unerklärten Gründen ausblieb – altersmässig in Frage kamen, und so liess meine Mutter mich mit vielen Warnungen ziehen. Ich glaubte, ihre Vorbehalte zu verstehen, denn das Nachbarhaus war eine fast vorschriftsfreie Zone. Wir durften ohne zu fragen Getränke aus dem Kühlschrank nehmen, den Fernseher einschalten, im Garten die Haselnüsse von den Sträuchern pflücken, und der Mann, der an manchen Nachmittagen seinen Hupfer-Lastwagen auf dem Teerstreifen hinter dem Haus parkierte, brachte uns Schokolade mit. Wenn er dann mit der Mutter meiner Spielgefährten im ersten Stock des Hauses verschwand, mussten wir – und diese Vorschrift galt unter allen Umständen – im Garten bleiben. Erst Jahrzehnte später verstand ich, warum.


«Die Nuss der Erkenntnis», meint das Eichhörnchen und hüpft davon.


Während man sich mit den Bewohnern der Reihenhäuschen mehr oder weniger freudig arrangierte, war der Kontakt mit den Kindern vom Rüchligweg weiter ‹unten› schlichtweg verboten. In den Sozialwohnungen hausten Banden von gefährlichen Buben, und noch als Teenager machte ich lieber einen Umweg, als durch die Siedlung zu gehen. Nur einmal wagte sich ein Rüchligweg-Mädchen zu uns an den Bluttrainweg hinauf. Sie war etwas älter als ich, hatte blondes Haar und einen Hund. Sie kämmte ihr Haar, dann warf sie den Kamm ins hohe Gras und der Hund fand ihn wieder. Über Wochen versuchte ich das Schalk, unserem Familienhund, beizubringen, aber er verweigerte sich in sturer Terriermanier – und irgendwann verleidete mir das Kammsuchen.


Am Hang oben 


Schalk war der Hauptgrund, um grössere Kreise durch das Niederholzquartier zu ziehen. Zusammen mit meiner Mutter und später allein spazierte ich in die Langen Erlen, manchmal via Habermatten und Spittelmattweg, manchmal über das Pfaffenloh und die Grendelmatte oder vom Niederholzboden zum Entenweiher, um dort altes Brot zu verfüttern. In dem Frühjahr, als mein naturwissenschaftliches Interesse erwachte, fischte ich Kaulquappen aus den Gräben neben dem Teich und verfolgte ihre Entwicklung in einem Bülacher Glas, bis meine Mutter mich zwang, meine inzwischen vierbeinigen Forschungsobjekte in ihr natürliches Umfeld zurückzubringen. Einen weiteren Einblick in die Fortpflanzung gewährte mir der Exhibitionist, der mich und Schalk an einem Winternachmittag am verlassenen Entenweiher überraschte. Ich verschwieg die Begegnung, auch weil ich gar keine Wörter kannte, um das Gesehene zu beschreiben.


Ab und zu führte der Hundespaziergang die Bäumlihofstrasse entlang, um in der GGG Hirzbrunnen neue Bücher auszuleihen, und ganz selten gingen wir ins Dorf. Erst in der kurzen Zeit, in der ich widerwillig bei den ‹Bienli› war, begann ich Riehen Dorf zu entdecken, aber es blieb genauso fern wie Basel Stadt. Geografisch und gesellschaftlich lebten wir in einem Dazwischen, gehörten weder hierhin noch dorthin, und vielleicht war es deshalb so wichtig, sich den richtigen Leuten anzuschliessen. Diese, das war klar, wohnten weiter oben am Hang. Sie hatten freistehende Häuser, in ihren Gärten hängten Putzfrauen die Wäsche auf und ihre Väter fuhren teurere Autos als einen Opel Kapitän. Manche von ihnen schickten ihre Kinder ins Niederholzschulhaus, und dort, in der Klasse von Fräulein Gessler, lernte ich sie kennen.


Ich kann mich nicht erinnern, ob ich die andere Gabi, die in meine Klasse ging, 
besonders mochte, aber sie gehörte zu den Kindern, die meine Mutter an das Fest zu meinem sechsten Geburtstag einlud. Als eifrige Leserin von Hausfrauenzeitschriften hatte sie die Kindergesellschaft in allen Einzelheiten geplant, es wurden Spiele 
gespielt, Kuchen gegessen, Geschenke verteilt, und ich glaube, meine Mutter war zufrieden mit der Party. Wie erhofft, kam kurz darauf die Einladung zum Geburtstagsfest der anderen Gabi. Ich trug eine der weissen, mit kleinen Kutschen bestickten Kunststoffblusen, die meine Tante aus Amerika einige Jahre zuvor meinen Schwestern geschickt hatte, und meine Mutter begleitete mich den Bluttrainweg hinauf. Ich sehe die glatten Stufen noch, die zwischen Blumenrabatten in den unübersehbaren Garten führten, in dem die Geburtstagsspiele stattfanden. Da war ich bereits allein mit Gabi und ihren Freundinnen.


Am Tisch


Ich habe nie gern Spiele gespielt. Mit zwei älteren Schwestern war ich als Verliererin geboren und lernte, mich dem Wettbewerb zu entziehen. Gewiss war ich erleichtert, als Gabis Mama uns ins Haus rief, wo eine lange Tafel für uns aufgebaut war. Ich sass einige Plätze vom Geburtstagskind entfernt vor dem mit meinem Namen beschilderten Teller und ass mein Stück Kuchen, als das Unfassbare geschah: Mein Teller bewegte sich. Auf der rechten Seite hob und senkte er sich. Ich erstarrte. Die anderen Kinder verstummten, beobachten meinen Teller, mich. Noch heute spüre ich mein Entsetzen: Womit hatte ich dieses unerklärliche Ereignis ausgelöst? Was hatte ich falsch gemacht? Kein anderer Teller bewegte sich. Gabi, auf ihrem Ehrenplatz am Kopfende der Geburtstagstafel, kicherte, und dann begannen auch die anderen zu lachen. Mein Teller hob und senkte sich immer heftiger. 


Die Ursache war ein winziger, vom Tischtuch verborgener Ballon unter meinem Teller, den Gabi von ihrem Platz aus durch einen Schlauch aufpumpen konnte. Ich weiss nicht mehr, ob ich irgendwann in das Gelächter der anderen miteinstimmte, auf jeden Fall war ich erleichtert, als ich den Vorgang verstand, ein harmloser Scherz. Entsetzlich blieb, dass Gabi gerade mich dafür ausgewählt hatte. Als meine Mutter im folgenden Jahr fragte, ob ich wieder ein Geburtstagsfest möchte, lehnte ich ab. Mit dem Scharfblick einer Siebenjährigen hatte ich erkannt, dass ich nicht zu den Kindern am Hang oben gehörte, so wie die Kinder von ‹weiter unten› bei uns nicht willkommen waren.


So verlebte ich meine Primarschulzeit im Niemandsland zwischen Kiesgrube und Bahndamm. Das aus einer angesehenen Lehrerfamilie stammende Fräulein Gessler hatte klare Vorstellungen von der Ordnung der Welt, und am Ende der vierten Klasse hielt sie zehn meiner Mitschüler für das Gymnasium geeignet. Von uns Mädchen war niemand darunter. Noch heute erinnere ich mich an das Schmunzeln meines Vaters, als er mit der Bemerkung, dass er überhaupt nur diesen Teil des Anmeldeformulars ausfüllen könne, dennoch auch seine dritte Tochter aufs Mädchengymnasium in die Stadt schickte.



Der Fortschritt


Bisher hatte sich das Leben am Bluttrainweg schleichend, wenn auch unausweichlich verändert. Die Dampflokomotiven, die zu Beginn der Fünfzigerjahre noch ab und zu ins Wiesental fuhren und die zum Trocknen im Garten aufgehängten Leintücher meiner Mutter mit schwarzen Russflecken übersäten, waren verschwunden, ebenso das Pferd, das den Wagen des Milchmanns zog und von meiner ältesten Schwester mit Würfelzucker gefüttert wurde. Eine Weile kam ein Gemüsemann mit einem Lieferwagen, der wie ein fahrender Marktstand aussah, und ich erinnere mich an Verhandlungen über Spinat und Fenchel, die dann auf unseren Mittagstisch kamen. Als er ausblieb, kauften wir in der Migros im Niederholzboden ein und in der Metzgerei daneben, in der zuerst ich, später Schalk jeweils eine Scheibe Lyonerwurst bekamen. Als 1978 das Rauracherzentrum eröffnet wurde, war ich daran, mein Studium abzuschliessen und ins Kleinbasel zu ziehen. In meiner Primarschulzeit war das Areal ein offenes Feld mit einem kleinen Abhang, den wir im Winter zum Schlitteln benützten, und – wichtiger – da war ein Holzhäuschen mit einem Kiosk, in dem wir unser Taschengeld gegen ‹Coci-Fröschli› eintauschten.


«Und Tiki!» Das Eichhörnchen sitzt wieder neben meinem Laptop.


«Stimmt. Die Brausetabletten, die auf der Zunge prickelten, während sie sich auflösten.»


«Zucker, Zitronensäure, Natriumhydrogencarbonat …» 


Der technologische Fortschritt wurde vor allem in der bereits erwähnten Tiefkühlanlage fassbar, in der auch meine an allen hauswirtschaftlichen Neuerungen interessierte Mutter ein Fach mietete. Während einigen Wochen las sie Zeitschriften über die richtige Behandlung von Einzufrierendem, und in der Küche lagen Plastiktüten, in die das blanchierte Gemüse möglichst luftdicht verpackt wurde. Mit diesen marschierten wir dann zum Gefrierhaus. Unser Fach war im Keller hinter einer Wand von Aluminiumtüren. Nach der Eingabe einer Nummernkombination öffnete sich eine davon, rote und grüne Lichter blinkten und ein knatternder Mechanismus schob die Fächer an uns vorbei, bis unser eigenes erschien.


«Raumschiff Enterprise.»


«Genauso sah es aus.» 


«Manchmal erinnert man sich an Dinge, die gar nie geschahen, die man nur irgendwo gelesen oder in einem Film gesehen hat.» 


Mit dem Wechsel vom Niederholzschulhaus Riehen ins Mädchengymnasium Basel am Kohlenberg veränderte sich mein Leben über Nacht. Ich wurde zur Pendlerin: morgens mit dem Bus vom Rüchligweg an die Habermatten, dann mit dem Sechsertram an den Barfüsserplatz, fürs Mittagessen zurück nach Hause und am Nachmittag das Ganze nochmals. Natürlich war ich nicht die Einzige auf diesem täglichen Treck, und man traf sich im ‹Schülerpfeil›, dem Schülerwagen des Sechsers. Er war mit Märchen- und Micky-Maus-Figuren bemalt und sein Kondukteur hatte mehr als nur ein Herz für Kinder. Er war unser Freund, hörte sich unsere Sorgen an, half auch mal bei Hausaufgaben – und er erinnerte sich an unsere Geburtstage. Die rote Papiernelke, die ich von ihm bekam, liegt noch heute in einer der Schachteln mit meinen Schulheften.


Die Stadt


So wohlbehütet ich auf der Tramfahrt in die Stadt auch war, sie führte mich doch aus der vertrauten Welt hinaus und verschob meinen Blick auf diese. Nach meinem Wohnort gefragt, sagte ich nicht mehr Bluttrainweg, sondern Riehen. Das klang fast so gut wie Bruderholz, und dass ich in einem Einfamilienhaus wohnte, mit einem Garten, einem Hund, suggerierte eine beneidenswerte Ungebundenheit. Mein Zuhause wurde zur Zuflucht, in die ich mich vor den Anforderungen von Schule und Stadt zurückziehen konnte. Ich begann das Dazwischen, dem vom Kohlenberg aus betrachtet ein Hauch von Exotik anhing, zu schätzen. Nachmittage im Wenkenhof, auf der Chrischona, Samstagabende in Discos und an Konzerten im Wasserstelzenschulhaus, in der Kornfeldkirche. Auf dem ausgeliehenen Moped meiner Schwester, dann auf meinem eigenen fielen räumliche und zeitliche Schranken, und das Quartier meiner Kindheit wurde zu einem fast zufälligen Ausgangspunkt. Mit gelassenem Interesse nahm ich seine Veränderungen über die Jahrzehnte wahr und überschätzte diese wohl auch. Denn trotz Neubauten und Sanierungen scheint mir heute vieles noch so, wie es war: das Schulhaus, der Bahndamm, die Gärten.


«Ein Paradies?»


«Ein Ort in der Vergangenheit.»


«Wo die sieben Zwerge und der Froschkönig wohnen?»


«Und vorlaute Eichhörnchen.»


Beleidigt wendet sich das Eichhörnchen ab und trippelt zum Schreibtischrand. «Dort also kommst du her.»


Ja, will ich sagen, dort habe ich gelernt, was oben und unten ist und wie man dazwischen lebt. Ein Ort, der klein genug war, um grosse Träume zu haben, sicher genug, um ihn zu verlassen, ein Ort, den ich mit mir trage, wohin ich auch gehe, und den es vielleicht gar nie gab. Aber das Eichhörnchen ist verschwunden.


 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2016

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