Ernst Ludwig Ehrlich - Anwalt biblischer Ethik

Marlene Minikus

Professor Dr. Ernst Ludwig Ehrlich ist in diesem Jahr 75 Jahre alt geworden und seit über zwanzig Jahren in Riehen zuhause. In seinem Heim an der Hirzenstrasse beantwortete der prominente Vertreter des christlich-jüdischen Dialogs für das Riehener Jahrbuch am 19. September 1996 Fragen über seine Erkenntnisse und Anliegen.

Herr Professor, was ist für Sie das Wesentliche an der jüdischchristlichen Zusammenarbeit? Was wäre anders, wenn in Gesellschaft und Politik religiöses Erbe mehr zum Tragen käme?

Es ist richtig, dass ich mich seit 40 Jahren für den christlich-jüdischen Dialog exponiere. Dieser Dialog hat zwei wesentliche Seiten: Erstens die Bekämpfung der Vorurteile, die nun seit Jahrhunderten über Juden im Umlauf sind, zweitens die Begegnung zwischen zwei Religionen, die ein gemeinsames Erbe haben, nämlich die hebräische Bibel sowie Teile des sogenannten Neuen Testaments. Die Frage ist durchaus berechtigt, was eigentlich eine Begegnung zwischen Juden und Christen auf dem Hintergrund ihrer religiösen Quellen der Welt bringen kann. Mir scheint hier eine Antwort verhältnismässig leicht zu sein, und sie kann zugleich sehr kurz sein: Es ist die Ethik.

Es ist die Ethik auf allen Gebieten, die Juden und Christen gemeinsam haben und in diese Welt trugen. Die Ethik Jesu basiert voll und ganz auf der hebräischen Bibel, und sie ist so eingedrungen in das Neue Testament. Es ist die Aufgabe von Juden und Christen, gemeinsam und getrennt, diese Ethik der Welt zu verkünden. Von daher schon ist eine Begegnung wichtig; nicht nur für jene Juden und Christen, die sich im Dialog begegnen, sondern das müsste auch in die Welt ausstrahlen. Insofern hat der christlich-jüdische Dialog eine weit grössere Bedeutung als die Bekämpfung des Antisemitismus allein.

Könnte diese gemeinsame Aufgabe nicht auch von beiden Partnern einzeln erfüllt werden: durch Christen wie durch Juden, die ihre Ethik in die Welt hineintragen?

Es ist wichtig, dass wir gemeinsam das biblische Erbe verkünden. Es ist nicht so, dass die Christen ohne Juden und Judentum legitim existieren können. Sie begegnen in ihren religiösen Quellen ständig den Juden - in der hebräischen Bibel natürlich, aber auch im Neuen Testament. Jesus und die Apostel waren Juden, Paulus war ein hellenistischer Diaspora-Jude. Das Judentum lässt sich aus der christlichen Tradition nicht eliminieren. Wenn man dies versuchte, würde man das Christentum verfälschen. Das ist in der Geschichte geschehen, zuletzt durch die Deutschen Christen, aber die Besinnung auf das gemeinsame Erbe stellt eine geistige Bereicherung dar. Es gibt heute keinen jüdischen Religionsgeschichtler, der nicht die Gestalt dieses Jesus von Nazareth zu würdigen weiss: Er integriert sie in das Judentum der Spätantike; sieht, wie dieser Jesus sein Judentum artikulierte, predigte und vor allem verpersönlichte - das heisst, er lebte es. Das ist auch für Juden ein wichtiges Kapitel ihrer Religionsgeschichte. Dass Christen in Jesus von Nazareth mehr und anderes sehen, trennt uns; aber auszugehen haben wir vom historischen Jesus.

Ist aber die religiöse Dimension nicht sehr stark aus dem öffentlichen Leben verschwundeil?

Ich würde das nicht so sagen. Alle Kinder, die getauft wurden, bekommen Religionsunterricht. Wenn er falsch dargeboten wird, werden Antisemiten herangezüchtet; wenn er den Quellen entspricht, erhalten die jungen Menschen ein geistiges Fundament, das sie für ihr weiteres Leben benötigen. Ich möchte daher die Bedeutung des Religionsunterrichtes nicht unterschätzen. Er kann viel Unheil anrichten - und er kann ein grosser Segen sein. Ich wünschte mir, dass die Katecheten sich ihrer vollen Verantwortung bewusst wären, dass sie eine weit grössere Bedeutung für die jungen Menschen haben als der Französisch-, Mathematik- oder Geographielehrer. Hier werden schon in der Kindheit und Jugend Weichen gestellt, die ungemein wichtig sind, weil der Grund gelegt wird für zukünftige menschliche Einstellungen.

Diese grundlegenden Einstellungen schlagen sich später in politischen Entscheidungen nieder. Verordnungen zur Flüchtlingspolitik lauten heute teils wieder wie vor fünfzig Jahren...

Die Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg ist zutiefst unethisch und zweifellos von antisemitischen Bestrebun gen beeinflusst gewesen. Als nämlich im Jahre 1943 italienische Soldaten in die Schweiz flüchteten, da war das Boot, das 1942 angeblich voll war, wie es sich um Juden handelte, 1943 gar nicht mehr voll, und Zehntausende wurden aufgenommen. Die Flüchtlingspolitik des Bundesrates - es hat wenig Sinn, einzelne Namen herauszuklauben, es war der Gesamtbundesrat - hatte mit christlicher Ethik nichts mehr zu tun, und wenn solche Leute sich auf das Christentum beriefen, wären sie Heuchler.

Damals also Antisemitismus; heute möchte man keine Leute aus Ex-Jugoslawien, keine Moslems...

Seit Ende des Zweiten Weltkrieges, wo es sich nicht mehr um Juden handelte, wurde eine relativ large Flüchtlingspolitik betrieben. Das war so bei den Ungaren 1956 und 1968 bei den Tschechen. Bei den Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien, einschliesslich der Muslime, hat sich die Schweiz nicht verschlossen. Worum es heute geht, ist ihre Rückkehr in die ehemalige Heimat, und hier sollte man mit grosser Sorgfalt prüfen, was zumutbar ist. Man kann nicht Menschen, die kein Heim mehr haben und die in eine feindliche Umgebung kämen, nach irgendeinem Paragraphen aus der Schweiz hinausbefördern. Hier wäre auch eine wichtige Aufgabe für die schweizerische Entwicklungshilfe, um den Leuten an Ort und Stelle zu ermöglichen, sich eine neue Existenz aufzubauen.

Wie sind Sie seinerzeit nach Riehen gekommen ?

Ich bin seit nunmehr 53 Jahren in der Schweiz und im Kanton Basel-Stadt. Wir haben zuerst auf dem Bruderholz gewohnt und sind vor 21 Jahren nach Riehen gezogen. Im Oktober 1943 habe ich meine Studien an der Universität Basel begonnen, im April 1950 promoviert an der philosophischen Fakultät, und vor einigen Jahren den Ehrendoktor der theologischen Fakultät Basel bekommen, wofür ich sehr dankbar bin. Ich bin seit 32 Jahren Schweizerbürger und bin es sehr gern. Wenn ich mich und meine Identität definieren müsste, würde ich sagen, ich bin ein Schweizer, gehöre zum jüdischen Volke und bin deutscher Herkunft. Das deckt, glaube ich, meine Identität, wie ich sie empfinde, und Sie sehen auch da ein wenig die Gewichtung.

In dieser Reihenfolge: Schweizerbürger, Angehöriger des jüdischen Volkes, deutscher Herkunft - und jüdischen Glaubens?

Ja, ja. Das ist ja eins. Man kann nicht zum jüdischen Volke gehören, ohne der jüdischen Religion anzugehören!

Andere Völker verstehen das zum Teil anders. Für Sie lassen sich Ihre Herkunft und Ihre Religion nicht trennen?

Das Judentum umschliesst die Geschichte des jüdischen Volkes von Abraham an bis zum heutigen Tage, und aus dem Begriff «jüdisches Volk» lässt sich die Religion nicht herausamputieren. Es gibt natürlich Juden, die sich als Agnostiker bezeichnen. Besonders wenn es sich um geistige Menschen handelt, habe ich da immer das Gefühl, dass sie nach aussen mit etwas kokettieren - aber doch durch das Judentum innerlich geprägt worden sind: Selbst wenn jemand die Synagoge nicht besucht und die jüdisch-religiösen Formen nicht beachtet - ein anderer Jude spürt, dass sein Gegenüber Jude ist. Man kann die Grösse und die Last einer Geschichte von drei Jahrtausenden, in die man hineingeboren ist, nicht einfach loswerden und abstreifen.

Ich finde schön, was Sie gesagt haben. Aber gilt gleiches nicht auch für die abendländische Kultur? Auch Leute, die sich als ungläubig bezeichnen, sind von der jüdisch-christlichen Tradition geprägt, ob sie dies wahrhaben wollen oder nicht.

Ich kann Ihnen nur recht geben. Wenn Sie an Leute aus einer bestimmten Partei denken, die auf ihre Fahne die soziale Gerechtigkeit geschrieben haben, so müssen Sie sich fragen, woher diese kommt. Sicher nicht aus dem Marxismus-Leninismus, sondern von den Propheten der hebräischen Bibel und von dem Juden Jesus von Nazareth. Was politisch als «soziale Gerechtigkeit» bezeichnet wird, ist nichts anderes als die Säkularisierung des biblischen Erbes. Keiner hat das klarer gesehen als die grosse Gestalt des religiösen Sozialismus, Leonhard Ragaz, und die Schweizer haben allen Grund, stolz zu sein auf diesen Sohn ihres Volkes. Er hat auf die Quellen hingewiesen, aus denen der Kampf um die soziale Gerechtigkeit kommt: Aus der Bibel, und zwar aus beiden Teilen dieses grossen Buches. Und das könnte man vielleicht den Leuten wieder in Erinnerung rufen.

Wir feiern nächstes Jahr das 100-Jahre-Jubiläum des ersten Zionistenkongresses. Da scheint manches unklar zu sein...

Worum es im nächsten Jahr geht, ist die Erinnerung daran, dass in Basel im Jahre 1897 Theodor Herzl den politischen Zionismus begründet und damit etwas auf den Weg gebracht hat, was schon Jahrhunderte vorher in der jüdischen Tradition begründet war. Man versteht den Zionismus überhaupt nicht, wenn man ihn als ein politisches Phänomen der Neuzeit betrachtet. Er ist tief verwurzelt im Gebetsleben der Juden. Theodor Herzl wäre im Jahre 1897 verlacht worden, wenn er nicht an eine sehr lange religiöse Tradition hätte anknüpfen können. Das Ziel des Zionismus war eine politische Heimstätte für die Juden, damals vor allem aus dem Osten, und daraus ist dann 1948 der Staat Israel entstanden. Wenn man heute die Väter und Urväter des Zionismus fragen könnte, ob er sein Ziel erreicht habe, würden sie sagen, nur was die Staatlichkeit anbetrifft; er hat es noch nicht erreicht, was die geistige Formung der Menschen anbelangt. Zionismus hat auch zum Ziel gehabt, einen andern Staat zu gründen, der auf dem Boden von Gerechtigkeit beruht.

Israel hat 1967 palästinensische Gebiete in seine Verwaltung genommen - das ergab der Verteidigungskrieg. Es hat sich damit auseinanderzusetzen, dass auf seinem Gebiet Palästinenser leben, denen volle Gerechtigkeit zuteil werden muss. Das ist nach Jahrzehnten der Feindschaft nicht leicht, aber es ist die Pflicht gerade des Staates Israel auf dem Hintergrund seiner biblischen Botschaft, den Palästinensern ihr Selbstbestimmungsrecht zu geben, damit sie zu einem würdigen Dasein gelangen. Es ist tragisch, dass Itzhak Rabin sein Friedenswerk nicht vollenden konnte: Bei ihm hat sich die Mehrheit der Israelis sicher gefühlt, ihm hat man geglaubt, dass er kein Risiko eingehen wird, das die Sicherheit Israels gefährdet. Die Mehrheit der Israelis war gewillt, in Friedensverhandlungen mit den Palästinensern die Voraussetzung für ein friedliches Nebeneinander zu schaffen. Wir können nur hoffen, dass auch die derzeitige Regierung wieder voll und ganz den Weg des Friedens geht, den Rabin vorgezeichnet hat. Eines Tages wird man erkennen, dass es keine Alternative gibt. Die grösste Sicherheit, in der Israel leben kann, ist ein gerechter Friede mit den Palästinensern.

Biographisches

1921 geboren in Berlin. 1943 Flucht in die Schweiz. 1943-1950 Studium an der Universität Basel. Dr. phil. und Dr. theol. h.c.. Lehrtätigkeit an den Hochschulen von Frankfurt, Berlin, Basel, Bern. Zentralsekretär der Christlich-Jüdischen Arbeitsgemeinschaft Schweiz. Direktor von B'nai B'rith für Europa. Mitglied in vielen interkonfessionellen Gremien. Verfasser zahlreicher Publikationen über Judentum und christlich-jüdischen Dialog.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1996

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