Das Liederbuch des jungen Ambrosius Kettenacker

Friedhelm Lotz

Ambrosius Kettenacker war eine zentrale Figur unserer Kirchengeschichte, vollzog er doch 1528 im Einvernehmen mit der Riehener Dorfgemeinde die Reformation. Daran erinnert uns der 2017 erschienene Kunstführer zur Dorfkirche St. Martin.1 Darin wird auch auf sein in jungen Jahren eigenhändig geschriebenes Liederbuch hingewiesen – ein bisher kaum bekanntes Detail aus Kettenackers Leben und ein Juwel in der Basler Universitätsbibliothek.

Ambrosius Kettenacker (um 1493–1541) wirkte ab 1519 in der Riehener Dorfkirche, zuerst als Leutpriester und ab der von ihm 1528 durchgeführten Riehener Reformation als evangelischreformierter Pfarrer. Sein Leben als Geistlicher ist gut dokumentiert und wurde mehrfach beschrieben, nicht zuletzt von Pfarrer Theophil Schubert im ‹Jahrbuch z’Rieche› 1963 unter dem Titel «Ambrosius Kettenacker und die Reformation in Riehen».2 Rund 500 Jahre später, am 9. November 2018, füllte er ‹seine› Kirche wieder. Diesmal nicht mit einer Predigt, sondern mit ‹Frólich Wesen›, der ersten zusammenhängenden Live-Aufführung der Musik, die Kettenacker als 15- bis 17-jähriger Student vor 1510 gesammelt und für den Eigengebrauch niedergeschrieben hatte, durch das Ensemble ‹Leones› unter der Leitung von Marc Lewon. Dieses aus einem ursprünglich vierstimmigen Satz einzig erhaltene Bass-Stimmbuch mit 28 Liedern gab Kettenacker 1510 an seinen damals 15-jährigen Freund Bonifacius Amerbach mit einer Widmung weiter. Ein Digitalisat des Werkes steht im Internet zur Verfügung und es gibt auch eine CD mit der Live-Aufnahme des Konzerts.3 Das Liederbuch ist eine der beiden ältesten4 Notenhandschriften des berühmten Amerbach- Kabinetts. Weitere Besonderheiten wie der Entstehungszeitpunkt an der Schwelle zur Reformation, die Jugend des Schreibers und die Inhalte und Aussagen der Lieder begründen das Interesse der Musik- und Gesellschaftshistorikerinnen und -historiker an dieser Handschrift und machen auch Laien neugierig. Dieses Interesse führte zu dem oben erwähnten Konzert und zu der Ausstellung im Geistlich-Diakonischen Zentrum Riehen vom 5. Oktober bis 23. November 2018: ‹Kettenackers Liedersammlung von 1508/1510 – Eine erstaunliche Welt›. Diese beiden Veranstaltungen haben den vorliegenden Beitrag inspiriert.

EINE SPURENSUCHE
Die Kettenacker-Handschrift ist unter dem Titel ‹Liederbuch des Ambrosius Kettenacker› mit der Signatur F X 10 in der Hauptbibliothek der Universität Basel abgelegt und gehört zu deren umfangreichen und berühmten ‹Sammlung der Musikhandschriften des 16. Jahrhunderts›. Diese besteht weitgehend aus Werken, die im 16. Jahrhundert in der städtischen Gesellschaft im Umlauf waren zum Singen und Musizieren in privaten Kreisen, in Kirchen, Schulen oder in der Universität. Sie wurden vielfach abgeschrieben, da Drucke und Handschriften selten und teuer waren. Im Gegensatz zu anderen grossen Kollektionen von Musikhandschriften in Europa ist die Basler Sammlung nicht für kostbare Prunk-Liederbücher bekannt, die von Adligen, Bischöfen oder von reichen Familien als repräsentative Schätze in Auftrag gegeben worden waren. Es sind vielmehr einfache Abschriften von bekannten Werken, die von der Bevölkerung rege gebraucht wurden. Das verleiht der Basler Sammlung ihre gesellschaftshistorische Bedeutung. Den umfassenden Zugang zu den aktuellen Werken der Zeit verdankte Basel seiner ausgezeichneten Vernetzung in Europa, vor allem durch das Druckergewerbe, den Flussverkehr auf dem Rhein und nicht zuletzt Erasmus von Rotterdam. Prominente Bürger wie der Jurist Bonifacius Amerbach, Professor für Institutionenlehre und Römisches Recht und fünfmaliger Universitätsrektor, waren Musikliebhaber und standen in regem Kontakt mit Fürstenhäusern, Komponisten, Schreibern und Handelshäusern. Das hatte sogar zur Folge, dass mehrere Werke aus anderen Regionen Europas nur in Basel überliefert sind – sozusagen eine ‹Datensicherung› über die Jahrhunderte. Denn die ‹Sammlung der Musikhandschriften des 16. Jahrhunderts› blieb bis heute weitgehend unversehrt. Sie verdankt ihre Existenz der Liebe zur Musik von einigen wenigen Sammlern, deren Nachlässe direkt oder im Laufe der Jahrhunderte indirekt an die Stadt Basel übergingen. Der wohl bedeutendste Teil stammt aus dem sogenannten Amerbach-Kabinett, das Bonifacius Amerbachs Urgrossneffe Johann-Ludwig Iselin der Stadt Basel 1661 verkaufte – unter dezidierter Mitwirkung von Bürgermeister Johann Rudolf Wettstein, der ein sehr lukratives Angebot aus Holland abwehren konnte. Das Kabinett umfasste unter anderem Erasmus von Rotterdams Nachlass, der an seinen Freund Bonifacius Amerbach übergegangen war, und enthielt nicht nur Schriften, sondern auch eine reichhaltige Objekt- und Kunstsammlung in der Tradition der ‹Wunderkammer›. Diese sind heute auf das Historische Museum, das Kunstmuseum und weitere Institutionen in Basel verteilt. Bücher und Handschriften gelangten in die Universitätsbibliothek, darunter auch das Kettenacker-Liederbuch. Der Eingang der zirka 10 000 neuen Inventarpositionen aus der Amerbach-Iselin-Sammlung im Jahr 1661 soll fast eine Verdoppelung des Bestands der Bibliothek bewirkt haben.5 Da schlummerte das Liederbuch während Jahrhunderten und geriet erst im Zuge einer umfassenden Katalogisierung um 1893 durch Julius Richter6 in den Fokus der Musikwissenschaft. Im Jahr 1917 beschrieb und kommentierte Wilhelm Merian die Handschrift wie folgt: «Besonders interessant für uns ist das Letztgenannte (F X 10), ein ursprünglich einem vollständigen mehrstimmigen Exemplar angehörige[s] Bassstimmbuch, das die Namen Amerbach, Kotter und Ketenacker aufweist, deren Zusammenhang untereinander mir jedoch unklar ist. Es ist nämlich ein sehr altes Manuskript (Anfang 16. Jahrhundert), dessen Umschlag so gelitten hat, dass Jahreszahl und Aufschriften undeutlich sind; aus den Aufschriften auf der Rückseite ‹Ambrosius Ketenacker donno dedit Bonifacion Amerbachio hos libellulos, Anno MDXX› (Jahreszahl aus dem Katalog von Richter) und von anderer Hand: ‹Dem ersamen und waisen maister Johann Kotter› ergibt sich so viel, dass es von dem genannten Ketenacker dem Humanisten geschenkt worden ist, vor- oder nachher aber einmal Kotter7 gehört hat.»8 Später wurde vieles an dem Dokument erforscht, zum Beispiel die Herkunft des Papiers, die Wasserzeichen, die Tinte und die Kalligrafie. Die amateurhafte Notenschrift, Fehler, Tintenflecken etc. schliessen die Hand eines professionellen Schreibers aus und deuten auf einen jungen Studenten, der dabei war, die Notenschrift zu erlernen. Dadurch wirkt die Handschrift lebendig und ungekünstelt. Aufgrund aller verfügbaren Daten und Analysen geht man heute davon aus, dass Ambrosius Kettenacker die Noten vor 1510 eigenhändig (ab-) schrieb und ursprünglich auch die drei anderen, heute verschollenen Stimmen (Diskant, Alt, Tenor) dazugehörten. Der Einband weist starke Abnutzungsspuren auf, was auf einen regen Gebrauch schliessen lässt.

Nr.

 Liedtitel

früheste Konkordanz

Thema

1.

Von suftzen tief

Unikat

Leid

2.

Wend wir aber sygen

Unikat

Protest

3.

Venus ich clag

Unikat

Liebe

4.

F du min schatz

1535

Scherz

5.

Wen ich gedenck

1545

Liebe

6.

Zu trost erwellt

1510

Liebe

7.

Frow bin ich din

1510

Liebe

8.

Frölich wesen

1510

Abschied

9.

Ach gramma

Unikat

Leid

10.

An dich kan ich nit froewen mich

1519

Liebe

11.

Min hertz ist bekümberet

Unikat

Leid

12.

Isbrüg jch [muss dich lassen]

Unikat / Melodie 1539

Abschied

13.

Wer das ellend büwen wel

1541

Pilgern

14.

Fruntlicher grutz in trüwen gar

1510

Liebe

15.

Der katzen reyen

Unikat

Scherz

16.

Us hertzen grund

1519

Liebe

17.

Fortuna [desperata]

1510

Leid

18.

Nach lust han

1519

Liebe

19.

Sant Cristoffel

Unikat

Prozession

20.

Die vollen bruöder kond ouch darzu

1510

Scherz

21.

Die frow von himell ruf ich an

1510

Maria

22.

Maria zart

1500

Maria

23.

Ich scheid mit leid

1520

Abschied

24.

Unfal wie tust

1510

Abschied

25.

Frow ich graw

Unikat

Liebe

26.

Ach hulf mich leid

1510

Liebe

27.

Nie noch niemer end min gemut

1519

Liebe

28.

Mary zu dir ich schry

Unikat

Maria

DER INHALT DES LIEDERBUCHS
Von den 28 Bassstimmen, aus denen Kettenackers Liederbuch besteht, sind nach heutigem Wissensstand 19 zu den ursprünglich vierstimmigen Sätzen rekonstruierbar (siehe Liste): 18 davon über die direkte Konkordanz mit anderen Quellen – also mit Liedern, die denselben Bass im mehrstimmigen Kontext besitzen –, und das Unikat Nr. 12 ‹Isbrüg jch›, dessen Bass zwar mit keinem heute überlieferten Werk korrelierbar ist, aber zur bekannten, erstmals 1539 publizierten Melodie ‹Innsbruck ich muss dich lassen› passt. Für das Konzert hat Marc Lewon hier die fehlenden Stimmen (Tenor, Alt) im Stil der Zeit ergänzt. Die derzeitigen Erkenntnisse und Konkordanzen zu den einzelnen Liedern sowie Angaben zu den eruierbaren Komponisten von sechs der ansonsten anonymen Lieder sind mit wenigen Ausnahmen im neusten Katalog der Musikhandschriftensammlung des 16. Jahrhunderts dokumentiert.9 Die gesammelten Lieder handeln von Liebe, Leid, Freude, Klage, Reiselust und Gottesfurcht. Insgesamt bilden sie ein Kaleidoskop von Themen, über die in dieser Zeit gesungen wurde. Die Auswahl gibt zugleich Einblick in das kulturelle, religiöse und emotionale Leben eines gebildeten Jünglings im kürzlich der Eidgenossenschaft beigetretenen Basel an der Schwelle zur Reformation. Wie alle Menschen seiner Zeit kannte der Student Ambrosius Kettenacker trotz seines jugendlichen Alters bestimmt auch schon Krankheit, Schmerz, Leid und Tod. Seine Lied-Auswahl thematisiert also nicht nur Liebe, Scherz und Reisen, sondern auch Frömmigkeit, Abschied und Verzweiflung. Es folgen ein paar exemplarische Einblicke in die Themenwelt und die Sprache dieser Lieder.10 Im lateinischen Lied Nr. 17 ‹Fortuna [desperata]›, dem wohl populärsten seiner Zeit im Liederbuch, kommt die Machtlosigkeit gegenüber dem Schicksal zum Ausdruck, wie die neuhochdeutsche Übertragung verdeutlicht:

1Fortuna desperata
Iniqua e maladecta
Che di tal donna electa
La Fama ha dinegrata
Fortuna desperata
1Auswegloses Schicksal
Ungerecht und verflucht
Wer hat den Ruf einer so
Ausgewählten Dame verleumdet
Auswegloses Schicksal
2O morte dispietata,
Inimica ed cruele,
Amara piu che fele
Di malitia fondata
Fortuna desperata
2O erbarmungsloser Tod
Feindselig und grausam
Bitterer als Galle,
Begründet in Bosheit
Auswegloses Schicksal

 

Der fromme Mensch suchte Halt und Trost im Glauben. Davon zeugen religiöse Lieder (Nr. 21, 22 und die Unikate 19 und 28) die sich im Spätmittelalter an die Heiligen und vor allem an Maria als Fürbitterin richten. Ein in Nordeuropa sehr bekanntes und von mehreren Komponisten bearbeitetes Abschiedslied ist Nr. 8 ‹Frölich Wesen›. Hier geht es um die Ungewissheiten und Gefahren in der Fremde. Das Lied strahlt aber zugleich Optimismus und Abenteuerlust aus:

1Ein frölich wesen hab ich erlesen
und sich mich um. Wo ich hinkum
In frömde land, wird mir bekannt
mer args denn guots durch senes fluots,
Glich hür als feren. Uf dieser erden
tuo ich mich selbs erkennen.
1Ein fröhlich Wesen hab ich erlesen
und sehe mich um. Wo ich hinkomme
In fremde Lande wird mir bekannt
mehr Arges als Gutes durch Sehnsuchtsansturm,
gleich dieses als voriges Jahr. Auf dieser Erde
tu ich mich selbst erkennen.
2Wo ich denn lend lang als behend
mit grosser gir, begegnet mir
Mengs wunder da; wie ich umscow,
gilt es mir glich in allem rich.
Kum, wo ich well: kein geld, kein gfell.
Doch tuo ich mich nit nennen.
(insgesamt 3 Strophen)
2Wo ich auf kurz oder lang ankomme
mit grossem Eifer begegnet mir
Manch Wunder da; wie ich mich umschaue,
ist es das Gleiche in allen Reichen.
Ich komme wo ich will: kein Geld, kein Gefallen.
Doch tu ich mich nicht nennen.

 

Das Unikat Nr. 2 ‹Wend wir aber sygen› deutet möglicherweise auf eines der Volkslieder um 1500 hin, deren Anfänge «Werden / wollen wir aber singen von …» lauten. Dabei handelt es sich meistens um Mut-mach-Lieder vor einem Kampf oder Protest, aber auch um Balladen wie zum Beispiel das ‹Tellenlied›. Lebensfreude, Genuss und Humor kommt in den Scherz- und Trinkliedern zum Ausdruck. Und selbstverständlich nimmt die Liebe viel Raum ein. Davon zeugt das weitgehend unbekannte Liebeslied Nr. 27 ‹Nie noch niemer end min gemut›:

1Nie noch nimmer so rut mein gmut /
ich tob und wut / bei dir zu sein
Dahin all mein / gedank ich setz /
troest und ergetz
Mit treuen mich / dargegen dich /
diweil ich leb mein treu versich.
(insgesamt 3 Strophen)
1Nie noch nimmer ruht mein Gemüt,
ich tobe und wüte um bei dir zu sein,
Dahin setze ich all meine Gedanken.
Tröste und ergötze
Mich in Treue, dagegen versichere ich dir
solange ich lebe meine Treue.

 

NACH DER REFORMATION VERGEISTLICHTE KETTENACKER-LIEDER
Das Kettenacker-Liederbuch enthält auch ursprünglich weltliche Lieder, die nach der Reformation in den religiösen Kontext aufgenommen wurden. Die Verbindung von geistlichen Texten mit allgemein bekannten, populären Melodien – ‹Kontrafaktur› genannt – war eine weit verbreitete Praxis in der frühen Reformationszeit, als die Gesangbücher aufkamen. Oft hiess es darin: «Zu singen nach dem Ton von: …». So konnte man auf Noten verzichten. Ein bekanntes Beispiel für eine Kontrafaktur ist das weltliche Abschiedslied Nr. 12 ‹Isbrüg jch [muss dich lassen]›, zu dessen Melodie viele geistliche Texte und musikalische Bearbeitungen entstanden, bis hin zu einigen grossen Werken der Musikgeschichte wie Bachs Matthäus- und Johannespassionen.11 Hier folgt die wohl früheste Kontrafaktur:

1Isbruck, ich muß dich lassen
Ich far do hin mein strassen
In fremde land do hin
Mein freud ist mir genomen
Die ich nit weiß bekummen
Wo ich jm elend bin.
1O Welt, ich muss dich lassen,
ich fahr dahin mein Straßen
ins ewig Vaterland.
Mein Geist will ich aufgeben,
dazu mein Leib und Leben
legen in Gottes gnädig Hand.

 

Das Liebeslied Nr. 26 ‹Ach hulf mich Leid› von Adam von Fulda, in dem eine Frau die Sehnsucht nach ihrem Gesellen ausdrückt, wurde zu Luthers Zeit mit demselben Anfang in ein geistliches Lied über die Reue eines Sünders umgewandelt. Die vorgestellte Fassung stammt aus einem Luther-Gesangbuch von 1545.12 Der Wortlaut am Anfang ist fast identisch:

1Ach hülff mich leid unnd senlich klag /
Mein tag hab ich kein rast,
So fast mein hertz mit schmertz thut ringen, /
Drängen / nach verlorner freud.
Wiewol ich bsorg, es sei umsunst, /
Min gunst, den ich ihm trag,
Doch mag ich nicht mit icht verlassen, /
Hassen in um lieb und leid.
1Ach hilff mich leid und sehnlich klag /
von tag zu tag solt sich /
trewlich / mein hertz / mit schmertz besagen, /
klagen / der verlornen zeit /
die ich so thörlich hab verzert, /
beschwert / beid leib und seel /
on heil und not / für Gott der rechen /
brechen / will der sunden neid

 

Viel älter als die bereits vorgestellten Melodien ist der ‹Jakobston›, das Pilgerlied der Jakobspilger. Man nimmt an, dass sie es schon im 14. Jahrhundert sangen, um sich an ihren Stationen auf dem Weg nach Santiago de Compostela auszuweisen und damit ein Anrecht auf Kost und Logis zu erwerben. Interessanterweise sind schriftliche Noten dazu erst aus dem 15. Jahrhundert überliefert. Der Kettenacker-Bass des Liedes Nr. 13 mit dem Titel ‹Wer das ellend büwen wel› – ‹das Elend bauen› bedeutet ‹in die Ferne ziehen› – ist die älteste erhaltene Notenschrift zu diesem populären Lied aus dem Mittelalter. Der Melodie wurde ein geistlicher Text unterlegt. Die hier wiedergegebene Fassung trägt den Titel ‹Ein schön Geystlich Lied von einem Christlichen pilgram› und stammt aus einem Luther-Gesangbuch von 1550.13 Hier wird nicht mehr eine Pilgerfahrt beschrieben, sondern die Lebensreise des Menschen auf dem Weg zu Gott. Der reicht dem Lebenspilger die Hand wie die hilfsbereiten Leute im Schweizerland dem Jakobspilger (5. Strophe). Auch hier beginnt die neue Fassung mit fast denselben Worten wie die alte:

1Wer das ellend bawen well,
der heb sich auf und sei mein gsell
wohl auf sant Jacobs straßen!
Zwai par schuoch der darf er wol,
ein schüssel bei der flaschen.
1Wer hie das Elend bawen will
der heb sich auff und zieh dahin
und gehe des HERREN strasse
Glaub und gedult dörfft er gar wol
solt er die Welt verlassen.
2Ein braiten huot den sol er han
und an mantel sol er nit gan,
mit leder wohl besezet,
es schnei oder regn oder wähe der wint,
daß ihn die luft nicht nezet.
2Den Weg den man yetzt wandern sol
der ist elend und trübsal vol
das nempt euch wol zu hertzen.
Lust unnd frewd schwimbt gar dahin
bleibt nur jammer und schmertzen.
3Sack und stab ist auch darbei,
Er luog, daß er gebeichtet sei,
gebeichtet und gebüßet!
Kumt er in die welschen lant
er findt kein teutschen priester.
3Das Fleysch erschrick unnd sicht sich umb
ob ihm dort her ein Feyndt schier kompt
der es möchte angelangen.
Es rauscht ein blat vom Baum herab
es meynt es sey gefangen.
4Ein teutschen priester findt er wol,
er waiß nit wo er sterben sol
oder sein leben laßen,
stirbt er in dem welschen lant
man grebt in bei der straßen.
4Wenn nu das fleisch zu bodem geht
und jm der Tod entgegen steht
so schwebt der Geist frey oben
zeigt uns an die arge welt
die uns hat lang betrogen.
5So ziehen wir durch Schweizerlant ein,
sie heißen uns gutwelkum sein
und geben uns ire speise,
sie legen uns wol und decken uns warm,
die Straßen tuont sie uns weisen.
(insgesamt bis 21 Strophen)
5So sieht der Pilgram auff dem Land
der HERR reycht ihm sein trewe Hand
kann jm den weg recht weysen
kein ungefehr jm schaden sol
der Geist der will jn speysen.
(insgesamt 15 Strophen)

 

DAS INTERESSE DER MUSIKGESCHICHTE
Wie sich gezeigt hat, ist die Bedeutung des Kettenacker-Liederbuchs aus musikhistorischer Sicht vielfältig. Als Teil der Amerbach-Sammlung hat es als erste Notenhandschrift eine besondere Stellung inne. Der Zeitpunkt seiner Entstehung liegt an der Schwelle des beginnenden Noten-Buchdrucks und noch vor der Reformation. Diese deutsche Liedersammlung schliesst gewissermassen die Lücke zwischen der letzten bedeutenden erhaltenen deutschen Liederhandschrift, dem ‹Glogauer Liederbuch› von 1480, und dem ersten Druck mit mobilen Noten-Typen, ‹Erhard Oeglins Liederbuch› von 1512.14 Ausserdem zeugt es mit seiner amateurhaften Notenschrift und den starken Gebrauchsspuren vom musikalischen Alltag eines Studenten in Basel um 1500. Inhaltlich umfasst die Liedauswahl ein breites Spektrum. Der hohe Anteil an Unikaten – etwa ein Drittel – und die erstaunliche Anzahl von Liedern, für die das Kettenacker-Liederbuch die frühesten schriftlich überlieferten Fragmente enthält – darunter das berühmte ‹Innsbruck, ich muss dich lassen› – machen es für die Musikgeschichte zu einer wichtigen Quelle.

1 Bernard Jaggi, Christoph Matt, Martina Holder:
Die Dorfkirche St. Martin in Riehen.
Schweizerische Kunstführer, Bern 2017.

2 URL: www.riehener-jahrbuch.ch/de/
archiv/1960er/1963/zrieche/ambrosiuskettenacker-
und-die-reformation-in-riehen.html
[Zugriff: 18.07.2019].

3 URL: www.e-manuscripta.ch
doi/10.7891/e-manuscripta-2683 [Zugriff:
18.07.2019].

4 John Kmetz: The Sixteenth-Century Basel
Songbooks. Origins, Contents and Contexts,
Bern 1995, S. 49ff.

5 Ebd., S. 18.

6 Julius Richter: Katalog der Musik-Sammlung
an der Universitäts-Bibliothek in Basel, in:
Monatshefte für Musikgeschichte XXIII (1893),
Supplement.

7 Hans Kotter, berühmter Organist und
Komponist aus Strassburg, war Lehrer und
Freund von Bonifacius Amerbach.

8 Wilhelm Merian: Bonifacius Amerbach,
in: Basler Zeitschrift für Geschichte und
Altertumskunde 16 (1917), S. 149f. Die
Jahreszahl MDXX im Text wurde später in
MDX korrigiert.

9 Die meisten Referenzen zu den einzelnen
Konkordanzen finden sich in John Kmetz:
Die Handschriften der Universitätsbibliothek
Basel. Katalog der Musikhandschriften des
16. Jahrhunderts – quellenkritische und
historische Untersuchung, Basel 1988,
S. 268–271, und Kmetz 1995, S. 51–52, sowie
im Begleitheft der Konzert-CD, insbesondere zu
Nr. 12, 13 und 22. Da sind auch die Namen der
Komponisten vermerkt, falls bekannt.

10 Die frühneuhochdeutschen Liedtexte stammen
im Folgenden aus unterschiedlichen Konkordanzen,
die hier nicht einzeln aufgeführt
werden. Neuhochdeutsche Übertragungen
stammen in der Regel von Marc Lewon und
vom Verfasser.

11 Vgl. dazu Wikipedia, URL: de.wikipedia.
org/wiki/Innsbruck,_ich_muss_dich_lassen
[Zugriff: 18.07.2019].

12 Martin Luther (Hg.): Das Babstsche Gesangbuch
von 1545. 2. Faksimiledruck Ausgabe.
Kassel 1966.

13 Martin Luther (Hg.): Geistliche Lieder und
Psalmen, Nürnberg 1550, S. 683. München,
Bayerische Staatsbibliothek, Sign. Liturg. 739.
URL: mdz-nbn-resolving.de
urn:nbn:de:bvb:12-bsb10186128-2 [Zugriff
11.08.2019].

14 Vgl. Kmetz 1995, S. 49ff.

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2019

zum Jahrbuch 2019