Unterwanderungen

Regula Suter-Raeber

Am 18. Mai 2001 erhielt die Künstlerin Catrin Lüthi K den Riehener Kulturpreis 2000. Eigens zu diesem Anlass konzipierte die Preisträgerin eine Ausstellung im Kunst Raum Riehen.

 

Wandern, liebe Catrin Lüthi K, scheint mir ein Schlüsselbegriff für dein bildnerisches Werk sowie für deine Person zu sein: Während der zwei Tage der «portes ouvertes» im Dezember 2000 waren in Lüthi K's Atelier auf einem Lattengerüst rund fünfzig Fotos ausgebreitet, Schnappschüsse, die sie auf ihren jüngsten «Stadtwanderungen» im Räume Basel, Riehen, London gemacht hatte, Fotos von Baustellen, von Um- und Neubauten, von Architekturdetails. Zu Fuss oder auf dem Velo war sie mit dem Fotoapparat unterwegs, um skizzenhaft ihre optischen Eindrücke bei diesen «Erwanderungen» einzusammeln. Die entwickelten Bilder im Atelier erinnern sie an die unterschiedlichen Wahrnehmungen, an die Situationen, die sich ihr damals als über sich selbst hinausweisende Form- und Raumkonstellationen zeigten. Durch übermalen, durch Betonen und Bezeichnen wird eine Anzahl dieser Fotos weiterhin nach ihren plastischen Begebenheiten erkundet werden; neue Impulse für eine künstlerische Umsetzung in eigene plastische Werke werden von ihnen ausgehen.

Seit Jahren bereits unternimmt Lüthi K solche Wanderungen. In diesem Zusammenhang sind auch die zwischen 1996-99 entstandenen Wanderboxes zu sehen. In acht Zinkblechbüchsen ist je eine Serie von überarbeiteten Fotos von Wien, Liestal, Riehen, Weil, Strassburg, Basel, London, New York eingelegt, zum Durchblättern. Es sind Fotos von persönlich gewählten Orten, deren Erwanderung mit konzentrierter Sicht durch den Fotoapparat jeweils höchstens ein oder zwei Tage dauerte. Der zu den Wanderboxes verfasste Text beginnt mit dem Satz: «Ich begebe mich an einen Ort mit dem Körper aufrecht, mein Gesichtsfeld weit und offen auf Wanderschaft eingestellt...»

Offen, offen sein scheint mir ein zweiter Schlüsselbegriff für Lüthi K zu sein. Mit der Offenheit während der Erwanderungen hängt eng zusammen die Neugierde und das Offensein für alles, was die reale Welt anbietet: für die Natur, für das von Menschen Geformte, Gedachte und Geschriebene, für das akustisch Wahrnehmbare, für Vergangenheit und Zukunft. Dazu gehört auch die Offenheit für das Zufallende, die sich zum Beispiel in der positiven Reaktion auf die häufigen, durch ihr Privatleben bedingten Wohnortwechsel im In- und Ausland bis zur definitiven Niederlassung in Riehen 1992 äussert. - Gleichzeitig ist Lüthi K ehrlich und offen für sich selbst, für ihre Gefühle, Gedanken, Erfahrungen und folgt ihrer Intuition. Von der Frage «wer bin ich?» führt der Weg zum «ich bin ich», das Voraussetzung ist für die persönlichen Mitteilungen, die Lüthi K mit ihrem künstlerischen Werk und mit ihrer Lebensgestaltung macht. Solches Bei-sich-Sein ermöglicht nicht nur die Wanderschaft, das Unterwegsein im weitesten Sinn, sondern auch das Warten beim bildnerischen Gestal ten, bis sich ein neu zu beschreitender Weg auf ein neues Ziel hin zeigt. Bei diesem Warten sind die im Atelier ausgelegten Fotos der «Stadtwanderungen» sehr wichtig; in ihrer stillen Präsenz regen sie zu neuen Formfindungen an und geben Impulse für neue Gedankengänge.

Wenden wir uns nun dem plastischen Werk von Liithi K zu. Ich lade Sie ein, verehrte Anwesende, sich mit mir auf die Wanderung durch die heute ausgestellten Werke von Lüthi K zu begeben und dabei so offen zu sein, wie Lüthi K es ist. Das Prinzip der Offenheit, das ihrem Wesen und ihrem bildnerischen Schaffen zugrunde liegt, führt zu neuartigen Werken, die Gewohntes in Frage stellen. Lüthi K's Kunst will nicht schön und gefällig, geschweige denn süffig sein. Sie will vielmehr aufrütteln, Denkanstösse geben. Ihre Werke fordern die Betrachtenden. Man muss sich Zeit nehmen, sich einlassen, offen sein, ohne gleich zu kategorisieren oder zu werten - dann können neue, wesentliche Erfahrungen gemacht werden.

Freie Werke

Ohne Auftrag, aus eigenem Antrieb im Atelier als freie Arbeit entstanden, ist die Zickzack-Installation von 1992, ein ungegenständliches plastisches Werk und gleichzeitig eine Installation. Mit seinen beweglichen Gelenken kann das dreidimensionale Objekt jeweils an einem neuen Ort in unterschiedlicher Zickzackform und damit mit neuem Ausdruck und neuem Raumbezug installiert werden.

Dieses Werk ist typisch für Lüthi K: mit seinen Materialien Vierkanteisenstäbe, Wachs, Baumwollstoff. In ihrer Kombination stehen sie für Gegensätzliches: Eisenstäbe, schwarz, kalt, kantig - gegen Baumwollstoff, hell, weich und beliebig formbar einerseits zu amorphen Gelenken; anderseits zu steifen vierkantigen Hüllen, deren Form jeweils durch das Einschieben des Eisenstabs in den Baumwollstoff vor dessen Behandlung mit flüssigem Wachs bestimmt worden ist. Das ganze Werk thematisiert Gegensätze: stehen - hängen, hart - weich, steif - beweglich, stereometrische Form - Unform, positiv - negativ, Schale - Kern. Es betont Grenzen, die gleichzeitig auch übergänge sind. So verweist dieses ungegenständliche, nichts Reales abbildende Werk mit seinen Materialien und seiner Gestalt zurück auf Erfahrungen, die wir in unserer Welt gemacht haben, macht sie auf seine einmalige Weise sichtbar und bewegt uns.

Lüthi K ist eine Handwerkerin. Sie hat eine direkte Beziehung zu den von ihr gewählten Materialien, sie probiert deren Eigenschaften aus und ist immer auf Präzision in der Ausführung bedacht. Sie lernt von Handwerkern, tauscht Erfahrungen mit ihnen aus und gibt ihnen dort, wo sie ein Werk nicht selbst ausführen kann, klare Anweisungen. In der Baubranche lernt sie auch Materialien kennen, die sie spontan ansprechen, da sich mit ihnen ihre Gestaltungsabsichten vollkommen umsetzen lassen. So zum Beispiel das dünn gewalzte Blei, das weiche, biegsame, gräulich glänzende und schwach reflektierende Material, das sie ab 1990 immer wieder verwendet.

In den folgenden Jahren untersucht Lüthi K Gegenstände und Materialien des täglichen Gebrauchs auf deren Umsetzungsmöglichkeiten in dreidimensionale Gebilde hin. Es entstehen sukzessiv Werkgruppen, ausgehend zum Beispiel von Stapelungen von Holzbrettern und Zementsteinen, von Faltungen und Schichtungen von Stoff und Papier, von Blei- und Wachsfolien, von überlagerungen und Kreuzungen von Holzbalken. 1995 präsentiert Lüthi K eine umfangreiche Werkgruppe in Basel, Schnittmuster (1993-95). Sie geht bei diesen Objekten jeweils von einem flachen Papierschnittmuster für Kleidungsstücke, etwa von einem Hosenteil, von einem ärmel, aus und wandelt dieses Muster konsequent in eine dreidimensionale Plastik um, mit den ihr eigenen Materialien und nach den Prinzipien der Stapelung, Ummantelung, Schichtung.

Eine wichtige Stellung in Lüthi K's Œuvre nehmen die Herzstücke ein, entstanden ab 1997, 2000 in Uster ausgestellt und nun in Weiterentwicklung für eine Ausstellung im Bündner Kunstmuseum Chur. Ausgangspunkt jeder Arbeit ist die Herzform, die Form des rhythmisch pulsie renden, Energie spendenden Organs. Aus ihr entwickelt Lüthi K jetzt die unterschiedlichen Wandobjekte. Die Materialien Blei, Bienenwachs, Stoff und die Eigenfarben Schwarz/Gräulich, Gelb, Weiss finden sich wieder; die Thematik der Gegenüberstellung und Verbindung von Polaritäten wird ausgebaut.

Der Entstehungsprozess spielt bei diesen Werken eine wichtige Rolle. Mehr darüber zu erfahren ist aus der Publikation Herz/Bau/Werke, die in Zusammenhang mit der Ausstellung in Uster erschienen ist und die neben Werkabbildungen und Fotos auch Texte von Lüthi K enthält, die auf eine AudioCD gesprochen und mit Klaviermusikfragmenten ergänzt sind. Die Texte reflektieren u.a. sprachlich, was Lüthi K bildnerisch gestaltet. Da heisst es unter anderem: «Herzflüssig gegen die Bleiwand | eingeklemmt in Form gehalten [ Energie rinnt aus den Schichten | ins Unförmige sich entleerend | und kriechflüssig entstehen Haufen von | Ablagerungen im Endzustand» (Text Nr. 18). Lüthi K offenbart sich in diesen Texten als Sprachkünstlerin. Einzelne Texte zeugen auch von ihrer Lust an Wortspielen, wie zum Beispiel: «Herzverbindungen Trugschlüsse über die Herzgegend | Herzogtum | kerzengerade | herzeigen | beherzigen | unverzüglich | Scherz» (Text Nr. 23).

Sprachsinn und Freude an Sprache, an Literatur sind seit je in Lüthi K angelegt. Sie hat nach der Matura in Davos ein Teilstudium in Germanistik absolviert, bevor sie sich spontan zur Ausbildung an der Schule für Gestaltung in Zürich entschloss. Literatur ist heute noch lebensnotwendig für sie.

Werke im öffentlichen Raum Werke, die für einen bestimmten öffentlichen Ort, auf Ausschreibung oder Einladung hin, geschaffen worden sind, nehmen neben den bis jetzt vorgestellten freien Arbeiten einen wichtigen Platz in Lüthi K's Œuvre ein.

Regelmässig hat sie an Wettbewerben teilgenommen. Im Wettbewerb für die Platzgestaltung der Wohnsiedlung «Im Werk» in Uster hat sie den 1. Preis gewonnen und ihr Projekt «Ränne» im Frühjahr 2000 ausgeführt. Ein 36 m langer, auf 50 cm Höhe ansteigender schwarzer Betonkeil mit U-förmiger Rinne als Oberflächen-Mittelachse sowie mit eingelassenen Glasbuchstaben zum Wort «Ränne» im höchsten Bereich nimmt sowohl auf den Platz und die begrenzenden Bauwerke Bezug wie auch auf Flurnamen und die Geschichte des Orts.

Ebenfalls regelmässig beteiligt sich Lüthi K an Ausstellungen im öffentlichen Raum. Bekannt sind hier in Riehen die installativen Arbeiten, die sie im Sarasinpark 1996 geschaffen hat, sowie ihre Installationen Badekabine I und II sowie die 15 m lange Bank am Flusslauf der Wiese, die anlässlich der Ausstellungen «Wasserwerke 1» (1997) und «Wasserwerke 2» (1999) entstanden sind.

Zu den Werken im öffentlichen Raum sind auch die Installationen zu zählen, die speziell für einen Ausstellungsraum und für ein vorgegebenes Thema geschaffen worden sind. Dazu gehören die sieben Museumsvitrinen, im Herbst 2000 entstanden für das Heimatmuseum Chasa Jaura in Valchava und heute im Kunst Raum Riehen raumbestimmend im ersten Geschoss wieder installiert. Die Vitrinen, bestehend aus metallenem Traggestänge und mit Wachs bestrichenem Baumwollstoff, sind ihrer ehemaligen Funktion entfremdet. Sie sind zu Kunstgegenständen geworden: Mit ihren präzise gearbeiteten Aussparungen, mit ihren Leerstellen in verschiedensten Formen geben sie Anlass zu Gedanken über Leere und Fülle, über Wandlungen von weich zu hart, von heiss zu kalt, über Sinn und Art der Darbietung von Ausstellungsgut, aber weitergehend auch über Erfahrungen und Vorstellungen von geheimnisvollen Landschaften mit erloschenen Vulkanen und Kratern.

Das Bedürfnis, in der öffentlichkeit zu wirken, scheint mir ein wesentlicher Aspekt von Lüthi K's Persönlichkeit zu sein. Mit ihrer Kunst will sie kommunizieren. Sie will ihre Wahrnehmungen und Auffassungen mitteilen und zur Auseinandersetzung, Diskussion bereitstellen, sie will im weitesten Sinn kulturelle Aspekte in den Alltag, zu uns allen bringen.

Material, das beim Abräumen von Installationen im öffentlichen Raum frei geworden ist, verwendet Lüthi K oft wieder, so zum Beispiel den blau-weiss gestreiften Stoff der Seitenwände der Badekabinen 1 und 2, den sie zu 6 Faltbündeln (1999) formt. Oder auch die Stahlgestänge der beiden Badekabinen: Für die Installation August 99 im Ausstellungsraum Dorothea Deimann werden die zwei Stahlkonstruktionen (je 250 x 90 x 90 cm) mit Klebeband horizontal, vertikal und diagonal umwickelt, in lamellenartiger Anordnung. Imaginäre Innen- und Zwischenräume werden geschaffen, licht- und sichtdurchlässig und zugleich architektonisch genau definiert. - Die nächste «Zwischennutzung» erfährt die Stahlkonstruktion im Herbst 2000 im Bündnerdorf Valchava: Auf einer Wiese zwischen alten Bauernhäusern aufgestellt, ist das Gartengehäuse gefüllt mit etwa hundert wild geschichteten Holzlatten; es begrenzt ein Chaos, das hält. - Speziell für den Kunst Raum Riehen hat Lüthi K ein Gegenstück geschaffen, die Installation Luftgehäuse, in der sie sowohl Gestänge wie auch Holzlatten wiederverwendet. Doch nun ist ein Bauwerk entstanden, nach dem Prinzip des labilen Gleichgewichts erstellt. Die Konstruktion evoziert eine Stadtlandschaft, weist auf Dächer, Terrassen, auf die Behausung des Menschen hin. Und vereint auf neue Weise Polaritäten wie innen - aussen, fragil - fixiert, Durchlässigkeit - feste Form, Vision - Realität.

Ein Konzentrat von Lüthi K's Werk sind die so genannten Handgriffe. Es sind plastische «Skizzen» zu ihren Werken, über viele Jahre entstanden, klein, mit der Hand geformt und mit der Hand zu greifen, im Atelier immer in Griffnähe in einem Büchergestell angehäuft. Diese Handgriffe sind Grundmuster ihrer Arbeiten, in denen in minimalem Massstab, knospenhaft die Möglichkeiten ihrer Materialien Blei, Wachs, Holz, Stoff, Papier untersucht werden und in denen ihre plastischen Formulierungen von Körper, Hohlraum, Ummantelung, von Schichtung, Stapelung, Faltung, Verbindung, überlagerung enthalten sind.

Liebe Catrin Lüthi K, ich habe versucht, dein vielfältiges und spannendes Werk zu beleuchten. Dein Werk kommt aus deiner Mitte, du bist daran immer als ganzer Mensch beteiligt, mit Kopf, Herz und Händen. Dein Stil ist deine Person. Du pflegst nicht Stilbildung, dein schöpferisches Vorgehen ist nicht auf formalästhetische Kriterien reduziert; es lässt vielmehr deinen Vorstellungen und Intentionen freien Lauf. Du gibst das intuitiv Gesehene, das Empfundene, Erlebte und Gedachte unmittelbar in der entsprechenden Form wieder. Deine Werke sind in ihrer äusseren Erscheinung unterschiedlich, da du stets deinem Prinzip der Offenheit treu bleibst, nie dem schon Erarbeiteten noch einem Stil traust und ständig mit allen Sinnen unterwegs bist - unterwegs auf dein Ziel, als Plastikerin das gültig zu formen, was dir wesentlich ist, und dies Gestaltete deiner Umwelt zur Verfügung zu stellen.

So danken wir dir heute für dein innovatives Werk, das uns neue Wahrnehmungen ermöglicht, uns neue geistige Räume erschliesst und neue sinnliche Erfahrungen machen lässt. Und uns auch frei macht, da es in seiner Offenheit nicht fixiert. Mit dem Dank verbinden sich unsere herzlichen Wünsche für die weitere sinnerfüllte und erfolgreiche Wanderschaft und unsere Vorfreude auf deine künftigen überraschenden Werke.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2001

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