Musikunterricht im Spannungsfeld der Schulentwicklung

Bea Berczelly

Die Geschichte der Klassen mit erweitertem Musikunterricht ist bereits 20 Jahre alt. Sie beginnt 1986 in der Realschule in Basel und wird 1990 auf Riehen ausgeweitet. Ihre Weiterentwicklung wird heute noch kontrovers diskutiert.

 

Die Idee, dass musische Fächer - insbesondere der Musikunterricht - ein grösseres Gewicht während der obligaten Schulzeit erhalten sollten, ist nicht neu. Wichtiger Wegbereiter war der ungarische Komponist und Pädagoge Zoltàn Kodàly. Die überzeugung, dass der erweiterte Musikunterricht die ganzheitliche Entwicklung eines Kindes fördert, breitete sich aus, und Forschungsergebnisse belegen heute dessen gute Wirkung. Die Persönlichkeit wird gestärkt, die Fähigkeit, sich in einer Gemeinschaft verantwortungsvoll zu bewegen, ebenso. Der Erwerb grundlegender Fähigkeiten wird begünstigt und das abstrakte Denken gestärkt. Dies ist dem schulischen Erfolg insgesamt förderlich. Diesen Erkenntnissen folgte Markus Müller, damaliger Rektor der Realschule Basel, 1990 mit der Einführung der Musikklassen.

Die Orientierungsschule will eine entwicklungsorientierte Schule sein, die sowohl dem Individuum als auch der Lerngemeinschaft ein Optimum an Gestaltungsmöglichkeiten bietet. Ein hohes Ziel! Der Anthroposoph Rudolf Steiner setzte Musik und Malen auf dieselbe Ebene wie Rechnen und Lesen und machte damit die ganzheitliche Bildung zum Prinzip jeglichen Unterrichts. So weit geht das KEMU-Projekt (Klassen mit erweitertem Musikunterricht) nicht. Noch steht das Fach Musik für sich da und ist doch seinem Wesen und Verständnis nach verbunden mit Sprache, Gestaltung und Bewegung. Die Ganzheit von fachlichem, musischem und sozialem Lernen erfordert Zeit. Deshalb enthält der KEMU-Stundenplan mehr Musikstunden als derjenige der Regelklassen. Dafür stehen den Hauptfächern weniger Stunden zur Verfügung; die Lernziele gelten jedoch für alle.

Was erreichen die KEMU konkret? Lassen wir die schulischen Leistungen beiseite und berichten über das «grosse Produkt» jeder KEMU-Klasse am Ende des dreijährigen Unterrichts, die musikalische Aufführung: «Ammedysli im Paradiesli - Liebi kunnt und Liebi goht», Musiktheater der Klasse 3b im OS Hebelschulhaus, Riehen, am 17. Juni 2006.

Gezeigt wurden die Themen der heutigen 12-14jährigen Kids. Hanni und Nanni - so lauten ihre Namen im Stück - fragte ich in der Pause, woher die Themen kamen, und sie sagten unisono, dass die Idee für das Ganze im Klassenverband zustande gekommen sei. Auch die Texte hätten sie gemeinsam geschrieben. Was man zu sehen bekam, war unterhaltend und humorvoll. Musikalisch zum Teil verblüffend gut. Ein Hauptthema war natürlich das Verliebtsein; ein weiteres die Gruppenzugehörigkeit, das Macho-Gehabe der Jungen und die Zickigkeit der Mädchen. Nicht alle spiel ten ein Instrument, aber die, die es taten, machten das gut. Es gab mehrstimmige A-cappella-Einlagen der Jungen wie auch der Mädchen. Begleitete Soli kamen zu Gehör und sogar «Schnitzelbangg»-mässige Einlagen. Dass sich Jugendliche in diesem heiklen Alter so offen zu präsentieren vermögen, ist pädagogisch gesehen ein grossartiges Resultat.

Eigenverantwortung? Sie können es!

Res Würmli, der Musiklehrer, hat erneut famose Arbeit geleistet. Man spürte, dass den Kindern Eigenverantwortung übergeben worden war: Sie können sich präsentieren und adäquat auf eine Bühnensituation reagieren: Wie stehe ich? Wie rede ich? Wie bewege ich mich? Das Wichtigste war jedoch, dass man allen den Spass an der Sache anmerkte. Es war «ihr Ding», das sie durchzogen, mit Rap, ihren Botschaften und in ihrer Sprache: «Also wenn e Nai Joo bedütte cha, was sage denn d'Maitli, wenn sie wirklig au Nai maine?», fragte ein abgewiesener Verliebter seinen «Bruder im Schmerz». Der Einsatz von Technik gehört zu den heutigen Kids, so waren denn auch Beamer und Video-Liveübertragung dabei.

Musik-OS - eine ungetrübte Erfolgsgeschichte?

Nein, es gab nicht nur Harmonie. Im Hinblick auf die Ablösung der alten dreigliedrigen Schule (Sekundär, Real, Gymnasium) durch die ungegliederte OS mit innerer Differenzierung wurde die Frage aufgeworfen, wie das Gute der KEMU mit dem Gedankengut der OS verknüpft werden könne. Bedenken wurden laut: Darf das Fach Musik zum Kriterium für die Klassenbildung erhoben werden? Wie kann der Quartierschulgedanke aufrechterhalten werden? Liselotte Kurth, damals Rektorin der Landschulen und mit Haut und Haaren Musikpädagogin, setzte sich beim Erziehungsrat für eine allen musikalisch interessierten Kindern zugängliche Förderung ein und erreichte die Einbindung der KEMU-Klassen in die OS. Ein Riehener Alleingang zunächst. Es gab Dissonanzen und später kantonsweit immer mehr Musikklassen, die zum Angelpunkt im vielstimmig diskutierten Thema des musisch ganzheitlichen Unterrichts wurden.

Das Kind muss sein Interesse an Musik beweisen Hanspeter Rickli, Wegbereiter der Musikklassen im alten und neuen Schulsystem, entwickelte mit Liselotte Kurth ein Aufnahmeprozedere, das vom Kind Eigeninitiative verlangte. Alle mussten sich selbst anmelden; und zwar mit einer Begründung, weshalb sie eine KEMU besuchen wollen. (Ein Beispiel: «Ich möchte in diese Klasse, weil ich verschiedene Musikarten kennen lernen und auch viel singen will. Ich finde es auch interessant, wenn man zusammen Musik machen kann.») In einer viertelstündigen Eignungsabklärung galt es, ein Lied zu singen, Tonfolgen und Rhythmen zu hören und wiederzugeben. Eine andere Aufgabe, die Umsetzung eines Musikstücks in ein Bild, wurde in der Gruppe gelöst. Wenn anfänglich eine gewisse Elitebildung beobachtet werden konnte, fügte sich mit zunehmender Klassenanzahl die soziale und leistungsmässige Durchmischung ins Alltagsbild. Auch das Interesse der Knaben an der intensiven Beschäftigung mit Musik stieg erfreulich.

Wie weiter?

Am Anfang der OS stand das egalitäre Prinzip: Alle Kinder sollten Zugang zum gleichen Bildungsangebot haben, aber in ihrer Verschiedenheit gefördert werden. So klar ist mir das nicht: Es gibt Niveaukurse und ein Punktesystem für die Leistungen, das über die spätere Schullaufbahn entscheidet. Jedes Schulsystem kämpft stets mit einem philosophisch-pädagogischen Spagat: Einerseits soll die individuelle Entwicklung gefördert werden, andererseits müssen gemeinschaftsbildende Elemente walten. Es entsteht ein Spannungsfeld zwischen Gleich- und Einzigartigsein. Dieser Ambivalenz ist jede Lehrperson ausgesetzt, doch sieht Kurth darin nicht nur das Belastende, sondern auch das Belebende, die innere Freiheit der Schule. Diese immer wieder neu zu erfinden, sei die Kunst jeder Lehrperson.

Die Musikklassen gehören zu diesen Erfindungen. Sollen sie auf Sparflamme gesetzt werden? Vielleicht sogar untergehen in der anvisierten neuen Schulstruktur? Sollten nicht alle Anstrengungen unternommen werden, um die Königswege des Lernens zu erforschen? Regina Christen, Rektorin der Landschulen, erinnert in diesem Sinn daran, dass gemäss Dr. Willi Stadelmann, Leiter Pädagogische Hochschule Zentralschweiz, sich aus neuropsychologischer Sicht der Lernerfolg besonders dann nachhaltig einstelle, wenn ein selbst gewollter Schwerpunkt Emotionalität und Eigentätigkeit fördert und durch Vielseitigkeit leicht mit anderen Fächern vernetzt werden kann. Daher bieten sich musische Fächer in besonderem Masse als Bildungsschwerpunkte an. Und zu den musischen Fächern - im antiken Sinne - gehören auch Zeichnen, Malen sowie vor allem die Bewegung. Also Tanz, Gymnastik und vor allem Sport.

Was in der Aufführung der Musikklasse offensichtlich und unüberhörbar ist, kann sich ausgehend von anderen Fächern ebenfalls ereignen - wenn auch nicht so bühnenwirksam. Dazu Liselotte Kurth: «Im Musikunterricht sind viele Intelligenzen miteinander verbunden - die musikalische, die sprachliche, die logisch-mathematische, die räumliche und die kinästhetische.» Ausserdem gibt es keine universellere Sprache: Die Entwicklung der Notenschrift, welche die Eigenschaften der Töne in Zeichen umsetzt, ist eine der höchsten kulturellen Leistungen. Diese Abstraktion kann einfach wie der «Schneewalzer» oder kompliziert wie eine Beethoven-Symphonie sein; sie wird weltweit verstanden und mehr oder weniger gleich gespielt. Hinzu kommt, dass Musik sich in der Zeit ereignet, einen Anfang und ein Ende hat und dann verklingt. Musik machen kann man allein. In einem Chor zu singen, in einem Streichquartett oder einer Rap-Band mitzumachen, bedeutet die Entwicklung und das Erleben des «Wir-Gefühls». Und das ist etwas Grossartiges.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2006

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