Liebe heisst Leben


Dominik Heitz


 

Unsere Welt ist übersexualisiert. Und doch spricht man wenig über die Liebe im Alter. Für viele ist sie noch immer ein Tabu – für die alten Menschen selber, für deren Söhne und Töchter, aber auch für Pflegende. Verschweigen lässt sie sich trotzdem nicht.


 

Liebesfähigkeit – sie ist eine der Grundvoraussetzungen für das menschliche Zusammenleben. Und im Normalfall ist diese Liebesfähigkeit auch eine Konstante in jedem Menschenleben. Zwar ist nicht jeder in gleichem Masse und in gleicher Art fähig zu lieben – und das macht ja auch gerade die Individualität des Menschen aus –, doch zu lieben und geliebt zu werden heisst: leben.


Also existiert Liebe bis ins hohe Alter, bis zuletzt. Damit muss nicht immer genitale Sexualität verbunden sein. Doch weil gerade diese eben auch einer ihrer Bestandteile sein kann, ist es für viele auch heute noch ein Tabu, über Liebe im Alter zu sprechen – obwohl die Gesellschaft unter einer Übersexualisierung leidet, die eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Problemen im Liebesbereich zu unterlaufen droht.


 

Plötzlich steht man allein da


Für jene, die bis ins hohe Alter verheiratet sind oder in einer Partnerschaft leben, ist das möglicherweise weniger ein Thema. Für Witwen, Witwer und Unverheiratete aber schon. Menschen, die plötzlich allein dastehen, niemanden mehr haben – wie ist dann mit dem Bedürfnis nach Liebe umzugehen? Kann man sich in der Öffentlichkeit plötzlich mit einem neuen Freund oder einer neuen Freundin zeigen? Darf man überhaupt noch Bedürfnisse haben?


 

«Natürlich habe ich kein Patentrezept», sagte die 86-jährige, deutsch-amerikanische Sextherapeutin Ruth Westheimer in einem Interview. «Was ich sagen kann, ist dies: Man soll alles dazu tun, andere Menschen zu treffen. Hobbys sind zum Beispiel eine sehr gute Methode, andere Menschen kennenzulernen.» Zum Beispiel tanzen. Im Landgasthof in Riehen findet einmal im Monat ein Tanznachmittag für Seniorinnen und Senioren statt – mit Livemusik. Die Nachfrage ist gross. Manchmal erscheinen gegen 100 Tanzfreudige, die meisten über 65. «Sie sollten die strahlenden Gesichter nach einem solchen Tanznachmittag sehen», sagt die 76-jährige Organisatorin Erika Marquardt.


 

Auch Tätigkeiten, die sich allein tun lassen, kann man gemeinsam machen: Ausgehen, Musikhören. Dabei kommt es auf klare, verständliche, laute Worte an. Ruth Westheimer: «Je besser man verstanden wird, desto eher finden andere das, was man zu sagen hat, interessant. Und wer weiss – vielleicht denkt sich jemand: Diese Person möchte ich näher kennenlernen. Und wer weiss – vielleicht entwickelt sich etwas Tieferes daraus.»


 

Eigene unerfüllte Sehnsucht


Liebe, Sex im Alter – Marlise Santiago ist der Meinung, dass dieses Thema nach wie vor tabuisiert wird. Die Leiterin einer Praxis für Körper, Beziehung und Sexualität schreibt: «Zu dieser Tabuisierung gehört auch, dass Liebesbeziehungen zwischen alten Menschen verniedlicht oder ins Lächerliche gezogen werden.» Die Schweizer Sexualberaterin warf im Buch zur Ausstellung ‹Ganz schön alt› des Museum.BL die Frage auf: «Stellen Sie sich zwei vom Leben gezeichnete Menschen vor. Keines dieser dynamischen Paare aus der Werbung, sondern zwei Alte mit weissen Haaren, mit Falten, mit dem veränderten Körper des Alters. Aber die Gesichter strahlend, die Blicke genauso innig wie bei einem jungen Paar. Wie kommt dieses Bild bei Ihnen an? Spüren Sie Widerstand? Macht es Sie ruhig? Freuen Sie sich am Glück dieses Paares?»


 

Nicht bei allen kommt dieses Bild gut an. Als Reaktion auf ihre Beiträge ‹Sexualität im Alter› im Schweizer Radio DRS 1 bekam sie Zuschriften von älteren Paaren, die ein erfülltes Liebesleben erfahren, mit der Bitte zum Schluss: «Nennen Sie um Himmels Willen meinen Namen nicht, sonst kann ich mich im Dorf nicht mehr zeigen», oder: «Wir dürfen schon bald keine Bekannten mehr einladen, denn sie sind neidisch auf uns.»


 

Was die Tabuisierung angeht, sind es aber auch gerne die allernächsten Verwandten – die Söhne und Töchter –, die ein Problem damit haben, wenn sich ihr alleinstehender Vater oder ihre verwitwete Mutter wieder verliebt. «Spiegelt sich da deren eigene Bedürftigkeit und unerfüllte Sehnsucht?», fragt Marlise Santiago. Für Stefanie Bollag, Leiterin des Alterspflegeheims Humanitas in Riehen, ist das keine Frage mehr: «Wenn sich Kinder schwertun mit einer neuen Liebesbeziehung ihres Vaters oder ihrer Mutter, dann hat das mit unterschiedlichsten Themen der Beziehungen untereinander zu tun.»


 

‹Ménage à trois›


In Gesprächen mit Heimleitungen wird deutlich, wie vielfältig Beziehungen in einem Alters- und Pflegeheim sein und wie unterschiedlich die in eine solche Beziehung Eingebundenen reagieren können. Da trat ein Ehepaar in ein Heim ein. Als die Frau starb, lernte der Witwer eine Mitbewohnerin kennen. Aus Freundschaft wurde Liebe, worauf das Paar ein Apartment im Heim beziehen konnte. Die Familien des Paares akzeptierten das. Für Teile des Pflegepersonals hingegen war das neue Liebespaar anfänglich ein Problem: Es waren junge Pflegende mit Migrationshintergrund, die zunächst überfordert waren von der Tatsache, dass hier zwei alte Leute, die ihre Grosseltern hätten sein können, eine Liebesbeziehung eingegangen waren.


 

Auch eine ‹Ménage à trois› kann vorkommen: Ein Mann, dessen Frau im Pflegeheim ist, lernt eine andere Frau kennen. Die Ehefrau akzeptiert dieses Dreiecksverhältnis, was dazu führt, dass am Ende die Partnerin mehr zur Ehefrau schaut als der Mann selber. Umworbene Männer sind auch nicht unbedingt eine Seltenheit: Weil die Männer in der Regel früher sterben als die Frauen, sind die Herren – auch in Heimen – in der Minderheit. Und Männer mit Ausstrahlung sind bei den Frauen deshalb schnell einmal begehrt und können als Hahn im Korb auftreten.
Und es kann geschehen, dass sich Bewohnerinnen nicht nur in Bewohner, sondern auch in junge Männer verlieben, die als Zivildienstleistende für eineinhalb Jahre in einem Heim arbeiten. «Da gibt es schon mal Liebeserklärungen und Tränen, wenn einer seinen Zivildienst beendet und sich verabschiedet», sagt Stefanie Bollag.


 

Geplante Liebesnächte

Liebesbeziehungen in Alters- und Pflegeheimen sind grundsätzlich kein Problem. Sie müssen sich jedoch der Organisationsstruktur des Heimes anpassen. Denn es gehört unter anderem zur Aufgabe eines Alterspflegeheims, mindestens zweimal nachts Zimmerkontrollen durchzuführen, um zu wissen, wie es den Bewohnerinnen und Bewohnern geht. Nächtlicher Herren- oder Damenbesuch ist möglich – keine Frage. Aber diese Liebesnächte sind zu planen und müssen mitgeteilt werden, damit die Pflegenden nicht plötzlich ins Zimmer platzen oder vor einer verschlossenen Türe stehen und allenfalls Alarm schlagen.


 

Liebe und Sinnlichkeit im Alter – sie werden mehr und mehr zum Nennwert für ein erfülltes Leben im Alter. Das zeigt sich nicht nur in einer zunehmenden Zahl von Menschen, die nach der Pensionierung gemeinsam ein Haus bewohnen. Auch in Heimen hat man erkannt, dass Wohngemeinschaften das Leben zu bereichern vermögen – in jeder Beziehung.


 

 

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2014

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