Riehen und der Basler Generalstreik von 1919

Gerhard Kaufmann

Anders als der Landesstreik im November 1918, nahm der Generalstreik im Sommer 1919 in Basel dramatische Formen an. Riehen, von der Stadt weitgehend abgekoppelt, war auf sich allein gestellt. Noch nie in seiner damals 114-jährigen Geschichte war der Gemeinderat derartigen Belastungen ausgesetzt gewesen wie in jenen Juli- und Augusttagen.

Derweil am 11. November 1918 in den Hauptstädten der Siegermächte das Volk jubelnd die Strassen füllte, war in der Schweiz der Landesstreik ausgerufen worden als Folge der wirtschaftlichen Not, unter der vor allem die städtische Bevölkerung zu leiden hatte. In Basel war die Arbeitsniederlegung eine fast vollständige. Auch die Staatsangestellten befanden sich grösstenteils im Ausstand. Sie legten die öffentlichen Verkehrsmittel lahm und besetzten die wichtigsten Schaltstellen in der Gas-, Wasser- und Elektrizitätsversorgung. Berichte aus dem revolutionären Russland sowie in jenen Tagen auch aus Berlin, München und anderen deutschen Grossstädten hatten hierzulande die Stimmung und die Phantasie der Bevölkerung mächtig angeheizt. In Riehen rechnete man allen Ernstes damit, dass Kolonnen von Streikenden plündernd und brandschatzend das städtische Umland heimsuchen würden, um sich der bei den Bauern lagernden Lebensmittelvorräte zu bemächtigen. Um das Schlimmste zu verhüten, sah der Gemeinderat als einzigen Ausweg «zum Schutz von Leben und Eigentum» die Bildung einer Bürgerwehr und beorderte dafür den Kommandanten der freiwilligen Feuerwehr und den Präsidenten des Landwirtschaftlichen Vereins am 11. November ins Gemeindehaus. Beide sicherten dem Gemeinderat ihre tatkräftige Mitwirkung zu. Noch am selben Tag erging ein gemeinderätliches Aufgebot an die als zuverlässig erachteten, wehrfähigen Männer des Dorfes. Das selbsternannte Platzkommando beschloss, eine Vorhut unten am Gstaltenrain zu postieren und beim Nahen der ausgehungerten Arbeiterkolonnen das Gros der Bürgerwehr mit der Sturmglocke zu alarmieren und beim Gemeindehaus zu versammeln. Riehen zählte damals noch über hundert Grossvieh haltende Landwirte, womit der zur Bürgerwehr umfunktionierte Landwirtschaftliche Verein über eine breite Basis verfügte. Der Bauernstand galt von jeher als zuverlässig und obrigkeitstreu – und darum als geeignet zur Bekämpfung subversiver Kräfte. Die sogenannten ‹Guiden-Schwadronen› hoch zu Ross waren das Machtmittel jener Zeit, wenn es galt, demonstrierende Massen auseinanderzutreiben oder in Schach zu halten. In der Nacht vom 14. auf den 15. November wurde der Streikabbruch beschlossen und am Morgen die Arbeit wieder aufgenommen. Wie vom Gemeinderat vorausgesehen, traf die angeforderte militärische Verstärkung – ein Mitrailleur- Detachement von 20 Mann mit Maultieren – erst am 16. November in Riehen ein. Die Arbeiterschaft stand auf der Verliererseite. Die Probleme, derentwegen sie in den Streik getreten war, blieben ungelöst, die sozialen Spannungen hielten an und führten acht Monate später zum Generalstreik in Basel.

DER GENERALSTREIK 1919 IN BASEL
Weitaus tragischere Folgen als der Landesstreik hatte der am 31. Juli 1919 erfolgte Ausbruch des auf Basel beschränkten Generalstreiks. Nach spannungsgeladenen Verhandlungen und gegenseitigen Provokationen, die sich während Tagen hingezogen hatten, war eine Aussperrung der Belegschaft in der Färberei Clavel & Lindenmeier der äussere Anlass, der zum Basler Generalstreik führte. Wiederum solidarisierten sich die Staatsangestellten mit ihren Kollegen aus der Privatwirtschaft und legten die Arbeit ebenfalls nieder. In den Jahren des Ersten Weltkriegs waren die Lebenshaltungskosten um 200 Prozent gestiegen, die Löhne hingegen lediglich um 145 Prozent für Frauen und für Männer um 160 Prozent angehoben worden. Die niedrigsten Löhne weit und breit zahlten Clavel & Lindenmeier. Erst im Frühjahr 1919 war die wöchentliche Arbeitszeit von 57,75 Stunden auf 48 Stunden gesenkt worden. Das Basler Fabrikarbeiterproletariat hungerte in überbelegten Wohnungen. Die Tuberkuloseerkrankungen waren sprunghaft angestiegen, Grippeepidemien hatten Tausende dahingerafft. So bedurfte es in der aktuellen Notsituation nur noch eines nichtigen Anlasses, um diesen Streik auszulösen. Aufgeschreckt durch die seit Sommer 1917 periodisch stattfindenden Demonstrationen und Gewaltakte, war auch in Basel eine Bürgerwehr gebildet worden, die sich aus Mitgliedern rechtsbürgerlicher Kreise zusammensetzte. Ihre Aufgabe war es, das Hab und Gut der Besitzenden, namentlich die Villen im Gellert, aber auch Banken, Telefonzentralen und andere Infrastruktureinrichtungen zu schützen und der Polizei im Kampf gegen demonstrierende und Steine werfende Arbeiter und Jungburschen beizustehen. Auf das Ersuchen des Basler Regierungsrats um militärischen Beistand bei der Bewältigung der eskalierenden Unruhen reagierte der Bundesrat umgehend: Die auf den 31. Juli 1919, mittags um 3 Uhr, nach Aarau und Liestal aufgebotenen Ordnungstruppen rückten in der Morgenfrühe des 1. August in die Stadt ein. Eine am Vormittag des 1. August durch Kleinbasel patrouillierende Motorwagenkolonne wurde beim Claraplatz mit Steinen beworfen. Das Militär eröffnete daraufhin das Feuer. Zwei Zivilisten starben. Etwas später versuchten Demonstranten, auf das Kasernenareal vorzudringen. Wiederum schoss das Militär in die Menge. Drei Zivilisten wurden getötet, zwanzig Schwerverletzte in die Spitäler eingeliefert. Der Generalstreik hatte seinen blutigen Höhepunkt erreicht.

IM NOTFALL WÜRDE SICH RIEHEN VON BASELSTADT LOSSAGEN
Wieder war Riehen abgeschnitten von der Stadt, die vollauf mit sich selbst beschäftigt war. So wurde denn die bereits im November 1918 zusammengestellte Bürgerwehr wieder mobil gemacht. Sie stand diesmal unter professionellem Kommando. Oberstleutnant Heinrich Heusser, Inspektor der hiesigen Taubstummenanstalt, befehligte durch Beschluss des Gemeinderats Riehens Wehr. Zu einem Eingreifen der Bürgertruppe kam es auch diesmal nicht. Von den in Basel eingerückten Ordnungstruppen in Regimentsstärke wurde ein Detachement von dreissig Mann teils zu Pferd, teils auf Camions nach Riehen beordert, mit dem ausdrücklichen Auftrag, das Gemeindehaus zu bewachen und eine angebliche Zusammenrottung von Jungburschen zu zerstreuen. Am Abend des 31. Juli 1919 traf sich der Gemeinderat zu einer Sondersitzung. Wie sehr unsere Gemeindeväter das Schreckensszenario eines Umsturzes vor Augen hatten, bezeugt folgender Eintrag im Gemeinderatsprotokoll: Für den Fall, dass in der Stadt die Räterepublik ausgerufen würde, sollte Sturm geläutet werden, damit die Gemeinde sich unabhängig erklären und entsprechende Beschlüsse fassen könne. Wie hätten diese Beschlüsse wohl gelautet? Anschluss an den Kanton Basel-Landschaft oder Gründung einer Freien Republik Dinkelberg? Fast zeitgleich mit der Sondersitzung des Gemeinderats versammelten sich um 8 Uhr abends hundert Bürger im Gasthof Ochsen, um die Instruktionen des Gemeinderats beziehungsweise des Kommandanten der Bürgerwehr entgegenzunehmen. Ihre Aufgabe war wie in Basel, das Hab und Gut der Besitzenden zu schützen und die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Es gab aber auch Unterschiede zwischen den Vorgängen in Riehen und in der Stadt. Dort war die Bürgerwehr aus Arbeitgeber-Kreisen gebildet worden. Ausserdem verfügte die Kantonsregierung über das mit Infanteriewaffen ausgerüstete Polizeikorps, das sich der Streikbewegung nicht angeschlossen hatte. In Riehen hingegen war die Bürgerwehr eine Art Volksmiliz, vom Gemeinderat initiiert und von diesem an ihre Posten beordert. Der Not gehorchend, beging der nur über eine sehr beschränkte Polizeigewalt verfügende Gemeinderat eine grobe Kompetenzverletzung, indem er mangels anderer Machtmittel eine Bürgerwehr etablierte. Dass fünf besonnene Männer, darunter auch ein Sozialdemokrat, zu einer derartigen Massnahme griffen, zeigt, dass sie davon ausgingen, der Generalstreik könnte sich zu einem Staatsstreich auswachsen. Die Etablierung einer Räterepublik nach sowjetischem Vorbild und der Spartakus-Aufstand im Januar 1919 in Berlin waren die Schreckgespenster jener Tage. Das war wohl auch dem Regierungsrat bewusst, der die Handlungsweise der Gemeindeväter danach in keiner Weise kritisierte oder gar sanktionierte. Am 8. August erfolgte der Streikabbruch. In Riehen war es weder zu Sachbeschädigungen noch zu Plünderungen gekommen. Fünf Gemeindearbeiter, die am Streik teilgenommen hatten, wurden fristlos entlassen. Diese Massnahme des Gemeinderats trug sicher nicht dazu bei, die aufgerissenen Gräben zuzuschütten. Dieser Aufgabe widmete sich eine im Krisenjahr 1919 gegründete Partei, die – ein Novum – weder dem Bürgerblock noch der Linken zuzuordnen war.

EIN BLICK ZURÜCK NACH 100 JAHREN
Den Enkelinnen und Urenkeln der aktiven Generation des Ersten Weltkriegs fällt es aus heutiger Sicht leicht, das Verhalten der damaligen Dorfgrössen als Überreaktion abzutun. Zweifellos war die Bildung von Bürgerwehren eine Reaktion auf die Angst vor einem Übergreifen der revolutionären Ereignisse im benachbarten Deutschland auf die kriegsverschonte, aber sozial aufgewühlte Schweiz. Die Formel «Ende der Monarchie gleich kommunistische Machtergreifung gleich Schreckensherrschaft» kannte das zutiefst erschrockene Bürgertum von den drastischen Vorgängen im zerfallenden Zarenreich. Dass auch die Verlierermächte Deutschland und Österreich-Ungarn dieser Gesetzmässigkeit unterliegen würden, galt damals als wahrscheinlich. Die Geschichtsschreibung geht heute jedoch mehrheitlich davon aus, dass die Schweiz am Ende des Ersten Weltkriegs zwar schweren Erschütterungen ausgesetzt, als selbstständiger, demokratisch regierter Staat aber nie gefährdet war. Schon Karl Radek, Lenins engster Vertrauter im Schweizer Asyl, bestätigte dies: «Die Revolution im Sinne der russischen ist in der Schweiz infolge des starken, selbstbewussten Bauernstandes nicht denkbar.» Die nach Art der Volksmilizen, aber ohne übergeordnetes Kommando organisierten Bürgerwehren waren der Armeeführung ebenso suspekt wie den sozialistischen Jungburschen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. General Wille befürchtete zu Recht eine sich jeder Kontrolle entziehende Eskalation der Gewalt durch das Eingreifen der selbsternannten Ordnungshüter und damit einen Bürgerkrieg. Auch die Basler Regierung distanzierte sich anfänglich von der städtischen Bürgerwehr. Das Regierungsratsprotokoll vom 13. November 1918 hält fest: «In der Frage der Verwendung der ohne Zutun der Behörden geschaffenen Bürgerwehr beantragt Herr Regierungsrat Miescher, der Regierungsrat wolle davon absehen, gegenüber den Streikenden die Dienste der Bürgerwehr anzunehmen und es sei ferner dem Kommando der 5. Division davon abzuraten, die Bürgerwehr heranzuziehen. […] Wird diesem Antrag zugestimmt und ist diese Stellungnahme dem Kommando der 5. Division mitzuteilen.» Diese Zurückhaltung wurde dann anlässlich des Generalstreiks Ende Juli 1919 weitgehend aufgegeben. Die städtische Bürgerwehr agierte unter dem Schutz des in der Stadt zirkulierenden Militärs auch als Streikbrecherin, fuhr Tramwagen oder reinigte Strassen (in Hemd und Krawatte). Waffen und Munition konnte sie aus Armeebeständen beschaffen und im De Wette-Schulhaus lagern sowie in einer Kammer der Villa Wenkenhof. Deren Besitzer, Alexander Clavel, war Kompaniechef vom Kreis II der städtischen Bürgerwehr. Staatsarchivar Andreas Staehelin, ein Chronist jener Tage, kommentierte diesen Tatbestand mit der bitteren Bemerkung: «Der gleiche Alexander Clavel, der durch die von ihm bezahlten Hungerlöhne den Generalstreik provoziert hat, ist seinen Arbeitern lieber mit Ross und Ordonanzpistole als mit der Lohntüte in der Hand entgegengetreten.» Ob und wie die Riehener Bürgerwehr bewaffnet war, ist nicht überliefert. Immerhin hatte damals schon jeder Wehrpflichtige seine Waffe im Haus. Obwohl weder der Landesstreik von 1918 noch der Generalstreik von 1919 den Streikenden den erwünschten Erfolg beschert hatten, setzten diese Ereignisse eine Entwicklung in Gang, die der Schweiz nach mehreren Anläufen die Einführung der AHV und das Frauenstimmrecht ermöglichten. Bereits im Oktober 1919 wurde das geforderte Proporzwahlrecht für den Nationalrat eingeführt und damit der sozialdemokratischen Partei eine angemessene Vertretung in der grossen Kammer garantiert.

QUELLEN
Beschlüsse des Regierungsrats des Kantons Basel-Stadt 1918,
StABS Handel und Gewerbe AA 24,5.
Protokolle des Gemeinderats Riehen, StABS.
Fotosammlung im Privatarchiv Johannes Wenk-Madoery, Riehen,
Fotograf: Paul Wenk-Löliger.
Fritz Grieder: Aus den Protokollen des Basler Regierungsrates zum
Landesstreik 1918, in: Basler Stadtbuch 1969, S. 142–172.
Fritz Grieder: Zehn heisse Tage. Aus den Akten des Regierungsrates zum
Basler Generalstreik 1919, in: Basler Stadtbuch 1970, S. 108–141.
Hanspeter Schmid: Krieg der Bürger. Das Bürgertum im Kampf gegen
den Generalstreik 1919 in Basel. Zürich 1980.

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