Niklaus Stoecklin

Hans Krattiger

Am 19. April 1976 ist Niklaus Stoecklin 80 Jahre alt geworden. Mit dem Eintritt ins patriarchalische Alter gewährt uns der Künstler einen Rückblick auf sein Schaffen, das sich über sechs Jahrzehnte erstreckt, und die Betrachtung aus einer Distanz, die zu werten erlaubt. Wohl ist die Eigenart Stoecklins schon sehr früh erkannt worden, aber erst von der höheren Warte des 80jährigen aus wird uns bewusst, wie sehr Niklaus Stoecklin nicht nur innerhalb der Basler und der Schweizer, sondern auch der europäischen Kunst der Gegenwart ein erratischer Block ist, ein Phänomen, das seinesgleichen sucht.

Wir müssen uns die Situation vor und nach dem Ersten Weltkrieg vor Augen halten, um den «Sonderfall Stoecklin» recht zu begreifen. «Blicken wir zurück nach Stoecklins Anfängen nach dem letzten Krieg (1914— 1918), so sehen wir ihn beschäftigt mit Versuchen, sich der Ausdrucksmittel der damaligen Zeit zu bedienen. Es lag herum, was der Krieg übrig gelassen hatte: Zerstörtes Land, zerstörtes Leben, zerschlagene Ideale. Was sich bis 1914 vom Glauben an überpersönliche Werte mühsam erhalten hatte, war im Krieg untergegangen. Wer seine Stimme wieder erhob, vermochte nur noch ,dada' zu lallen. Künstler spielten mit Bruchstücken einer vergangenen Welt, setzten Klötzchen und Bettfedern zusammen und zeichneten mit müdem Strich Schieber und Prostituierte. Leer an starken Gefühlen gerieten sie allmählich in die ästhetische Elementarschule des Kubismus, in welcher auch Stoecklin kurze Zeit experimentierte. Bald trieb ihn jedoch seine gesunde Natur vom psycho-analysierenden ästhetizismus fort zu umfassenderer Arbeit», schrieb Dr. H. B. im Katalog zur Stoecklin-Ausstellung in der Kunsthalle 1940.

Auf dem Trümmerfeld, das der Erste Weltkrieg hinterlassen hatte und das den Künstlern ein Anknüpfen an die Kunstrichtungen der Vorkriegszeit, vor allem den Impressionismus, verunmöglichte, entstanden der Dadaismus, der Kubismus, der Fauvismus, der Expressionismus und die Neue Sachlichkeit als hauptsächlichste Versuche, der Kunst wieder ihren Platz in der Gesellschaft und im Kulturbereich zu geben. Die um gut ein Jahrzehnt älteren Künstler wie P. B. Barth (geb. 1881), Karl Dick (geb. 1884), J. J. Lüscher (geb. 1884) und Numa Donzé (geb. 1885), die als markante Vertreter der tonigen Basler Schule zu erwähnen sind, hatten das Glück, noch vor dem Ersten Weltkrieg den Grundstein zu ihrer Künstlerschaft zu legen und als schon Herangereifte, zwar nicht unberührt, aber doch schon persönlich gefestigt, in die Wirrnis der Nachkriegszeit zu treten. Niklaus Stoecklin kam 1912 als 16jähriger Jüngling nach München, wo er bis 1914 die Kunstgewerbeschule besuchte, kehrte nach Basel zurück, genoss den Unterricht an der Allgemeinen Gewerbeschule und war lernbegieriger Schüler im Atelier seines Onkels Haiggi Müller (1885—1960). Doch betrachten wir seine frühesten Werke wie die «Rheingasse» (1917), das «Selbstporträt im Bett» (1919), die Porträts von «Nelly» und «Franziska» (1919 und 1920), «Die Blinde» (1918), «Hartmannsweilerkopf» (1919) und «Die Vorstellung» (1919), dann hält man vergeblich Ausschau nach Vorbildern, die ihn beeinflusst haben könnten. Mag man auch zum Beispiel in den Häuserfassaden, die den Hintergrund zu «Nellys» Porträt bilden, kubistische Anklänge finden und in Kompositionen wie «Die Blinde» mit den ungleichen Strümpfen und «Die Vorstellung» (nämlich des Laierkastenmannes mit dem Holzbein, der durch ein Loch in der Mauer ein schlafendes Mädchen betrachtet) an Surrealismus denken — weder ist «Nelly» typisch für die Art des Kubismus noch «Die Vorstellung» für diejenige des Surrealismus. Durch das Labyrinth der -ismen, in das der junge Stoecklin in der Nachkriegszeit unwillkürlich hineingeraten musste, ist er — so will uns scheinen — mit schlafwandlerischer Sicherheit hindurchgegangen, als sei er gefeit gegen alle Einflüsse und Versuchungen, denen alle seine Malerkollegen ausgesetzt waren.

Der im Kleinbasel aufgewachsene Niklans Stoecklin hatte das Glück, Eltern zu haben, für die Kunstpflege zu den Lebensnotwendigkeiten gehörten und die deshalb für die früh in Erscheinung tretende künstlerische Begabung des Sohnes Nikiaus volles Verständnis zeigten. Dieses Talent hatte er offenbar mehr von seinem Grossvater väterlicherseits, der Dessinateur in der Basler Seidenband-Industrie war, und von der Mutter, der Schwester des Kunstmalers Haiggi Müller, als von seinem Vater, der Kaufmann war, geerbt. Vom Vater, der nebenbei jedoch ein leidenschaftlicher Käfer- und Schmetterlingsammler war, erbte Niklaus Stoecklin das Interesse an den Naturwissenschaften, ein Interesse, das ihm profunde Kenntnisse — vor allem auf dem Gebiet der Botanik — verschaffte und das unter anderem seinen grossartigen Niederschlag fand in den ebenso künstlerisch hochstehenden wie instruktiven Wand bildern für die chemischen Fabriken Hoffmann-La Roche (1940) und Sandoz (1953).

Den Jahren der Ausbildung in München und Basel folgten die Jahre der Studienreisen in den Tessin, wo 1919/20 die «Casa Rossa» entstand, und ins Wallis, nach Italien, Paris und Südfrankreich (1921—1925), nach Tunesien (1925) und in den späteren Jahren nach England (1947), ägypten (1955) und Griechenland (1960). Dazwischen zog es ihn immer wieder ins Engadin, wovon Landschaftsbilder und die herrliche Komposition «Chalanda Marz», die dem Foyer des Gemeindehauses einen wohltuenden Akzent verleiht, zeugen. Doch so sehr er für sein Schaffen diese «Abstecher» in andere Gegenden und Länder brauchte, so sehr war doch die Stadt am Rheinknie mit ihrem Cachet und ihrer Tradition, mit ihrem spezifischen Charakter und ihrer Fasnacht — Stoecklin entwarf das Signet, den bezopften Baslerstab, der ComitéSchnitzelbänke, deren Jury er angehört —, die Stadt des Handels und der Wirtschaft der unentbehrliche Nährboden seiner Kunst. Dass ihm 1958 der Kunstpreis der Stadt Basel zuerkannt wurde, war eine mehr als verdiente Anerkennung seines Schaffens.

Es ist für den Aussenstehenden, auch wenn er Niklaus Stoecklin und sein Werk zu kennen meint, nicht möglich, zu erahnen, ob es ihm schwer oder leicht gefallen ist, den in ihm schlummernden kategorischen Imperativ «Going my way!» zu befolgen. Wir stellen nur fest, dass er seinen Weg unentwegt gegangen ist, auch als gegen die Mitte des 20. Jahrhunderts die abstrakte Kunst mehr und mehr tonangebend wurde. Arnold Rüdlinger schrieb im Vorwort des Katalogs für die Ausstellung in der Kunsthalle 1959 (zusammen mit Karl Aegerter): «In einer Zeit, die die Gegenständlichkeit als nicht mehr tragfähig für echte künstlerische Inhalte über Bord geworfen hatte, blieb Stoecklin ein eminent gegenständlicher Maler, der noch einmal die Poesie der Dinge für uns entdeckt und beschworen hat.» Die Poesie der Dinge — das ist's, was Stoecklins Kunst ausmacht. Schon am Anfang, in jener Zeit, als andere nur Trümmer und Scherben sahen; Stoecklin sah sie auch, aber er sah aus den Trümmern neues Leben blühen, er entdeckte mitten in den Scherben Schönheiten. War er deshalb ein Träumer, ein Romantiker, ein unverbesserlicher Optimist? Oder nicht viel eher ein Glaubender, wozu ihm das von seinem Vater ererbte Interesse an den Naturwissenschaften, vor allem der Botanik, verholfen haben könnte. Poesie der Dinge — in einem unscheinbaren Pflänzchen so gut wie in einer kostbaren Lilie, in ein paar Jasskarten so gut wie in einem kunstvoll ge schliffenen Glas, in einer zerbröckelnden Fassade so gut wie im «Château de Chazeron». Es gibt in Stoecklins Augen nichts Banales; auch alltäglichste Dinge, von ihm zu einer Komposition gruppiert, werden gleichsam verklärt, und mit Recht bemerkt A. Hernandez im Katalog für die 1966 im Gewerbemuseum durchgeführte Ausstellung «Plakate und angewandte Graphik»; «Stoecklins Malerei begnügt sich nicht damit, Augenlust zu bereiten (das tut sie auch!), sie gibt zugleich ein Wissen von den Dingen, vermittelt Einsicht», und an anderer Stelle: «Neben aller ästhetischen Freude, die wir an seinem Werke empfinden, könnte es uns auch noch dies lehren: in den Dingen, mit denen wir uns umgeben, etwas Bleibenderes zu sehen als nur das verschleissbare Instrumentar unserer materiellen Welt.»

Und so unerschöpflich die Welt der Dinge ist — so reich das Panorama von Stoecklins Oeuvre. Im Herbst 1975, im Jahr des Denkmal- und des Heimatschutzes, führte das Stadt- und Münstermuseum im Kleinen Klingental eine Ausstellung mit Stadtansichten von Niklaus Stoecklin, ergänzt durch Bilder aus Riehen und der badischen Nachbarschaft, durch. Die Verbundenheit Stoecklins mit seiner engeren Heimat wurde sichtbar und spürbar, ebenso aber auch sein Sensorium für Architektur, vor allem für gute Architektur, die sich durch die Ausgewogenheit richtiger Proportionen auszeichnet. Und auch in diesen Architekturbildern: Poesie der Dinge, die ja durch die Bauwut der fünfziger und sechziger Jahre vielerorts verloren gegangen ist, weshalb Stoecklins Stadtbilder, ganz abgesehen vom künstlerischen, auch dokumentarischen Wert besitzen. Aber mit der Ausstellung im Kleinen Klingental wurde ja nur ein, wenn auch bedeutsamer, Aspekt seines Schaffens und seines Interesses aufgezeigt. Eine ebenso umfangreiche und faszinierende Ausstellung liesse sich bewerkstelligen allein mit seinen Stilleben, in denen sich Stoecklin als ein Meister der Architektur im Kleinen offenbart, oder mit Bildern, die in Paris und Venedig, in Holland, England und Schottland, in Tunesien und ägypten, im Raum der klassischen Antike entstanden sind; und wertvoll bereichert könnte eine solche Ausstellung werden durch die Tagebücher, auf solchen Reisen entstanden und Zeugnis dafür, dass der Künstler gleich einem Seismograph eine Fülle von charakteristischen Einzelheiten festgehalten hat. Oder eine Ausstellung nur mit Zeichnungen, Bleistift- oder Federzeichnungen, wobei er die braune Sepiatinte bevorzugt. Eine solche Ausstellung gliche einer Wanderung mit Stoecklin über den Tüllinger Berg nach Otlingen, durch heimelige Elsässer Dörfer wie durch belebte Gassen der französischen Me tropole, durch geschichtsträchtige deutsche Städte wie Bamberg und Würzburg, durchs Engadin und verträumte Nester im Tessin, wo er während Jahren ein Refugium besass. Und wir sähen Stoecklin als untrüglichen Beobachter, der mit sicherem und sensiblem Strich das Wesentliche hervorhebt und eine Fülle von Details, die für den jeweiligen Ort, die jeweilige Landschaft typisch sind, dem Ganzen unterordnet und belebend einfügt. Und ebenso sehr liesse sich eine Ausstellung nur mit Aquarellen veranstalten, mit kleinformatigen Kostbarkeiten wie «Erdnüsschen und Fliege» oder «Mausefalle», aber auch Landschaften, in denen Reiseeindrücke unmittelbar ihren Niederschlag gefunden haben.

Und erst recht eine Graphik-Ausstellung, wie sie 1966 zum 70. Geburtstag von Niklaus Stoecklin im Gewerbemuseum durchgeführt worden ist. Es war eine unvergessliche Ausstellung, und sie fiel in eine Zeit, da die einst berühmte schweizerische Plakatkunst durch phantasielose Photoplakate auf ein bedenkliches und bedauerliches Niveau herabgesunken war. Ein Niveau, dessen Tiefe durch die Begegnung mit Stoecklin-Plakaten aus den zwanziger Jahren geradezu erschreckend evident wurde. In den Räumen des Gewerbemuseums begegnete man Plakaten, die man Jahrzehnte zuvor an Plakatwänden gesehen hatte und die in der Erinnerung haften blieben, etwa die Plakate für Teppich Matzinger (ein bärtiger Orientale auf einem Teppich sitzend) oder Sandreuter (ein Reiter mit Halskrause und breitrandigem Hut), für Gaba oder PKZ, das Basler Stadtplakat (Spalentor) oder das Plakat für Meta-Tabletten (Tablette und darüber Streichholz in den Diagonalen). A. Hernandez stellte im Katalog-Vorwort fest, dass sich im Werk Niklaus Stoecklins freie Malerei und angewandte Graphik zu einer künstlerischen Einheit verbinden, wie sie heute nur selten zu finden ist. Und eingehend auf das Intime und Beschauliche seiner Stilleben bemerkt Hernandez: «Und nun das überraschende : Gerade diese stille, intime Welt sich selbst genügender Gegenständlichkeit tut den Schritt auf die laute Strasse, wandelt sich um in Werbung.» Und in der Tat: es scheint ein himmelweiter Unterschied zu sein zwischen dem auf einfachste, aber wirkungsvollste Form gebrachten Gaba-Plakat von 1927 und dem im gleichen Jahr entstandenen Stilleben «Die drei Körper» oder «Laterne am Rhein» — und doch ist es die gleiche Hand, doch ist es der gleiche Wille, zu gestalten und etwas auszusagen. Aber ebenso erstaunlich wie das Resultat ist die Ausführung, die handwerkliche Leistung: Niklaus Stoecklin hat seine Plakate selbst auf den Stein gezeichnet und damit so etwas «Vergängliches» wie ein Plakat erst recht zum Kunstwerk gemacht. Und die Pia kate sind ja nicht die einzigen Lithographien, die unter seiner Hand entstanden sind. In wie mancher Stube hängt eine mehrfarbige Lithographie aus seiner umfangreichen Serie von Stadtansichten, sei's der Letziturm oder der alte «Goldene Sternen» in der Aeschenvorstadt, vor dem ein Buebezigli vorbeimarschiert, oder sonst einen der noch stehenden oder seither verschwundenen Winkel. Längst vergriffen ist die 1943 vom Rotapfel-Verlag in Zürich herausgegebene Mappe «Schönheiten der Natur» mit 16 Farblithographien, darstellend Walderdbeere, Bergkristall, Frauenschuh, Fledermaus, Ammonshorn etc., Blätter von bezaubernder Schönheit und drucktechnischer Vollkommenheit (Graphische Anstalt Wassermann, Basel). Und würdig an diese «Schönheiten der Natur» reihen sich die Briefmarken, die Niklaus Stoecklin in den Jahren 1950, 1952, 1954 und 1956 für die Pro Juventute-Marken entworfen hat (Insekten und Schmetterlinge) und in den Jahren 1958 bis 1961 für die Pro Patria-Marken (Mineralien und Gesteine), ferner «50 Jahre Großschiffahrt auf dem Rhein» (1954) sowie einen Teil der Pax-Serie (Zahl und Text) von 1945. Es sind Marken mit der Kostbarkeit von Miniaturen, die jedes Philatelisten Herz erfreuen.

Seit Jahrzehnten bewohnt Niklaus Stoecklin sein Haus an der Morystrasse in Riehen, eingebettet in einen Garten, der die Hand des Botanikers verrät, und mit freiem, weitem Blick gegen Südwesten, über die Stadt und die Senke der Burgunderpforte. Ein Wohnen angesichts der untergehenden Sonne. Und Niklaus Stoecklin hat in seinem langen Leben viel untergehen gesehen, das einst ewig Bestand zu haben schien, aber auch vieles, das in mildem Abendlicht verheissungsvoll aufleuchtete und zu Getrostheit ermunterte. Ist er schon deswegen der «baslerischste der Basler Maler», wie Carl Egger schon 1928 im Vorwort zur ersten Stoecklin-Ausstellung in der Basler Kunsthalle bemerkte, oder müssen wir nicht viel eher Lukas Lichtenhan, dem Konservator, der für die Ausstellung von 1940 verantwortlich zeichnete, recht geben, wenn er sagt: «Niklaus Stoecklin ist als Künstler ein Einsiedler, und er will es sein. Er ist im Bild unserer Basler Malerei ein Aussenseiter, aber er bereichert das Ganze des Bildes gerade deshalb auf kräftigste Art.»

Erfahrungen als Ständeratspräsident Von Willi Wenk Unter den Begegnungen, die mir das Ständeratspräsidium vermittelt hat, darf ich wohl jene mit den Kollegen an erste Stelle setzen. Im Ständerat herrscht die freundschaftliche Atmosphäre eines Clubs. Vermutlich ist dies auf die geringe Zahl der Ständeräte und auf ihre Wahlart zurückzuführen. Wer in einer Majorzwahl zum Vertreter seines Kantons erkoren wird, ist kaum ein Extremist. In seiner überwiegenden Mehrheit besteht der Rat aus ausgeglichenen und den Ausgleich suchenden Persönlichkeiten. In seiner gegenwärtigen Zusammensetzung sind vier Ständeräte Söhne von ehemaligen Ständeräten. Seltsamerweise ist kein Ratsmitglied Sohn eines ehemaligen Nationalrates.

Im ersten Halbjahr meiner Präsidentschaft durfte ich einer Einladung des Europäischen Parlamentes nach Luxemburg und einer Einladung des Europarates nach Strassburg folgen. Beide Male traf ich mehrere ehemalige Kollegen aus der Zeit meiner Zugehörigkeit zur Parlamentarischen Versammlung des Europarates, unter anderen den holländischen Aussenminister Max van der Stoel. Er ist es gewesen, der als Parlamentarier und Mitglied der Beratenden Versammlung des Europarates zur Zeit der Papadopulos-Diktatur nach Griechenland gereist ist und dem Rat die ungeschminkte Wahrheit über das Obersten-Regime berichtet hat. Seine Aktion führte zum freiwillig-unfreiwilligen Austritt Griechenlands aus der Strassburger Organisation. In Luxemburg haben mir griechische Demokraten berichtet, wie sehr ihnen jene Aktion van der Stoels in ihrem Kampf gegen die Diktatur geholfen hat. Für uns Schweizer ist es nicht leicht zu ermessen, wie hoch in manchen Ländern die Zugehörigkeit zum Europarat als demokratisches Gütezeichen geschätzt wird.

Während der ölkrise des Jahres 1973 war Max van der Stoel Aussenminister. Er liess sich von den OPEC-Staaten nicht erpressen. Mutig ist er zum Recht gestanden. Dies hat den Holländern härtere Einschränkungen gebracht, als sie die übrigen Länder Europas zu erdulden hatten. Mit grosser Freude habe ich von Holländern vernommen, dass sie ihrem Aussenminister keine Vorwürfe gemacht haben. Die meisten waren stolz darauf, dass sich ihr Land unter dem Druck der Erpressung würdi ger verhalten hat als andere europäische Staaten. Sie schreiben diese Haltung wohl mit Recht ihrem Aussenminister zu, der sich mehr durch Geradheit als durch Wendigkeit auszeichnet und dessen überzeugungstreue niemand anzweifelt. So hatte ich ihn als Fraktionskollegen im Europarat kennengelernt. Was danach in der Zeitung zu lesen war, musste ich auf das Konto seines Charakters schreiben. Sogar ein kleines Land darf in seiner Aussenpolitik Haltung beweisen. Dann kann es erleben, dass seine Bürger begeistert zu seiner Regierung stehen. Dass menschliches Handeln beim Einzelnen aus dem Charakter folgt, wussten schon die alten Römer. Sie sagten in einer Kürze, die nicht zu übertreffen ist: «agere sequi tur esse.» Für mich erhielt dieses alte Wort eine neue Dimension, als ich die holländische Aussenpolitik in der ölkrise verfolgte und den Schlüssel zum Verständnis in dem mir seit Jahren bekannten Charakter ihres Aussenministers fand. Unerwartet und erfreulich für mich war, dass sein starker, gerader Charakter die Aussenpolitik seines Landes entscheidend zu prägen vermochte und dass seine Landsleute stolz darauf sind und darüber hinaus bereit, für die gediegene Haltung ihres Landes Opfer auf sich zu nehmen.

Im Mai 1975 durfte ich als Vizepräsident des Ständerates die Parlamentarier-Delegation nach Israel leiten. Neben den Schönheiten der Landschaft und den imposanten Baudenkmälern sahen wir das eindrückliche und in seiner Zurückhaltung gediegene Mahnmal der Judenvernichtung unter Hitler: Yad Washem. Dazu gehört auch ein Park, dessen Bäume jene ehren sollen, die zur Rettung von Juden Opfer und Risiken auf sich genommen haben. Jeder Baum trägt den Namen einer mutigen Frau oder eines selbstlosen Mannes.

Wir freuten uns darüber, auch Namen von Schweizern anzutreffen. Es war für uns Schweizer Parlamentarier eine unerwartete Ehre, dass Ministerpräident Y. Rabin uns 5A Stunden gönnte, um die Lage seines Landes darzulegen. Dabei hat er uns alle sehr beeindruckt, und zwar sowohl mit der gediegenen Klarheit seiner Darlegungen als auch mit seiner ungewöhnlichen sachlich-nüchternen Art. Der Mann ist allem Effekthaschen abhold. Auf ihm lastet das schwere Schicksal des Judenstaates. Man spürt ihm an, dass er seine ganze Kraft und seine aussergewöhnliche Intelligenz in den Dienst seines Landes und seines verfolgten Volkes stellt. Heute, am 4. Juli 1976, da die israelischen Soldaten ihre Landsleute in der ugandischen Stadt Entebbe aus der Gewalt der Terroristen befreit haben, erinnere ich mich voll Anerkennung und Dankbarkeit an diese starke Persönlichkeit, die ich vor 14 Monaten ken nenlernen durfte. Yitzhak Rabin hat schon im 6-Tage-Krieg als Generalstabschef seine Fähigkeiten bewiesen. Heute hat er weit über die Grenzen seines Landes hinaus dem Recht zum Durchbruch verholfen, indem er sich weigerte, den Terroristen nachzugeben, und weil er unter schwierigsten Bedingungen den Kampf aufgenommen hat.

Der Präsident des Ständerates begegnet in seiner Amtstätigkeit nur selten Aussenministern und Ministerpräsidenten. Seine regelmässigen Gesprächspartner sind die Beamten des Sekretariates und die Ratsweibel. Im Sekretariat der Bundesversammlung habe ich eine ganze Reihe von ausserordentlich tüchtigen und zuverlässigen Beamten kennengelernt, die während der Sessionen der eidgenössischen Räte ein übermass an Arbeit bewältigen und dabei stets freundlich und dienstfertig bleiben. Am Ende der Sommersession durfte ich den Ratsweibel Rudolf Matter verabschieden. Nach 47 Dienstjahren beim Bund ist er in den Ruhestand getreten. Im Jahre 1948 wechselte er vom Nationalrat zum Ständerat und wurde dort von meinem Vater willkommen geheissen. Seither hat er mit seiner ganz aussergewöhnlichen Zuverlässigkeit und liebenswürdigen Dienstbereitschaft die Wertschätzung aller Ständeräte erworben.

Bekanntlich soll man keinen Tag vor seinem Abend loben. Nach der ersten Halbzeit meines Präsidialjahres wage ich dennoch festzuhalten, dass ich eine grosse Zahl von angenehmen und bereichernden Begegnungen erleben durfte mit ausländischen Parlamentariern, mit Regierungsmitgliedern und Diplomaten, mit nachsichtigen Kollegen und treuen Beamten der Eidgenossenschaft.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1976

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