Von Stöcken und Dosen

Hans Krattiger

Nachdem wir im Jahrbuch 1977 einen Zyklus über originelle Riehener Sammlungen mit einem Bericht über eine Türschlösser- und Beschläge- sowie eine Fingerhutsammlung begonnen und diese Betrachtungen 1978 mit dem Hinweis auf eine Sammlung von Riehener Dokumenten und Hebelausgaben und 1979 mit der Darstellung einer Sammlung von Musiker-Medaillen fortgesetzt haben, sei im Jahrbuch 1980 auf zwei nicht minder originelle Sammlungen verwiesen: die Spazierstöcke von Kunstmaler Niklaus Stoecklin und die Dosensammlung eines Freundes, dessen Wunsch, ungenannt zu bleiben, wir zu respektieren haben.

Gemeinsam haben die beiden Sammlungen, dass es sich um Gebrauchsgegenstände, zugleich aber um männliche Statussymbole handelt, die zwar funktionsgerecht zu sein hatten, bei deren Herstellung jedoch der Phantasie ihrer Schöpfer keine Grenzen gesetzt waren. Wohl werden auch heute noch Spazierstöcke und Dosen hergestellt, aber nicht mehr in dem Masse gebraucht wie in früheren Zeiten, weshalb sie heute weniger phantasievoll wie einst, dafür eher zweckerfüllend gestaltet werden. Die Einzigartigkeit der beiden Sammlungen, von denen hier die Rede ist, besteht jedoch in der Vielfalt der Originalität und in der kunsthandwerklichen Kostbarkeit.

Niklaus Stoecklins Stocksammlung umfasst 99 Exemplare. Mehr will er nicht haben; denn am schmalen Brett im Entree seines Hauses befinden sich 99 Häkchen. Hier haben sie Platz und hier gehören sie hin. Und es ist ein köstliches Bild, die 99 Stöcke in Reih und Glied aufgehängt zu sehen. Jeder hat auch seine Geschichte, die in die Anonymität des einstigen Besitzers zurückreicht. Begonnen hat's mit einem Stock, den er geschenkt erhielt und dessen Griff, aus dem Holz des Stocks geschnitzt, aus einer einen Fisch haltenden Hand besteht. Die Absonderlichkeit dieses Stocks rief die Lust wach, originelle Stöcke zu sammeln, und im Verlauf der Jahre wuchs die Sammlung bis auf 99 Exemplare, wobei es ihn nicht reute, sich von einem Spazierstöckli zu trennen, wenn er seiner Sammlung ein originelleres einverleiben konnte; denn wie für jeden leidenschaftlichen Sammler spielt auch für Niklaus Stoecklin nicht die Quantität, sondern die Qualität die ausschlaggebende Rolle. Deshalb verdiente eigentlich jeder der 99 Stöcke eine besondere Würdigung. Doch müssen wir uns aus Platzgründen mit der Erwähnung einiger Objekte begnügen.

Beginnen wir mit dem ältesten, einem gotischen Stock aus einem Stück, dessen Griff aus einem geschnitzten Löwenkopf mit eingesetztem gelbem Glasauge besteht; doch der unbekannte Künstler begnügte sich nicht mit der kunstvollen Gestaltung des Griffs, sondern er verwandelte auch eine Astabgabelung im oberen Drittel des Schafts in ein grinsendes Männergesicht. Am Hirtenstock aus Delphi ist auffallend, dass — entgegen der üblichen Usanz — der Stock nach unten dicker wird, wohl um den Tieren spürbaren Gehorsam beizubringen, und dass der aus Holz geschnitzte Griff in Form eines Delphins (Delphi!) aufgesetzt ist. Zweiteilig ist ein Stock vor allem dann, wenn für den Griff ein anderes Material verwendet wird, wie etwa beim Stock, dessen Metallgriff zugleich als Mundharmonika dient, oder bei den Stöcken mit einem Bein- oder Elfenbeingriff, wobei natürlich auch diese kunstvoll gestaltet sind. Von der Mehrzweckmässigkeit eines Spazierstocks zeugen vor allem diejenigen Stöcke, die innen hohl sind; im einen dieser Stöcke befindet sich im Innern ein Stilett, das allerdings nur dann herausgezogen werden kann, wenn man auf ein bestimmtes ästchen im Schaft drückt — gewusst wo; oder ich denke an den Stock, der in seinem Innern eine Miniapotheke enthält, nämlich sechs Fläschchen mit Zahnweh-, Cholera- und Hoffmannstropfen, Bleiessig, Arnikatinktur und Salmiakgeist, oder an den Stock, der sich mit zwei, drei Griffen in ein Gewehr umfunktionieren lässt. Köstlich ist auch der Stock, der in einen aus Elfenbein geschnitzten Männerkopf ausmündet, um dessen Hals sich ein Krawättchen legt, das im Knopf mit einem Vergrösserungsglas versehen ist, und bei einem Blick durch dieses Glas sieht man eine bekannte, etwas anrüchige Lithographie von François Boucher (1703-1770). Als besonders originell ist auch das Stockpaar mit Adam und Eva zu bezeichnen, das ein Schreiner als Insasse einer Irrenanstalt jeweils aus einem Stück Holz herausgeschnitzt hat. Unvergesslich bleibt mir auch der Stock mit dem Vogelschnabel als Griff und mit dem Krokodil, das im Begriff ist, eine Frau zu verschlingen, während eine Eidechse dem Rachen des grösseren Reptils entweicht. Durch buntes Farbenspiel bereichert wird die Sammlung durch die Stöcke aus grünem und farbigem Glas, mit denen sich vermutlich vor allem modebewusste Herren ausrüsteten, währenddem ärzte hauptsächlich den Stock mit rechtwinklig geknicktem Griff, in der Regel aus Bein, bevorzugten. Unverziert war am häufigsten der Stock mit einem kugelförmigen Griff, versehen mit einer Ledernestel, um ihn am Arm hängen lassen zu können.

Der Schaft besteht zur Hauptsache aus Holz mit der jeweiligen Wurzelform als Griff, wobei Niklaus Stoecklin, der sich eingehend mit der Materie befasst hat, folgende Stockarten unterscheidet: Keulen-, Haken-, Krücken-, Gabel- und Schlingstock. Für Stöcke mit Griffen aus anderem Material werden oft auch fremdländische Hölzer wie Bambus oder kantiges Malakka-Holz, Ebenholz oder gar Haifischrückgrat verwendet. Und dass in der Sammlung des Fasnächtiers Niklaus Stoecklin ein monströser Waggis-Stock mit Gummispitze, die den Stock «uffgumpe» lässt, nicht fehlt, ist eigentlich fast selbstverständlich. Erwähnt seien aber auch noch der Stock aus Imitationsbambus mit eingebautem Fernrohr, der Stock, mit dem man auch Klarinette spielen kann, wobei der Griff als Mundstück dient, der mit Krokodilleder überzogene und mit einer Uhr ausstaffierte Stock, der Stock mit Windhundkopf und beweglicher Zunge (dank eingebauter Uhrfeder), der 1771 datierte, geschnitzte Stock mit Hundekopf, Blumen, Soldat, Schlange und Rebstock.

Doch ebenso reizvoll wie die Stöcke sind die vom Kunstmaler Nikiaus Stoecklin angefertigten minutiösen und doch künstlerisch empfundenen Abbildungen, weshalb es naheliegend ist, dass wir — anstelle von Photos — diese aquarellierten Zeichnungen zu Reproduktionszwecken verwenden.

Dass bisweilen auch ein Diebstahl sein Gutes haben kann, beweist die Dosensammlung, von der hier die Rede sein soll; denn die silberne Dose, die unser Freund in den dreissiger Jahren geschenkt erhalten hatte und die er hoch in Ehren hielt, wurde ihm in den ersten Nachkriegsjahren während einer Geschäftsreise in einem renommierten Darmstädter Hotel gestohlen — und ward nicht mehr gesehn... Unglücklich ob des Verlustes ging er auf die Suche nach einer Dose, die gleich aussah wie die abhanden gekommene, und da er einer alten Dose nachtrauerte, durchstöberte er in den Städten und Ortschaften, die er besuchte, sämtliche Antiquitätengeschäfte. Die gestohlene Schnupftabakdose, die er allerdings als Cigarettenetui benützt hatte, kam nicht mehr zum Vorschein und auch nicht eine von gleichem Aussehen. Aber bei diesem Durchstöbern der Antiquitätengeschäfte stellte er bald einmal fest, dass es eine ganze Fülle von verschiedenartigen Schnupftabakdosen gibt, und aus dem verzweifelt Suchenden wurde ein leidenschaftlicher Sammler, der sich zugleich als Autodidakt mit der Materie zu befassen begann und sich mit der Zeit ein profundes Wissen über Herkunft und Arten der Dosen aneignete. Zu Hilfe kam ihm dabei unter anderem die reich illustrierte Abhandlung von Cläre Le Corbeiller über «Alte Tabakdosen aus Europa und Amerika» und andere Publikationen. Mit dem Tabak, der im 16. Jahrhundert von Amerika nach Europa gebracht wurde, kam bald auch das Schnupfen des pulverförmig zerriebenen Tabaks auf — und mit dem Schnupfen auch die Dose als Behälter des neuartigen Genussmittels. Spanien und England machten als Kolonialmächte als erste das Geschäft mit dem Tabak, und Poggibonsi bei Florenz war lange Zeit das Zentrum der italienischen Schnupftabakherstellung. In seiner Beschreibung einer Reise nach Italien in den Jahren 1646/47 vermerkt der Engländer John Raymond: «Wir speisten in Poggio Bonsi, einem Ort, der bekannt ist für den parfümierten Tabak, der dort gemischt wird, und den die Italiener, einem Brauch zufolge, ebenso reichlich als Pulver geniessen wie wir in England in der Pfeife.» Und bereits 1636 schilderte der Italiener Francesco Zucchi in einem Preisgedicht «La Tabaccheide» die Vielfalt von Materialien, die für die Herstellung von Tabakdosen verwendet wurden, nämlich Knochen, Elfenbein, Kristall, Alabaster, Ebenholz und andere edle Hölzer, Silber und Gold, Perlmutt und Muscheln. Schon aus dieser Aufzählung geht hervor, dass anfänglich das Schnupfen nicht eine Beschäftigung des einfachen Volkes war und der Besitz von Tabakdosen den «oberen Zehntausend» vorbehalten blieb. Unter dem Preussenkönig Friedrich dem Grossen wurde die Tabatière zur Vorläuferin des Ordens, indem der König kunstvoll geschaffene Dosen an Soldaten und Persönlichkeiten, die sich verdient gemacht hatten, als Geschenk vermachte. In Keysers «Kunst- und Antiquitätenbuch», herausgegeben von Helmut Seling, lesen wir über die Dosen: «Die Dose wurde der ,klassische' Gegenstand der Galanterie in der Zeit des Merkantilismus. Sie hat ihre grosse Epoche im 18. Jahrhundert. Form und Gestalt — oval, rund, viereckig, mehreckig und selbst muschelig, ja figürlich — geben ihr vor allen anderen ,Galanteriewaren' die geschlossene, selbständige Existenz» (Seite 62). Und kaum ein Land in Europa, inklusive Russland, wo nicht Schnupftabakdosen hergestellt wurden und wo es nicht berühmte Goldschmiede gab, die sich auf diesem Gebiet einen Namen machten.

So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass sich die rund 200 Dosen umfassende Riehener Sammlung aus ver schiedenartigsten Tabatièren zusammensetzt, nicht zuletzt deshalb, weil es dem Sammler nicht nur um eine Kollektion besonders wertvoller Objekte ging, sondern um eine möglichst breitgefächerte Darstellung des Objekts «Dose». Anhand einiger interessanter Beispiele sei die Vielfalt aufgezeigt.

Die wohl wertvollste Dose ist die runde, goldene des Meisters FF, das heisst des dänischen Goldschmieds Frederick I Fabritius mit dazugehörendem Marocainlederetui, das auf seiner Unterseite die Jahreszahl 1725 aufweist; wertvoll nicht nur wegen des Materials und der hervorragenden Goldschmiedearbeit, sondern auch, weil Dosen dieses Meisters FF sehr selten sind. Einzigartig ist aber auch die in Deutschland oder österreich geschaffene Dose aus Buchsbaumholz, deren aus dem Holz geschnitzte, religiöse Motive darauf schliessen lassen, dass sie einmal im Besitz eines Pilgers war, der sie auf dem Weg nach Rom verlor, irgendwo vergass oder dem das gleiche Schicksal widerfuhr wie unserem Sammler, nämlich dass ihm die Dose gestohlen wurde; denn gefunden und erstanden hat sie der Sammler bei einem Antiquar in Padua, und dass sie aus dem deutschsprachigen Raum stammt, beweisen die aus dem Holz geschnitzten Worte: «Wer denkt an Jesu Leiden, wird gewiss Sünde meiden». Mit einem religiösen Motiv, nämlich einer Madonna mit Jesuskind und Johannes im Rosenhag, ist auch eine französische, innen feuervergoldete Dose geschmückt, ähnlich geschaffen wie die silberne, mit Ornamenten versehene Dose aus dem russischen Tuia, die sich durch ihre konvexe, dem Körper angepasste Form auszeichnet. Dass schon früh auch die Geistlichkeit dem Schnupfen frönte, geht aus einem Erlass des Papstes Urban VIII. aus dem Jahre 1624 hervor, wonach alle in der Kirche Schnupfenden zu exkommunizieren seien. Aber die ovale, kleine Dose aus Bein mit dem eingravierten Spruch «An Gottes Segen ist alles gelegen», mit dem eingravierten Christus-Monogramm und einem Joseph-Porträt auf der Unterseite lässt erahnen, dass selbst drohende Exkommunikation gewisse Geistliche nicht vom Schnupfen abhalten konnte; denn die um 1800 entstandene Dose muss im Besitz eines Priesters gewesen sein, quasi eine Mini-Dose, die unauffällig in der Soutane mitgeführt werden konnte.

Ins Kapitel der Dosen als Auszeichnung gehört eine in Paris hergestellte Dose mit dem von Genien umgebenen Herzog von Reichstadt, dem Sohn Napoleons, sowie diejenige, die Friedrich der Grosse geschenkt haben muss und deren in Metall getriebene figürliche Darstellung an die Schlacht bei Torgau und den Sieg Friedrichs über die österreicher Anno 1760 erinnert. Als typisch deutsche Arbeit ist diejenige des Meisters E.P. in Neisse, Schlesien, zu betrachten; das Silbergehäuse weist einen Elfenbeindeckel auf mit dem fein geschnitzten Porträt eines Fürsten, während eine längliche, seitlich abgerundete Silberdose wegen des eingeschlagenen Goldschmiedenamens «Burcart» Basel als Herstellungsort vermuten lässt. Und in Bern muss die stark konvex geformte, silbervergoldete Dose mit doppeltem Boden, das heisst mit zwei Fächern, geschaffen worden sein.

Als sich das Schnupfen auch des weniger begüterten Bürgertums bemächtigte, begannen Johann Heinrich Stobwasser und sein Schwager Guérin in Braunschweig (1764) und in Berlin (1773) mit der Herstellung von Schnupftabakdosen aus Papiermaché oder Holz in Lackmalerei, die sich bald grosser Beliebtheit erfreuten. Das Stobwasser-Exemplar in der Riehener Sammlung ist nicht nur wegen der gemalten Miniatur auf der Innenseite des Deckels mit dem Titel «Esclave infidèle», sondern wegen des noch erhaltenen kartonierten Originaletuis von Interesse.

Von der Vielfalt der Dosen zeugen aber auch die Dose aus einem Steinbockgehörn, dessen innere, poröse Masse im 18. und 19. Jahrhundert als wundertätiges Mittel verkauft wurde, die Jägerdose aus einem Hirschgeweih, das dem Heidelberger Bürgermeister C. Saur, einem Zeitgenossen Goethes, gehört hatte, die Schildpattdose in barocker Form mit einer in Silber getriebenen Darstellung auf dem Deckel, sowie die zwei Dosen in Flaschenform, wovon die eine mit farbigem Streifenmuster verziert ist, währenddem die andere um des roten Kristallglases willen nach Böhmen weist.

Ein Kapitel und eine Wissenschaft für sich sind die mittels Punzen angebrachten Meister- und Firmenzeichen, die, wenn sie leserlich und bekannt sind, eine nähere Datierung bezüglich Entstehungszeit und -ort erlauben. Und man braucht nicht unbedingt passionierter Schnupfer zu sein, um sich von Schnupftabakdosen faszinieren zu lassen und zu staunen ob des kunsthandwerklichen Könnens und der schöpferischen Phantasie, die in diesen zierlichen Gebilden investiert worden ist.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1980

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