Lesen lernen

Ulrike Zophoniasson-Baierl

Eintauchen in Räume und Farben: Im Oktober wurde mit der neuen Primarschule «Hinter Gärten» ein Bauwerk in Betrieb genommen, das auch architektonisch anregenden Lesestoff bietet.

 

«Unsere Gesellschaft erteilt der Institution Schule den Auftrag, die Schülerinnen und Schüler [...] so zu fördern, dass sie fähig werden, die gegenwärtigen und zukünftigen Anforderungen des Lebens als Individuen und als Glieder der Gesellschaft mitgestaltend zu bewältigen.» So steht es im Kantonalen Lehrplan der Primarschulen. Vergleicht man dies mit den Leitsätzen für Kindergärten, wo es noch in erster Linie darum gehen soll, sich «als eigenständige Persönlichkeiten zu erfahren», so besteht kein Zweifel: Mit dem Eintritt in die Primarschule beginnt der «Ernst des Lebens».

Für die Kinder ist es der Anfang einer langen bis lebenslangen Phase des Lernens. Und Eltern geben damit einen guten Teil ihrer Erziehungsaufgaben in andere Hände. Diese übernahme von Rechten und Pflichten durch die Obrigkeit wird auch im Baulichen manifest: Während sich der «überschaubare Lern- und Spielraum Kindergarten» in der Regel eher unauffällig in die Wohnquartiere integriert, sind Primarschulen bereits «richtige» Schulhäuser mit eindeutig repräsentativem Anspruch.

Dies ist auch beim neuen Schulhaus «Hinter Gärten» nicht anders. Allein schon die Grösse der Anlage, ihr sorgfältig austariertes Gleichgewicht zwischen offenen/öffentlichen und geschlossenen/privateren Bereichen, die kompakten Baukuben mit den übergrossen Fensteröffnungen, der grobe Kellenwurfverputz der Aussenmauern: All dies führt hier, im Wohnquartier eine andere Sprache ein und sprengt im sehr viel feiner strukturierten Umfeld deutlich den Massstab. Und macht damit unmissverständlich klar: Dies ist ein öffentliches Gebäude.

 

Modulare Ordnung Dessen primäre Aufgabe signalisiert der mit 72 m Länge, 12 m Breite und 12 m Höhe längste und höchste Baukörper: Mit der regelmässigen Reihung grosser, immer gleicher öffnungen gibt er sich als Klassentrakt zu erkennen. Als langer, dreigeschossiger Riegel dominiert er die Anlage und schliesst sie nach Süden hin, zum weiten, offenen Grünbereich, ab.

An ihn schiebt sich von Norden ein zweiter, ebenfalls grosser, aber nun deutlich kürzerer und niedrigerer, halb in den Boden abgesenkter Baukörper: die Doppelturnhalle. Als drittes und kleinstes Volumen dieser modulartig aufgebauten Anlage dockt zur Strasse hin westlich an die Turnhalle ein separater Raum für Nebennutzungen (Velos, Container usw.) an.

Diesen drei Bauteilen ordnen sich im Osten und Westen zwei Freiräume zu. Passgenau jeweils an den Stirnseiten in die Gesamtanlage eingeschoben und mit Mauern, Treppen und Rampen nach aussen streng orthogonal gefasst, bilden sie gemeinsam mit den Bauvolumen ein grosses Rechteck. Die Einfassungen der Höfe sind zudem so ausgebildet, dass sie wie selbstverständliche Fortführungen der Gebäudefassaden auftreten. Offene und geschlossene Volumen fügen sich so zur grossen, kompakten, sehr plastisch wirkenden Gesamtfigur.

Ihre modulare Gliederung ergibt sich aus den unterschiedlichen Funktionen der Teile und aus dem Ort. Alle Klassenzimmer orientieren sich zum Grünraum, alle Bereiche mit öffentlicherer Nutzung zum Quartier. Der Klassentrakt reagiert mit seinem hohen, lang gestreckten Volumen auf die grosszügige Weite der anschliessenden Gartenlandschaft, Turnhalle und Veloraum stellen als niedrigere Volumen den Kontakt her zur benachbarten Wohnbebauung und dem ebenfalls feinkörnigeren bestehenden Schulhaus gegenüber.

Der grosse quadratische Pausenhof im Norden versteht sich mit seiner öffnung zur Strassenkreuzung Steingrubenweg/ Bäumliweg und der Bushaltestelle zugleich auch als öffentlicher Platz. Dagegen gibt sich der südliche, schmale Hof deutlich intimer. In seiner Ausbildung als Terrasse reagiert er auf das zum Wiesental hin abfallende Gelände und fungiert damit zugleich als «Loge» zur anschliessenden Spielwiese mit Spielplatz.

Alle Module haben eigene Zugänge und sind damit auch als selbständige Einheiten nutz- und lesbar. Die übergrossen öffnungen gewähren dabei auf allen Seiten in alle Bereiche von aussen wie von innen grosszügige Durchblicke, sodass zugleich immer auch das Ganze präsent ist.

Farbe als Lesehilfe Klare Baukuben, modulare Komposition, einfache Ordnung und Transparenz sind die wesentlichen architektonischen Elemente dieser Schulanlage. Markantestes Merkmal ist ihre Farbigkeit. Mit der ganz in Rottönen eingefärbten Hülle markiert die Anlage schon aus der Ferne kraftvoll Präsenz.

Dass Bauwerke mit dieser Farbe ihre besondere Nutzung unterstreichen, ist im ansonsten mit Farben eher zurückhaltenden Raum Basel keineswegs unbekannt. Beispiele jüngeren Datums gibt es dafür in der näheren und weiteren Umgebung einige: Das Museum der Fondation Beyeler oder in Basel das Tinguely-Museum, das Leonhardschulhaus, das Ausbildungszentruni der UBS beim Bahnhof. Bedeutendste «Referenzbauten» sind dafür neben der Hauptpost und dem Stadthaus das Rathaus und nicht zuletzt das Münster.

Mit letzterem hat das neue Schulhaus «Hinter Gärten» denn auch mehr gemeinsam, als man auf den ersten Blick meinen mag: Schliesslich liegt es am «Steingrubenweg». Und dieser Strassenname weist wie auch der weiterführende «Rotengrabenweg» darauf hin, dass hier ganz in der Nähe einmal der rote Sandstein gebrochen wurde, der auch im Münster Verwendung fand.

Das Besondere an diesem Bau aber ist die Art, wie die Farbe eingesetzt wird: Eingefärbt werden nämlich sämtliche Raumbegrenzungen, also auch Decken und Böden. Und dies nicht nur in den Innen- und den gedeckten Aussenbereichen, sondern selbst in den offenen Pausenhöfen. Die abgestufte Tönung der Flächen gibt den Farbräumen Tiefe und verstärkt so noch einmal die Plastizität der Gesamtanlage.

Welcher Farbton dabei wo zum Einsatz kommt, bestimmen auch hier wieder Ort und spezifische Funktion der Teile. Der Südtrakt reagiert auf die Weite des anschliessenden Grünraums mit einem kräftigen, orangetonigen Rot. Die Fassade der Turnhalle dagegen gibt sich zur benachbarten Wohnbebauung mit einem tiefen Weinrot deutlich zurückhaltender. In den Bereichen mit öffentlicherem Charakter wechselt das Rot in Orange über. Dies gilt nicht nur für die Pausenplätze, sondern auch für die Innenhaut der Turnhalle, die damit ebenfalls als - gedeckter - öffentlicher Raum lesbar wird.

Ein Gang durch das Gebäude lässt noch eine weitere Lesart zu: Auch innen sind konsequent immer sämtliche Raumeinfassungen eingefärbt. Welche Grundfarbe dabei welchen Räumen zugeordnet ist, entscheidet die jeweilige Nutzung. Unterstützt wird diese intensive Erlebbarkeit unterschiedlicher Raumqualitäten hier auch durch die Konstruktion, die dank der Massivbauweise ganz ohne Stützen auskommt.

Zwischen Turnhalle und Pausenhof schiebt sich auf beiden Seiten eine schmale, gedeckte Zugangszone. Sie ist, wie auch alle weiteren, horizontalen Erschliessungsbereiche im Inneren, in kräftigen Blautönen eingefärbt. Auf sie stossen im Klassentrakt zwei vertikale Erschliessungselemente in leuchtendem Grün. öffnet man dann die Tür zu den Klassenräumen, taucht man in warmes Gelb ein. Garderobe, Klassenzimmer, Gruppenraum bilden durch diese homogene Einfärbung, der sich hier selbst das Mobiliar unterwirft, kleine, in sich geschlossene Einheiten.

Grosszügige öffnungen nach aussen wie auch nach innen zum Gangbereich sorgen dabei dafür, dass man in diesen Farbfutteralen die Bodenhaftung nicht verliert - und von überall mit einem Blick die innere Ordnung dieser Schulanlage erfasst: Blau und Grün die Durchgangszonen, Orange und Gelb die Bereiche, in denen man sich länger aufhält. Kein Zweifel: Dieses vom Nidwaldner Künstler Jörg Niederberger in enger Zusammenarbeit mit dem Architekten Daniele Marques entwickelte Farbkonzept ist weit mehr als schmückende Zutat. Wer diese Schule besucht, lernt in vielerlei Hinsicht Lesen. Und nimmt danach die Welt mit wacheren Augen wahr ...

 

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2006

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