Station Basel

Rolf Hochhuth

Sieben Jahre lang, von 1964 bis 1971, lebte Rolf Hochhuth, der berühmte deutsche Schriftsteller und Dramatiker, mit seiner Familie in Riehen. Vor seiner Übersiedlung nach Basel stellte er dem Riehener Jahrbuch, gleichsam als Abschiedsgruss, den nachfolgenden Beitrag zur Verfügung, der sein sehr persönliches und herzliches Verhältnis zur Stadt Basel und ihrer Umgebung zum Ausdruck bringt. Der Artikel ist auch in der «Swissair Revue» erschienen.

Lange bevor ich Basel zum ersten Mal besucht habe - besucht, um gleich zu bleiben, für nunmehr schon acht Jahre -, hatte ich von dieser Stadt ein ziemlich fest umrissenes Bild; so ergeht es einem auch mit mancher anderen Stadt - etwa mit Stockholm. Jedoch das Bild, das Basel kraft seiner Ausstrahlung, die mächtig ist, auch in der Ferne von sich vermittelt, stimmt so exakt mit dem wirklichen überein, das heisst hier: mit dem historischen, dass ein langer Aufenthalt es kaum, es fast gar nicht korrigiert. Wie ist das zu erklären? Unzureichend durch die Tatsache, dass Basel zwar auf die denkbar fortschrittlichste Weise die Erscheinungen unseres zwanzigsten Jahrhunderts, zum Beispiel die industrielle Entwicklung, die wissenschaftliche Forschung, die Architektur in seinen Kreislauf hineinorganisiert - dass es aber dennoch oder auch deshalb jenes Basel bleibt, das vor Augen hat, ja im Ohr, der die Schriften seines grössten Sohnes, des 1897 verstorbenen Jacob Burckhardt gelesen hat und der den Matthäus Merian kennt, den Basler Kupferstecher, ohne dessen Städte-Ansichten wir schlechthin keine Vorstellung von allen unseren Städten vor dem dreissigj ährigen Kriege hätten.

Diese Republik, die sich mit ihrem Rhein-Kraftwerk Basel-Birsfelden eines der architektonisch meistgeglückten Industrie-Bauwerke unserer Epoche errichtet hat - blieb dennoch die Stadt der Totentänze Merians und Holbeins, und selbst ihre vielberühmte Fasnacht ist auf eine keineswegs lustige Weise beklemmend mittelalterlich - «humoristisch» eher wie Breughel oder gar Bosch und absolut frei von der optimistendummen Faschingsblödelei des Kölners. Weltoffen ist Basel wie es sein Industrie-Hafen ist für die langen, schweren Rheinkähne, die von Rotterdam heraufschwimmen oder wie sein Bahnhof, sicherlich einer der meistbefahrenen Europas; und erbaut auch diese Stadt an ihren beiden Ufern die modernste chemische Industrie des Kontinents: sie denkt gar nicht daran, ihren Genius loci ans zwanzigste Jahrhundert das geringste Zugeständnis machen zu lassen. Basel bleibt - fast so unverändert wie der Rhein von den Schiffen bleibt, die ihn passiert haben. Das belegt auch diese Anekdote noch: Lenin übernachtete hier im «Christlichen Hospiz» - wo sonst hätte er als Uljanow absteigen können ! -, aber der Wirt dieses Hauses, ein gebildeter Mann, wusste nichts davon, als ich ihn einmal darauf ansprach. Selbst Lenin, der nicht Revolution machen wollte, ohne zuvor im Kunsthaus die Holbeins und die Böcklins aufmerksam mit dem Lorgnon studiert zu haben, ist durch Basel nur hindurchgegangen - spurenlos.

Gewiss ärgert man sich auch in Basel - wo nicht -, über die zeitgenössische Brutalität, mit der sich rendite-versessene Abreisser an architektonisch höchst reizvollen Bauwerken des neunzehnten, ja des achtzehnten Jahrhunderts vergreifen; immerhin, selbst die kleine Angensteinerstrasse, erst Mitte der neunziger Jahre erbaut, wird nunmehr von der Stadt unter Denkmalschutz gestellt; und hier in Basel zuerst habe ich gesehen, wie ein ehrwürdiger Gasthof, der Zum Löwen, aus einem Stadtteil Sandstein für Sandstein und Diele für Diele in einen anderen in Sicherheit gebracht wurde, um dort neu errichtet zu werden.

Der Geist von Basel - wenn denn eine Formel gesucht werden soll -, ist der Antipode des amerikanischen; was umso bemerkenswerter ist, als hier im Zentrum der europäischen Banken zweifellos nicht weniger Geschäftstüchtigkeit sich tummelt als in der neuen Welt. Nur dominiert sie nicht. Und es ist keine Geste, keine Spekulation der Fremden-Industrie, dass die Rhein-Ufer nicht nur von breiten Brücken — sondern auch von schmalen Fähren verbunden sind; und diese Kähne, selbstverständlich, treibt nur die Strömung von Ufer zu Ufer, aber kein Motor. .. Britisches Understatement ist, gemessen am baslerischen, noch Grössenwahn.

Der Epiker Otto Flake, der in seine Romane mehrfach das Stadtbild Basels aufnimmt, schreibt in der «Sanduhr»: «Basel lag ausserordentlich günstig. Man konnte sich einen anderen Verlauf der Geschichte denken - dass es der älteren Linie der Zähringer, die ja Bern, das badische Freiburg und das schweizerische gegründet hatten, gelungen wäre, Südwestdeutschland, die Eidgenossenschaft und Burgund zu einem Reich zusammenzufassen: Basel als Hauptstadt würde, vielleicht, die Bedeutung von Paris oder Wien erlangt haben. Jedenfalls dieser atmenden Lunge, an der entscheidenden Biegung des Rheines eingesetzt, fehlte es nicht an Sauerstoff.» Und Flakes Lebensepos, dem FORTUNAT, dem der Schweizer Max Rychner das verständnisvollste Nachwort schrieb, und das am Abend der Schlacht von Waterloo in Basel eingesetzt, im Seidenhof, dem damaligen Hauptquartier des österreichischen Oberbefehlshaber Erzherzog Johann, verdanke ich es nicht weniger als den Briefen Burckhardts und meinem spärlichen Wissen um Erasmus von Rotterdam - dass es mich wie ein Literaturpreis traf, als ich in Berlin las, was ausgerechnet die Basler Nachrichten (Philipp WolffWindegg) über mein soeben uraufgeführtes erstes Stück geschrieben hatten; es war die weitaus wohlwollendste Kritik, die mich damals inmitten eines Exzesses von Anfeindungen erreichte; ihr folgte die Nachricht, Basel werde als erstes deutschsprechendes Theater der Berliner Piscator-Bühne den «Stellvertreter» nachspielen. Basel, das war die Stadt, in die Jaspers, der massgebende Philosoph neben Sartre und Rüssel, gegangen war; und hier lehrte Muschg, der grosse Autor der «Tragischen Literaturgeschichte», der Wegbereiter expressionistischer Dichter, auch verschollener wie Döblin und Jahnn. Und in Basel hatte auch Heinrich Leuthold, der weit unterschätzte Lyriker, der das bedeutendste Meeres-Gedicht deutscher Sprache schrieb, sein materiell und endlich auch geistig furchtbar verkümmertes Leben hingebracht. ..

Ich kam in der Frühe am SBB an, mit dem Schlafwagen, lange bevor man mich im Theater - das nun leider einem Neubau weichen muss -, erwartete und ging vom Bahnhof zum Münster, einfach den Spitzen der Türme nach. Verwirrend - der Strassenverkehr war lebhaft wie in München, eher stärker noch in dem Mass, in dem die Strassen und Gassen enger sind als in Bayern. Und dennoch, nichts hätte mich weniger in Erstaunen gesetzt, als wenn ich nicht wegen eines Autostroms am Strassenrand hätte warten müssen, sondern weil ein mittelalterlicher Zug von Söldnern oder Zunftleuten oder Flagellanten aus einer der engen, betreppten Gassen um die Barfüsserkirche oder das fasnachtbunte gotische Rathaus auf mich zumarschiert wäre. Mitten in einer Hauptschlagader des Verkehrs stand ein mächtiger Ahornbaum, ich dachte: woanders hätte das Strassenbau-Amt ihn längst abhacken lassen; wo man alte Bäume auch dann respektiert, wenn sie im Wege stehen, wird man überhaupt Einzelne gelten lassen - Einzelne sind ja stets «im Weg». Diese Gasse ging ich hinauf. Ein ovales vergoldetes Schild, desgleichen ich nie gesehen hatte, hing an einem Haus, kleiner als Wirtshaus Schilder, aber ebenso schön: Advokaturbureau. So etwas hatte ich niemals gesehen, ich trat auf die andere Strassenseite, um das Haus zu betrachten - und las: Erasmushaus.

So kam ich zur Rittergasse und endlich zum Münster, dessen spätestgotische zarte Sandsteinfassade nicht weniger rot leuchtete wie der Septembermorgen - oder wie die bastionsteile Wand des «Münstersprungs», der Rhein-Terrasse, auf der ich mir den ersten Blick über Basels chemische Werke hin, den Schwarzwald-Abhängen zu und wieder zurück, ins Gassengewirr Klein-Basels verschaffte. Der Beginn einer Schnitzler-Novelle fiel mir ein: «Hier werde ich lange bleiben» - aber da wir nicht mehr in Schnitzlers Zeiten leben, so dachte ich sofort hinzu: sofern die Fremdenpolizei das gestattet... Ich muss noch von einem persönlichen Erlebnis sprechen, weil es die beste Seite des Basler Bürgergeistes - denn in Basel ist es weder ein Anachronismus, von Bürgern zu reden noch Bürger zu sein -, offenlegt: die Gastfreundschaft. Ein Buchhändler, den ich noch niemals gesehen hatte, kam zu mir ins Hotel, um mich einzuladen, mit Frau und Sohn zu seiner Familie zu ziehen. Begründung: es sei doch sicherlich lästig, jedem zugänglich in einem Hotel zu leben, während in den Strassen ein Fackelzug mit fünftausend Teilnehmern sich gruppiere, um gegen die Aufführung des «Stellvertreter» im Stadttheater zu demonstrieren. Als nun dieser Buchhändler meine Familie zu seiner führte, betrat ich ein Palais, das ich kannte - es war jener «Seidenhof» am Rheinufer, in dem Flakes «Fortunat» einsetzt; ein Barockportal führt in einen noch gotischen Innenhof, dessen Mauerbrunnen ein zeitgenössisches Standbild des ersten deutschen Königs aus dem schweizerischen Geschlecht der Habsburger ziert. Als ich dort eingezogen war, erreichte mich ein Anruf des Pfarrhauses am Münster: die Aufforderung, Sonntagfrüh zum Gottesdienst zu kommen - die Predigt werde der Problematik des «Stellvertreter» gewidmet sein -.

Vielleicht ist mit diesen Andeutungen schon die Frage beantwortet, die man mir häufig stellt: was mich in Basel festhalte. Der Reiz der ersten Stunden ist hier wie überall unwiederholbar; aber die kritisch wohlwollende Aufnahme des Fremden und seiner Arbeit durch die hiesigen Bürger, die so erfrischend spottlustig sind, bis zu den 200 Polizisten, die am Abend der Stellvertreter-Premiere das Theater vor denen geschützt haben, die es stürmen wollten, hält mich gefühlsmässig für immer in dieser Stadt - sollte ich irgendwann auch in Berlin oder Wien wohnen, wohin es mich oft zieht, der Theater wegen. In der Antike verbot ein Gesetz, die Einwohnerzahl einer Stadt über eine Viertelmillion hin auszudehnen - eine politisch weise, kulturell förderliche, Bürgersinn und Gemeinwohl stärkende Massnahme, und es ist kein Zufall, dass auch das heutige Basel nicht wesentlich mehr Bewohner zählt. Hier gibt es noch keine Masse und keine Slums, hier ist der Einzelne noch ein Individuum, hier kennt noch der Brief- und TelegrammTräger die Leute persönlich, denen er Post bringt. Für einen, der schreibt und nicht Auto fährt, sondern Rad, ist Basel der ideale Arbeitsort: Die Lesegesellschaft, die Universitäts-Bibliothek und das Kupferstichkabinett sind unauslotbare Labyrinthe der Bücherwelt und der Kunst, sind die hilfreichsten Institutionen, nicht nur, um gründlich orientiert, sondern auch, um in deren kühlen Lesezimmern in Ruhe gelassen zu werden; und wohnt man im Vorort Riehen, einen Kilometer vom Weinberg Tüllinger Hügel entfernt, dort, wo die Braut des in Basel geborenen Johann Peter Hebel lebte (mit der er 40 Jahre verlobt war, ohne sie zu heiraten) - so kann man mit dem Rad sozusagen direkt aus einem der Wiesentäler, in die der Schwarzwald ausläuft, zu Antiquaren und in die zwei Bibliotheken gelangen, ins Zentrum der Arbeit. (Auch soll ja der Schriftsteller nicht die Mahnungen Voltaires wie Rousseaus vergessen: dass er, der herrschenden Mächte wegen, mit denen er sich niemals zu gut vertragen sollte, seinen Wohnsitz wählen müsse wie die Füchse - mit Ausgängen nach mindestens drei Seiten! Von Basels Marktplatz ist es eine Viertelstunde nach Frankreich oder Deutschland; von Basels Bahnhof gelangt man binnen eines Vormittags nach Mailand oder Paris oder Frankfurt. Aber wichtiger ist, dass man von Frankfurt binnen vier Stunden nach Basel gelangt!) Wenn Jacob Burckhardt voltaireianisch bemerkte, «wir Heiden wissen besser, wie hoch das Münster ist als diejenigen, die am Sonntag hingehen»: so ist damit festgestellt, dass auch die bundesdeutsche politische Szenerie sich aus der knappen Distanz ziemlich gut überschauen lässt - objektiver sicherlich, als lebte man in Bonn. Demokratie, uns Deutschen nicht angeboren, erlernt sich nicht schlecht in einem Gemeinwesen, in dem - wo sonst auf der ganzen Welt! -, nur zweitausend Bürger ihre Unterschriften sammeln müssen, um die öffentliche Abstimmung über eine Regierungsmassnahme erzwingen zu können. Das ist bewundernswert - so lästig es auch für die Gesetzesmacher sein mag und soll.

Als Karl Jaspers mit fünfundachtzig Jahren das Basler Bürgerrecht erwarb, ohne deshalb aufzuhören ein Deutscher zu sein, erfüllte ihn das mit so spürbarer Genugtuung, dass ich mich verwundert zeigte. Jaspers erklärte: «Hier bin ich ein freier Bürger. Sechzig Jahre lang musste ich immer das Gefühl haben, man halte mich für einen Staatsfeind.»

Eine grössere Verbeugung vor einem Gemeinwesen scheint mir undenkbar, als wenn ein Jaspers in ihm das Gefühl vollkommener Freiheit hat.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1971

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