Hermann Schneider 1901-1973

Hansrudolf Schwabe

Am 24. Juli 1901 ist im Kleinbasel Hermann Schneider auf die Welt gekommen, der spätere Dichter, der in Riehen seinen Wohnsitz aufschlug und in seiner ganzen Art sich bewusst als Riehener fühlte. In seinen Adern war Blut aus der Stadt, aus dem Baselbiet und aus dem Markgräflerland vereinigt. In seinem Wesen und seinem Werk liess sich der Geist Johann Peter Hebels spüren, jenes Mittlers zwischen Basel und dem Wiesental, jenes Deuters des «änedra», als der sich auch sein Nachfolger immer verstand, und jenes Künders einer höheren Ordnung hinter aller menschlichen Kleinlichkeit.


Der Bub wuchs im Kleinbasel auf und ist zeit seines Lebens kleinbaslerisch urwüchsig geblieben. Sein Naturell strömte nichts grossbaslerisch Geschraubtes aus, seine Art blieb bis in die letzten Jahre einfach und volksverbunden. Gezwungenermassen, wie vor ihm Theobald Baerwart, begab er sich über den Strom, um das Gymnasium zu besuchen. Sein Blick blieb von der Pfalz aus nordwärts gerichtet, hinüber zu den sanften Abhängen des Dinkelbergs. Seine ersten dichterischen Werke, die Dialektdramen «Dr Bammert» und «Die silbrigi Glogge im Rhy» etwa oder das grossartige «Spil vom liebe Gott», spielen alle im Raum zwischen dem Münster und dem Schlipf am Tüllinger Hügel, zwischen Rhein und Wiese. In diesem Raum, so hat mir Hermann Schneider einmal gesagt, empfinde er mehr als anderswo das Gefühl der Geborgenheit im Verborgenen, des «Heimeligen im Unheimlichen». Der Hörnlifriedhof sei an der richtigen Stelle angelegt worden.


Sein schriftstellerisches Talent entfaltete Schneider erstmals beim Studium der deutschen Literatur, der Kunstgeschichte und der Philosophie an der Universität Basel. Damals bestand in der Stadt die kulturelle Vereinigung «Quodlibet» mit ihrer blühenden Dialekttheatergruppe. Für sie schuf er Dialektdramen, die teils im Saal des Kaufmännischen Vereins bei der Lys, teils aber auch im Kreuzgang des Münsters aufgeführt wurden. Hermann Schneider führte selbst Regie, begleitet und unterstützt von seinen Freunden und Mitspielern Otto Müller und Max Reinbold. Es war ein begeistertes und begeisterndes Spielen damals, vielleicht ein wenig kleinstädtisch-intim, aber immer aufs Grosse, Weite ausgerichtet. Und schon damals der Blick aufs «änedra », der sich auch dem jungen Buben einprägte, der das fast im Rhein ertrinkende Kind in der «Silbrige Glogge» zu spielen hatte. Die Wirtschaftskrise herrschte, es gab Spannungen zwischen den sozialen Schichten, die heute kaum mehr denkbar wären, und über allem das reine Suchen nach dem Höheren, vielleicht im Rhein oder unter der Erde gleich einer silbernen Glocke Verborgenen, das allen Menschen gehört. Die Figuren seiner Dramen hat Schneider nie chargiert, sondern vielmehr verhalten, hintergründig gezeichnet, nicht anders als später die Personen seiner Prosaromane.


Bis 1940 war Hermann Schneider freier Schriftsteller. Mit journalistischen Gelegenheitsarbeiten musste er sich durchbringen, um in der weiten restlichen Zeit an seinen Werken zu schreiben, die kaum Brot brachten. Er wohnte damals in einem alten Wagen von der Art, wie sie Bauarbeiter als Unterkunft und Magazin auf Bauplätzen benützen. Er lebte so karg, wie man eben als freier Schriftsteller zu jener Zeit zu leben hatte. Die frühen Dramen erschienen gesammelt unter dem Titel «Dr erseht Akkord» und fanden Erfolg. Das kleine, aber ungemein dichte Dialektnovellchen «Rhygassballade» konnte gleich mehrmals, in verschiedener Form, publiziert werden. Max Ras, der feinfühlige Herausgeber des «Schweizerischen Beobachters», fand Gefallen an Schneiders Arbeiten, liess den Autor kommen und stellte ihn 1940 als Redaktor seiner vielgelesenen Zeitschrift an. Das Zigeunerleben wich dem festgefügten, aber doch keineswegs eingeengten Tagewerk. Bis 1967 blieb Schneider Redaktor am «Beobachter» und seither bis zu seinem Tode noch ständiger Mitarbeiter. Ohne die berufliche Bindung hätte er sein eigentliches Werk nicht weiterführen können, meinte Schneider einmal zu mir im Gespräch, obgleich er gerade infolge der vielen Arbeit, die sein Brotberuf ihm aufgab, das freie Schreiben langsamer als gewünscht vorantreiben konnte.


Noch entstanden einige Freilichtspiele, meist nicht mehr in Dialekt, sondern in der Schriftsprache verfasst. Die Dialektschauspielertruppe des «Quodlibet», ja das «Quodlibet» selbst hatte sich aufgelöst. So mussten jeweils ad hoc neue Spielgemeinschaften zusammengestellt werden, die zum guten Teil aus Berufsschauspielern bestanden. Für sie war der Autor gezwungen, vom Dialekt abzugehen. 1945, nach Kriegsende, wurde auf dem Basler Münsterplatz das grossartige, mitunter an Hofmannsthal erinnernde «Friedensspiel» aufgeführt; danach entstanden «Die neue Stadt» und «Himmel und Hölle». Gleichzeitig arbeitete Hermann Schneider aber an grösseren Romanen: «Wenn die Stadt dunkel wird», «Schiffe fahren nach dem Meer», «Das Feuer im Dornbusch», «Melchior». Religiöse Stoffe waren dem Dichter, der sich freilich niemals als religiöser Schriftsteller verstanden wissen wollte, seit dem Jugendwerk «Spil vom liebe Gott» nicht fern. Irgendwo schlummerte der Pfarrer, der Exeget und Seelsorger in ihm — auch hier wieder ein (unbewusster oder bewusster?) Anklang an den Prälaten Johann Peter Hebel. Anderseits war auch in ganz erdverbunden-diesseitigen Romanen gleich dem Rheinschifferbuch «Schiffe fahren nach dem Meer» etwas von jenem Unergründlichen, Doppelsinnigen, Hintergründigen zu spüren, das Hebel kennzeichnet. Durch verwandtschaftliche Beziehungen hatte Schneider Einblick ins Leben der Rheinschiffer genossen, in ein Leben ähnlich seinem eigenen damals im Zigeunerwagen, das ihn weiterhin faszinierte und anzog. Noch weit stärker, fast als Zwang zu spüren, kommt das Pendeln zwischen der diesseitigen Welt des Sichtbaren und des Jenseitigen, eben des Hebeischen «änedra», in dem grossangelegten, nie ganz vollendeten und auch noch nicht publizierten Romanwerk «Jenseits der Eisblumen» zum Ausdruck, dessen Eingangskapitel 1968 vom Basler Literaturkredit veröffentlicht wurde. Der Autor wollte dieses Werk, an dem er die zwanzig letzten Jahre seines Lebens arbeitete, als «eine Art Entwicklungsroman» sehen, «doch nicht etwa im Sinne eines .Wilhelm Meister', vielmehr Entwicklung nach Drüben hin, dem ,änedra', wie J. P. Hebel es nannte.»


In dem Hang, Grenzen zu überschreiten, die man gemeinhin nicht überschreiten soll, Jenseitiges zu sehen und zu schildern, das man gemeinhin nicht sehen darf, liegt die Schwierigkeit verborgen, den Dichter Hermann Schneider zu deuten und seinem Werk gerecht zu werden. Karl Franz Rieber, sein Lörracher Freund und Schulkamerad, stellt mit vollem Recht fest, «dass Schneider zwar als Dialektdichter bekannt und anerkannt und schon früh hochgeschätzt worden ist, dass aber die dichterische Bedeutung seines Schaffens im ganzen nicht Platz und Rang in der Literatur der Gegenwart gefunden hat. Er ist für die einen zu sehr .Heimatdichter' — der er wohl auch war, und zwar im besten und höchsten Sinne des Wortes — geblieben, doch ohne das rechte Verständnis für das Besondere und Eigene auch in seiner Mundart-Dichtung! Für die andern, die moderne, zeitgemässe Gegenwartsliteratur suchen, ist er weder in der Schweiz noch bei uns in Deutschland je als Dichter, höchstens als Schriftsteller beachtet und geachtet worden.»


Hermann Schneider gab sich nie modisch-populär. Die Themen seiner Werke — ja, auch das Generalthema des «änedra» — entsprechen nicht einfach dem Zeitgeschmack. Die Sprache Schneiders ist nicht geschliffen und auch nicht abgehackt wie diejenige, die gegenwärtig en vogue ist. Seine Werke haben durchaus sozialen Inhalt, enthalten aber kaum jene Sozialkritik, von der man heute lesen will und zu schreiben angehalten wird. Eigentlich nimmt Schneider keine Rücksicht auf seine Leser und deren Wünsche. Er nimmt nur Rücksicht auf den Tod, der als Verkörperung des überganges zur andern Welt Hauptperson jedes einzelnen seiner Werke ist. Und wer will schon vom Tod hören?


Der Tod hat Hermann Schneider die Feder aus der Hand genommen, als es dazu Zeit war. Schneider hat darum gewusst und diesem Augenblick auch ohne Scheu entgegengeblickt. Er hat den Tod freundlich erwartet, sich nicht vor ihm gefürchtet. Vielmehr war das Warten vergleichbar mit der Spannung von Kindern vor dem Lichterglanz des Weihnachtsbaumes. «Es nimmt mi wunder, ob das eso isch, wie's mer als bim Schrybe koh isch», sagte Schneider noch wenige Wochen vor seinem Hinschied. Er war herzkrank, hatte einen Infarkt hinter sich und zwang sich zur Schonung. Er wollte sein Werk beenden.


Und der Tod hat ihm Zeit gelassen, in einem wundervollen Aufschwung der Schaffenskraft als Siebzigjähriger noch einige Prosawerke zu schaffen, die zum Schönsten dessen gehören, was er schuf. Zuerst die baseldeutschen Erzählungen «Die goldigi Schtadt», als Privatdruck des Verlages der National-Zeitung erschienen und einige Jahre danach erweitert bei Pharos herausgekommen. Sie umfassen in ihrer heiter-ernsten Verhaltenheit, die immer vom Vordergründigen zum Doppelsinnigen führt, das ganze Wesen des Dialektdichters, lesen sich leicht und erscheinen äusserlich problemlos. Alle tragen sie aber jenes Etwas in sich, das nach den Worten des Autors «macht, ass me afoht driber noochezdängge und zletschtemänd nimme weiss, wo d'Wohret uffheert und was es äne an däm, wo mir fir Wohret aluege, iberhaupt no git. 's sinn keini hischtorischi Gschichte, si schpile in unserer Zyt, geschter, hitte . .. und verzaubere uff ihri Art unseri Schtadt: e mängge gseht si nej.»


Der Kontrapunkt dazu in der Hochsprache: der dank dem Basler Literaturkredit, dessen Sekretär der Verstorbene jahrelang war, entstandene und schön ausgestattete Band «Der Mann mit dem Hifthorn». Auch hier Erzählungen, die durch eine Rahmenhandlung verbunden sind, wie in früheren Werken; hier aber deutlich schon autobiographische Züge im Blick auf das eigene Hinübergehen in die andere, unbekannte und doch so bekannt scheinende Welt. Wer ist der Mann mit dem Hifthorn, der seltsame «Jäger», der zum grossen Welt- und Zeitenrad über der Galluspforte am Basler Münster gehört? Seinem Freund Rieber hat bei einem seiner letzten Besuche der Dichter in gerade dieses Buch die Widmung geschrieben: «Das Leben kennt erst, wer das Bild des andern gesehen hat!» — Wer ist der andere — jener Mann mit dem Horn — der Tod?


Anlässlich seines siebzigsten Geburtstages beschenkte Hermann Schneider seine Freunde und Leser mit der kleinen Erzählung aus eigenem Erleben «Kirschen aus Nachbars Garten, oder Tage um die Siebzig», einem unbeschwert gehaltenen Rückblick und zugleich Ausblick über das Feld des eigenen Schaffens. Aber wo sind die Kirschen, wo liegt des Nachbars Garten? Schneider antwortet ausweichend und überlässt seinem Leser die Freude des Entdeckens. Auch da, wo, um mit K. Fr. Rieber zu sprechen, «ein von den meisten Lesern kaum beachtetes Akrostichon (die Anfangsbuchstaben der Kapitel zu einem Spruch zusammengesetzt) lautet: ,Soli Deo Gloria' — das Bekenntnis der alten Meister und Johann Sebastian Bachs Schlusspunkt seiner grossen Werke.» In der ihm eigenen, versteckten Art weist Schneider auf die Brücke, die hinüber ins andere Leben führt, und auf die Gnade, die uns hinübergehen heisst.


Schliesslich, ganz kurz vor seinem Tod, entstanden die zwölf Geschichten durch das Riehener Jahr, die unter dem Titel «Das Wenkenross» im Auftrag der Gemeinde Riehen zum Anlass der 450 Jahre alten Zugehörigkeit Riehens zu Basel entstanden sind. Hier wirkt und winkt der Hebel des Rheinischen Hausfreundes, der gütige alte Volks- und Kindererzieher, der freundliche Alemanne, auch wenn er hochdeutsch schreibt. Das sind Kindergeschichten besonderer Art, die mit grösstem Gewinn gerade von Erwachsenen zu lesen sind. Sie zeigen Riehen in seinem Gestern und Heute, beschwingt und heiter und bisweilen phantastisch, aber doch immer so, dass das «änedra» in keiner Erzählung unbemerkt bleibt. Schneider, der zum Riehener gewordene Stadtbasier, hat seinem Dorf damit ein literarisches Denkmal gesetzt, das durchaus eigenständig sich an die Seite der Werke eines Rudolf Wackernagel, Emanuel Stickelberger und Eduard Wirz stellt.


Viel ist von der Verbundenheit Hermann Schneiders mit Johann Peter Hebel die Rede gewesen. Schneider hat Hebel als Vorbild verehrt und sich in mancher Beziehung ihm verwandt gefühlt. Aber kopiert hat er ihn keineswegs. Schneiders Sprache ist eigenständig, vielleicht zuweilen rauher als diejenige Hebels, verschieden von ihr wie ein Kleinbasler vom Grossbasler verschieden ist. Hebel war, obgleich aus kleinen Verhältnissen stammend, ein Herr, Schneider blieb bis zu seinem Lebensende ein einfacher Volksmann. Hebel gab in allem, was er schrieb, die belehrende Schlussmoral, Schneider überlässt die Schlussfolgerungen dem Leser. Und Hebel war, vor allem in seiner Lyrik deutlich, vom Heimweh geprägt; Schneider brauchte kein Heimweh zu haben, denn er war daheim. — Daheim? Wo ist unser Daheim? Schneider wusste es, und Hebel wusste es ebenfalls, und deshalb sind sie beide sich so ähnlich.


Verzeichnis der Werke Hermann Schneiders

1937 Dr erseht Akkord. 8 Dialektdramen, mit 10 Original-Holzschnitten von Willi Wenk. 240 S., Basel, Grafica.


1941 Res und Babeli. Die Geschichte eines eigensinnigen Berners. 198 S., Basel, Verlagsgesellschaft Beobachter.


1942 Wenn die Stadt dunkel wird. Roman. 332 S., Zürich, Büchergilde Gutenberg.


1944 Schiffe fahren nach dem Meer. Roman. 284 S., Zürich, Büchergilde Gutenberg.


1944 Von der Verantwortung des Dichters. Ein Vortrag. 8 S., Basel, Bücherfreunde.


1944 Wie ich Sankt Jakob sah. Erzählung, illustriert von A. H. Pellegrini. 99 S., Basel, Gute Schriften.


1945 Ein Friedensspiel. Drama. 72 S„ Basel, Bücherfreunde.


1946 Die neue Stadt. Ein Spiel für Vindonissa. Drama. 53 S., Riehen, Schudel.


1947 Das Feuer im Dornbusch. Roman. 312 S., Zürich, Büchergilde Gutenberg.


1948 Ambrosio an der Säule, und andere spanische Novellen. 77 S., Basel, Gute Schriften.1


1952 Melchior. Ein Buch von den Drei Königen. 257 S., Bern, Francke. 1954 Die Gerechtigkeit. In «Drei Basler Novellen», div. Autoren. 95 S., Basel, Gute Schriften.


1962 Basler Gschichte. Mit Helge vom Sulzbi. 99 S., Basel, Privatdruck der National-Zeitung.


1968 Jenseits der Eisblumen. Auszug aus einem unveröffentlichten Roman. In «Basler Texte Nr. 1», mit Beiträgen von Hermann Schneider, Siegfried Lang und Wolfgang Eric Wiesner. 95 S., Basel, herausgegeben vom Literaturkredit Basel-Stadt im Pharos-Verlag.* 1971 Die goldigi Schladt. Basler Gschichte. 222 S„ Basel, Pharos-Verlag.* 1971 Der Mann mit dem Hifthorn. Mit Illustrationen von Irène Zurkinden. 95 S., Basel, herausgegeben vom Literaturkredit Basel-Stadt im Pharos-Verlag.*

1971 Kirschen aus Nachbars Garten, oder Tage um die Siebzig. 46 S., Basel, Pharos-Verlag.*

1972 Das Wenkenross. Zwölf Geschichten durch das Riehener Jahr. Illustriert von Ernst Giese. 94 S., herausgegeben vom Gemeinderat Riehen im Pharos-Verlag Basel.*

Unvollendet: Jenseits der Eisblumen. Roman, ca. 1200 Manuskriptseiten.


= 1974 im Buchhandel noch lieferbar.


Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1974

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