Sechs entscheidende Jahre und das Panorama eines ganzen Künstlerlebens

Michèle Faller

‹Der junge Picasso – Blaue und Rosa Periode› mit Werken aus den Jahren 1901 bis 1906 und die Sammlungsausstellung ‹Picasso Panorama› in der Fondation Beyeler boten eine einmalige Begegnung mit dem Jahrhundertkünstler.

Der Blick ist eindringlich, die Haltung selbstbewusst. Die Hände lässig in den Jackentaschen, steht der junge Mann auf der sonnenbeschienenen Place Ravignan in Montmartre, Paris, und blickt direkt in die Kamera – und damit direkt in unsere Gesichter, die wir am Eingang der Ausstellung ‹Der junge Picasso – Blaue und Rosa Periode› in der Fondation Beyeler stehen. Natürlich wissen wir, wie erfolgreich der 23-Jährige bald sein wird, der zum Zeitpunkt der Aufnahme noch in ärmlichen Verhältnissen im berühmten Atelierhaus ‹Bateau-Lavoir› lebt. Doch blickt man ins Gesicht des jungen Künstlers auf dem alten Foto, kann man zumindest vermuten, dass er eine leise Vorahnung dessen hat, was er später im verblüffenden Ausspruch «Ich wollte Maler sein und bin Picasso geworden» auf den Punkt bringen sollte. Blicken wir an der Wand mit der grossformatigen Fotografie vorbei, fällt unser Blick auf ein Selbstporträt, dessen Ausdruck sogar noch eine Spur selbstsicherer ist. Es ist Anfang 1901 für Pablo Picassos erste Ausstellung in der Galerie von Ambroise Vollard in Paris entstanden, als der Künstler erst 19-jährig war. Mehr zu erahnen als klar zu erkennen ist die Farbpalette in seiner rechten Hand, doch Pinsel oder Leinwand sieht man nirgends. «Ein kühnes Statement des Neuankömmlings in Paris», betonen Saaltext und Ausstellungskatalog, der ein kleines Kunstwerk für sich ist.1 Wichtiger als seine Utensilien sind der Künstler selbst sowie sein vorliegendes Werk, das quasi den Leistungsausweis erbringt. Bemerkenswert ist die Signatur links oben, die zugleich als Bildtitel fungiert: «Yo Picasso» steht dort, wobei das ‹Yo – Ich› in unübersehbaren Grossbuchstaben hingemalt wurde.
Sie wurde als Kultur-Highlight 2019 angekündigt und hielt dieses Versprechen. Die Ausstellung ‹Der junge Picasso – Blaue und Rosa Periode›, die zwischen dem 3. Februar und dem 16. Juni insgesamt 335 244 Besucherinnen und Besucher verzückte, ist damit die am zweitbesten besuchte Ausstellung in der Geschichte der Fondation Beyeler – nur ‹Paul Gauguin› 2015 hatten noch mehr Leute gesehen. Bereits acht Monate vor der Vernissage luden Fondation- Beyeler-Direktor Sam Keller und Kurator Raphaël Bouvier zur ersten Medienkonferenz, an der auch Picasso-Enkelin und Kunsthistorikerin Diana Widmaier Picasso anwesend war. Doch was sind schon acht Monate im Vergleich zu vier Jahren? So lange hatten Keller und sein Team nämlich an der Ausstellung gearbeitet, die in Kooperation mit den Musées d’Orsay et de l’Orangerie sowie dem Musée National Picasso Paris entstand. Da erstaunt es nicht, dass der Museumsdirektor vom bisher aufwendigsten, ambitioniertesten und auch kostspieligsten Ausstellungsprojekt in der Geschichte des Museums sprach – allein der Versicherungswert betrug rund vier Milliarden Franken.

NUR EINMAL IM LEBEN
Der zweiten Medienkonferenz unmittelbar vor der Eröffnung wohnte der Sohn des Universalkünstlers, Claude Picasso, als Ehrengast bei. Bouvier und Keller berichteten von weiteren Superlativen: Erstmals in Europa würden die Meisterwerke der Blauen und Rosa Periode in dieser Dichte und Qualität gemeinsam präsentiert. Sie seien extrem wertvoll – sowohl als Kulturschätze wie auf dem Kunstmarkt. Ausserdem seien die 41 Leihgaben, die aus 13 Ländern anreisten, in ihren Heimatmuseen absolute Publikumsmagneten und entsprechend schwierig auszuleihen. Die übrigen Werke stammten aus privaten Sammlungen und man bekomme sie selten – wenn nicht gar nur einmal im Leben – zu Gesicht. Wen das alles im Vorfeld noch nicht beeindruckt hat, wird in der hochkarätigen Schau mit ihren 75 Werken überzeugt. In den ersten Sälen sind nebst dem oben erwähnten Selbstporträt Werke zu sehen, die durch ihre Buntheit verblüffen und auch sonst in Staunen versetzen. Das ist ein Picasso? Noch nie gesehen! Die Bilder entstanden 1901 in Madrid und Paris und zeigen vor allem das Pariser Nachtleben. Da sind die ‹Frau in Blau›, eine energisch blickende Kurtisane in imposanter Aufmachung, Cancan-Tänzerinnen im Moulin Rouge, eine schöne, aber etwas abgekämpfte Dame in ‹Die Erwartung (Margot)› und die Absinthtrinkerinnen. Besonders eindrücklich ist jene, die in sich zusammengesunken mit verschränkten Armen und leerem Blick an einem Tischchen sitzt. Die Komposition mit dem Grün des Absinths, das im Pullover wieder aufgenommen wird, und dem Gesicht der Trinkerin, das leuchtend aus dem Schatten hervortritt, ist genauso schön, wie das Dargestellte traurig stimmt. Wunderbar ist die Platzierung des Werks mitten im Raum, die das vollständige Betrachten der beidseitig bemalten Leinwand ermöglicht. Auf der anderen Seite ist die ‹Frau in der Loge› zu sehen, die kurz vor der ‹Absinthtrinkerin› entstand. Der Melancholie der Trinkerin, wenn auch hier in warmen Farben gehalten, werden wir in den Werken der Blauen Periode immer wieder begegnen. Der Übergang zu dieser Phase, in der Picasso die Welt praktisch durch einen blauen Filter sah, ist an einigen seiner Werke festzumachen, doch exemplarisch scheinen zwei sehr ähnliche Darstellungen seines Freundes Carles Casagemas, der sich im Februar 1901 das Leben nahm. In ‹Der Tod Casagemas’› herrschen Rot und Gelb vor, während bei ‹Casagemas im Sarg› – abgesehen von der gelblichen Gesichtsfarbe des Toten – Blau dominiert. Der Selbstmord des Freundes war der Auslöser für die Blaue Periode, wie Picasso selbst bemerkte: «Der Gedanke, dass Casagemas tot ist, brachte mich dazu, in Blau zu malen.» Interessanterweise tat er dies mit einer zeitlichen Verzögerung von etwa einem halben Jahr, denn aus der Zeit unmittelbar nach Casagemas’ Tod stammen die farbigen Bilder der Theaterlogen, denen noch etwas Sorgloses anhaftet.

 

WÜRDE STATT SCHOCKEFFEKT
Die Menschen, die Picasso in seiner Blauen Periode darstellte, drücken allerdings die Sorgen schwer. Das spürt man beim Betrachten deutlich, aber niemals ist man ob des Elends schockiert. Etwa bei der ‹Sitzenden mit Schal›, in sich gekehrt und praktisch nur das traurige Gesicht beleuchtet vom durch das kleine Fenster einfallenden Licht: Obwohl ihr Elend sichtbar wird, ist man doch überrascht, dass der Künstler hier eine Insassin im Pariser Frauengefängnis Saint-Lazare porträtiert hat, denn sie scheint zu schön dafür. Das fällt in der Ausstellung immer wieder auf: Picasso stellt die Menschen am Rand der Gesellschaft berührend dar, ohne ihre Not abstossend erscheinen zu lassen oder ins Rührselige abzugleiten. Er zeigt sie in würdevoller Schönheit. Die Rosa Periode setzte 1904 ein, als Picasso seine erste Muse und Geliebte Madeleine kennenlernte. Die beiden Gaukler im Bild ‹Akrobat und junger Harlekin› wirken ähnlich zart wie die elfenhafte Madeleine als ‹Frau im Hemd›, wobei der Harlekin sogar ähnliche Gesichtszüge trägt. Auch die ‹Akrobatenfamilie mit einem Affen›, deren andächtige Stimmung an eine Heilige Familie im Zirkusmilieu denken lässt, zeigt dieselben grazilen Figuren und könnte als eine Art Gegenstück zum allegorischen Schlüsselwerk der Blauen Periode ‹Das Leben› gesehen werden. Beide handeln von universellen Themen wie Leben, Liebe, Sexualität, Schicksal und Tod.2 Hier Einsamkeit und Melancholie, dort Glück und Freude, wobei die Grenzen fliessend sind und beide Seiten der jeweils anderen innewohnen. So beeindruckend diese zahlreichen Meisterwerke an sich sind – die grossartige Picasso-Schau hatte noch mehr zu bieten. Insgesamt 1300 Führungen und Workshops fanden statt, unter anderem das wöchentliche ‹Zeichnen mit Picasso› in der Sammlungspräsentation, wo eine Kunstvermittlerin ihre Schützlinge in nur einer Stunde dazu brachte, quasi ‹Picasso-like› zu zeichnen. Das eigens für die Ausstellung eingerichtete ‹Café Parisien› im Stil der Belle Époque lockte jeden Mittwoch zur ‹Blauen Stunde› und schuf vom Vortrag übers Konzert bis zu Burlesque, Drag-Show und Cabaret originelle und erhellende Bezüge zu den ausgestellten Werken. Einzige Abweichung von den Originalen: Das Absinth-Trinken fand hier in fröhlicher Stimmung statt. Im Multimediaraum konnte man via interaktive Bücher in Picassos Welt eintauchen, dessen übermalte Gemälde mit einem Röntgenblick durchleuchten oder mittels eines Stadtplans von Paris Freunde und Lieblingsorte des grossen Künstlers aufsuchen. In der Ausstellung markiert das Jahr 1906, als Picasso mit seiner neuen Muse Fernande Olivier ins Pyrenäendorf Gósol reiste, die Hinwendung zu einer neuen, archaischen Formensprache mit imposanten weiblichen Akten, die in auffallendem Gegensatz zu den filigranen Zirkusgestalten stehen. Eine radikale Reduktion der Formen führte 1907 schliesslich zu ‹Les Demoiselles d’Avignon›, das als Vorbote des Kubismus gilt. Mit diversen Ölstudien zu diesem bahnbrechenden Werk, die auf verblüffende Weise die einzelnen Entwicklungsstadien verdeutlichen, endet die Schau über die Blaue und Rosa Periode – und beginnt die Sammlungsausstellung ‹Picasso Panorama›, die von Januar bis Mai zu sehen war. Sie beginnt mit einer Ölstudie, die besondere Aufmerksamkeit verdient: Die ebenfalls 1907 entstandene ‹Frau (Zeit der «Demoiselles d’Avignon»)› ist das früheste Werk aus der Picasso-Sammlung von Ernst und Hildy Beyeler.

HOMMAGE AN ERNST UND HILDY BEYELER
Heute besitzt die Fondation Beyeler mit 33 Werken eine der grössten Picasso-Sammlungen weltweit. Ergänzt durch Dauerleihgaben aus der Anthax Collection Marx und der Rudolf Staechelin Collection, umfasste die Sammlungsausstellung 40 Werke, die zwischen 1907 und 1972 entstanden waren. Beide Ausstellungen zusammen machten die Fondation Beyeler temporär zu einem veritablen Picasso-Museum und verstanden sich auch als Hommage an das Museumsgründerpaar3, das den Künstler persönlich gekannt hatte, ihn in der Galerie Beyeler ausgestellt und im Laufe der Jahrzehnte über 1000 seiner Werke vermittelt hatte. Auch Hauptwerke der Blauen und Rosa Periode wurden dort präsentiert, vermittelt und verkauft – darunter ‹Akrobat und junger Harlekin›, als Plakatmotiv quasi das Symbolbild der Ausstellung. Hier scheint sich der Kreis zu schliessen, denn wir sind wieder beim bunten, stolzen, zuweilen auch harten Picasso angelangt, den wir zu kennen meinten. Doch die Sicht auf die neueren Werke hat sich nach dem ausgiebigen Einblick in seine sensible, zarte Seite verändert. Diese kam dann zum Vorschein, als der junge Mann, der Künstler werden wollte, bereits Picasso war.

1 Fondation Beyeler, Raphaël Bouvier (Hg.):
Picasso. Blaue und Rosa Periode, Ausstellungskatalog,
Riehen/Berlin 2019, S. 42.

2 Vgl. das Vorwort ebd., S. 9.

3 Ebd., S. 11.

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2019

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