Jetzt höre ich den Brunnen - eine wichtige Wegmarke

Dominik Heitz

Wie nehmen Blinde ihre Umwelt akustisch wahr? Ein Hörspaziergang mit Heidy Küng.

Heidy Küng: «Blinde gehen normalerweise nicht aus Freude allein spazieren. Bei mir ist das stets etwas anders gewesen. Ich habe schon sehr lange Blindenfiihrhunde. Diese führen mich dorthin, wo ich hingehen möchte. Gleichzeitig gehe ich immer auch mit den Hunden spazieren, weil diese Auslauf brauchen und sich versäubern müssen.

Seit 1982 lebe ich in Riehen. Lange Jahre wohnte ich an der Bettingerstrasse. Seit eineinhalb Jahren bin ich nun an der Oberdorfstrasse zu Hause. Täglich gehe ich mit meinem Blindenführhund spazieren. Der Frühling ist für mich besonders schön, weil dann die Vögel singen. In den Feldern freute ich mich anfänglich noch am Gesang der Lerchen, aber in den letzten Jahren haben sie nichts mehr von sich hören lassen. An bestimmten Orten in den Langen Erlen lauschte ich auch dem Gesang der Nachtigallen, doch heute sind sie verschwunden.»

Als Heidy Küng am 1. Oktober 1925 in Basel zur Welt kam, entsprach ihre Sehfähigkeit nur zirka zehn Prozent derjenigen «normal» geborener Menschen. Doch als Primarschülerin ging es noch gut; sie kam in eine Sehschwachenklasse. In der anschliessenden Realschule hingegen hatte sie grosse Mühe. Moderne Hilfsmttel gab es damals noch nicht; die Wandtafel war das Hauptmedium. Für Heidy Küng, die, um lesen zu können, ihre Nase recht eigentlich auf das Buch halten musste, war es aber schlechterdings unmöglich, bis zur Tafel zu sehen. Eigentlich hätte sie deshalb in ein Blindenschulheim gehen sollen. Doch ihre Eltern Hessen das nicht zu; sie behielten sie zu Hause und halfen ihr täglich bei den Hausaufgaben.

Die Handelsschule konnte Heidy Küng wegen ihrer Sehschwäche schliesslich nicht beenden. Was sollte sie tun? Korben und Bürsten binden wollte sie nicht. Masseurin werden, ihr grosser Wunsch, konnte sie nicht; in der Schweiz gab es damals noch keine entsprechenden Ausbildungsmöglichkeiten. Also arbeitete sie in einer Fabrik und später übernahm sie Heimarbeiten. Mitte der 1950er-Jahre konnte sie mit Hilfe der Blindenfürsorge eine Telefonistenausbildung beginnen und ab 1958 arbeitete sie in dieser Funktion als Vollzeitangestellte bei der Firma Geigy bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 1980.

Heidy Küng: «Am Anfang, als ich von der Oberdorfstrasse aus ins Dorfzentrum ging, machte mir der Bahnübergang Schwierigkeiten. Mit Hilfe von Trainern der Blindenführhundeschule bin ich jetzt sicher. Da vorne, am Ende der Oberdorfstrasse, steht ein Brunnen; sein Wasserplätschern ist eine sehr gute Wegmarke für uns. Hier gibt mir dieses Geräusch das Zeichen, dass da die Rössligasse vorbeigeht. Noch höre ich den Brunnen nicht, weil gerade ein Auto vorbeigefahren ist... Jetzt höre ich ihn; er muss gleich rechts neben uns sein. Am besten gehen wir gleich über die Strasse auf die andere Seite, wo sich die Musikschule befindet, und von dort aus Richtung Dorf. Das Trottoir ist hier gerade noch hoch genug. Aber wenn praktisch kein Höhenunterschied zwischen Trottoir und Strasse besteht, ist das für uns das Gefährlichste. Das können sich die meisten Leute gar nicht vorstellen. Aber es ist so. Denn mit dem Blindenstock kann man das Trottoir nicht erspüren, und der Hund weiss nicht, dass es auf die Strasse geht. Ich war einmal in der Kommission für Invalidenfragen und schon dort wurde dafür gekämpft, dass die Trottoirs mindestens drei Zentimeter hoch sein sollen. Wir haben mit den Rollstuhlgängern zusammengearbeitet. Drei Zentimeter Höhenunterschied sind für einen Rollstuhl noch kein Hindernis, während sie für uns bereits eine Hilfe sind.

Nach ihrer Pensionierung machte Heidy Küng viel PR für die Blinden, besuchte Schulen und verschiedenste Institutionen, um über die Blinden zu informieren. Als sie : eines Tages bei Autofahrlehrern über die Schwierigkeiten der Blinden orientierte, sagte einer: «Sie kenne ich. Hätten Sie keinen Blindenführhund gehabt, dann hätte ich nie gedacht, dass sie blind sind: Sie sind immer so schnell durch die Stadt gelaufen.»

Heidy Küng: «Wir sind nun beim Singeisenhof. Das merke ich deshalb, weil hier der Boden etwas abschüssig ist. Wir gehen links hinüber zum Brunnen. Wir müssen nun dort sein, wo für den Migros ein- und ausgeladen wird, das höre ich; es ist ein anderer Ton. Jetzt ist die Webergasse nicht mehr weit. Der Raum öffnet sich, das spüre und das höre ich auch. Nun sind wir dann gleich beim Eingang zur Migros: Es tönt hier offener, nach Gemurmel und Geräuschen weiter drinnen. Normalerweise - und ich glaube, das machen wir jetzt am besten auch - gehe ich geradeaus weiter bis zur Schmiedgasse. Dort kann ich meinem Hund sagen: Jetzt suche rechts Türe. Dann geht er zur Bank, weil er weiss, dass ich oft dorthin muss.

Wenn mich nicht alles täuscht, müssen wir in der Nähe eines Marktstandes sein, denn ich rieche Früchte. Sehen Sie, der Geruch ist auch ein Hilfsmittel, um sich zu orientieren.

Jetzt sind wir bald vorne bei der Schmiedgasse, denn ich höre, dass sich der Raum weitet. Und jetzt höre ich auch Autos, also sind wir da. Wir gehen nach rechts. Hier muss ich gut aufpassen, denn jetzt kommt bald der Coop, und den hört man nicht so gut wie die Migros. Wir überqueren die Schmiedgasse, gehen hinüber zur Papeterie und von dort Richtung Erlensträsschen, wenn Ihnen das recht ist.

Da drüben hält ein Auto; das ist ein Zeichen, dass wir bald bei der Kreuzung Erlensträsschen/Baselstrasse sind. Wenn mein Hund dabei wäre, würde ich ihm nun sagen: Lämpchen. Das habe ich ihn gelehrt. Dann nämlich setzt er seine Vorderpfoten unter den Druckknopf der Ampel. Und wenn ich seine Pfoten spüre, weiss ich, wo ich drücken muss, um die Ampel von Rot auf Grün zu schalten. Jetzt kommt der Ton der Lichtsignalanlage, der mir anzeigt, dass ich die Strasse überqueren darf.

Ich gehe oft mit dem Hund das Erlensträsschen hinunter. Wir kommen jetzt zu einer leichten Linkskurve, die zu den Langen Erlen führt. Das weiss ich, denn es geht etwas bergab; das spürt man mit den Füssen - sogar beim Plaudern. Es sind diese Kleinigkeiten, die einem eine Stütze sind.»

Es war im Winter um die Mittagszeit. Heidy Küng ging wie so oft um diese Tageszeit - mit ihrem Hund spazieren. Plötzlich brach ein Schneesturm los; innert kürzester Zeit war der Boden mit zehn Zentimetern Schnee bedeckt. Wo war der Weg, wo der Waldboden? Heidy Küng suchte. Aber sie konnte mit den Füssen nichts mehr erspüren. Und mit den Ohren vermochte sie nicht mehr zwischen dem geteerten Weg und dem erdigen Waldboden zu unterscheiden; : der Schnee wirkte stark dämpfend, wie Watte.

Heidy Küng hatte sich verlaufen und der Hund mit ihr. Sie rief - kein Mensch weit und breit. Da konzentrierte sie sich auf ihr Gehör. Sie stand eine Weile ganz ruhig und horchte in die Stille. Und plötzlich vernahm sie das Schnattern von Enten. Da wusste sie: Dort drüben musste der Entenweiher liegen. Sie gab dem Hund die Richtung an und er führte sie sofort nach Hause.

Heidy Küng: «Wir nehmen den Hutzlenweg durch die Familiengärten. Ich gehe hier gerne spazieren. Ausser den Glocken der Kühe ist es jetzt eher ruhig. Aber manchmal treffe ich hier viele Leute, die mit mir und meinem Hund plaudern. Ich weiss, dass hier nun der Alte Teich von der Weilstrasse her kommen muss. Gar keine Grillen hört man heute. Und kaum Vögel. Ich kenne längst nicht alle Vögel, aber Lerchen, Amseln und Spatzen schon - und natürlich Raben. Einen Pirol hatte es hier unten gehabt, auch Spechte. Gerne habe ich Mauersegler; die bedeuten für mich den Frühlingsanfang.

Jetzt höre ich ein Rauschen, das von hinten kommt. Es kann das Strassengeräusch von der Weilstrasse her sein. Hier plätschert nun auch der Alte Teich. Das ist ein Zeichen, dass wir bald wieder beim Erlensträsschen sind. Nach rechts gehts dann hinunter zum Eisweiher, wo sich auch das Biotop befindet.»

Heidy Küng hatte einmal ein besonderes Hörerlebnis. Es war an einem milden Abend und sie wurde von einem Herrn zum Biotop beim Eisweiher begleitet. Plötzlich stand sie da, bei den hohen Tannen, wie verzaubert. Sie hörte einen leisen Klang - wie Elfenglöcklein in verschiedenen Tonarten, wie feine Silberglöcklein so zart. Heidy Küng fragte den Herrn, was das sei. «Geburtshelferkröten», antwortete er.

Heidy Küng: «Jetzt höre ich wieder ein Plätschern. Wir überqueren nun das Erlensträsschen, dort wo die Familie Herzog wohnt. Früher gab es hier Geisslein; schon von weitem war das ein Hören - und manchmal ein Riechen! Und da muss ich Ihnen nun eine Geschichte erzählen. Es gibt hier ein kleines Wasserrad. Vor langer Zeit haben Kinder dieses Rad zur Freude der Herzogs gebaut. Einige Male war es defekt. Und ich sagte zu Frau Herzog: Das können sie nicht so bleiben lassen; das müssen Sie reparieren. Denn dieses Rad ist quasi mein (Leuchtturm), der mir schon von weitem sagt, wo ich bin. Und seither flicken sie es immer wieder. Ist das nicht schön? Solche markanten Geräusche gibt es natürlich in den Langen Erlen auch - zum Beispiel die kleinen Schleusen unterhalb des Entenweihers.»

Einschub: Heidy Küng hat stets das Nützliche mit dem Angenehmen verbunden. 35 Jahre lang wohnte sie am Unteren Rheinweg im Kleinbasel. Damals, als sie noch arbeitete, ging sie gern am Morgen früh mit dem Hund spazieren, um zu erleben, wie die Stadt erwacht. Es war ihr Samstagmorgenvergnügen, mit dem Hund im Tram so gegen halb acht auf den Barfüsserplatz zu fahren. Von dort spazierte sie dann entweder durch die Freie Strasse oder die Gerbergasse. Sie hörte, wie die Geschäfte öffneten, die Ladenbesitzer über die Strasse Gespräche führten. Sie roch das Brot des Bäckers und die Düfte der Parfümerie. Die Trams quietschen in den Kurven. Auf dem Marktplatz hörte sie, wie die Kisten aus den Liefemagen geladen und zu den einzelnen Ständen getragen wurden. Dann ging sie über die Mittlere Brücke, kaufte sich etwas beim Bäcker und kam rechtzeitig zum Frühstück wieder nach Hause, wo ihre Mutter auf sie wartete.

Heidy Küng: «Wenn mein Hund frei laufen darf, habe ich Mühe, im Feld die Abzweigung Richtung Bettingerstrasse zu finden. Wenn nötig, zähle ich deshalb meine Schritte. Gezählt habe ich vor allem dann, wenn ich einen neuen Hund gehabt habe. Ich musste ihn darauf abrichten, den Weg kennen zu lernen.»

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2005

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