Wenkenhof

Hermann Hesse

Mitternacht war schon nahe. In dem grossen sommerlichen Gesellschaftszimmer des alten Landhauses glänzte die Hängelampe auf die dunklen Bilder und ihre blass gewordenen Rahmen, auf das offene Klavier, auf welchem ein Strauss Narzissen stand, und auf den runden, eichenen Riesentisch. An diesem sass der Hausherr und die Dame, ihr Sohn und ich, der aus der Stadt zu Gast gekommen war. Auf dem Tisch lag neben einem Strauss von Feldblumen aufgeschlagen ein altes Büchlein von Eichendorff und eines von E. Th. A. Hoffmann, mit kleinen rotbraunen Kupfern nach Callot, und über die Bücher hinweg war die Geige des Sohnes gelegt. Durch die geöffneten Flügeltüren des altmodisch ausgebauchten Balkons kam die kühle Luft herein, und der Geruch der blühenden Obstgärten und das schwache weisse Licht der Sterne. Jenseits der Wiesen und schwarzen Felder schienen die Sterne überaus zahlreich, klein und rötlich auf der Erde fort zu glänzen - dort lag mit tausend Lichtern die bleich überdünstete Stadt. Vom Kiesplatz her klang der schwache künstliche Quell des kleinen Fischweihers. Die kleine, vertraute Gesellschaft gab sich müden Abendträumereien hin und redete wenig; oft war lange kein anderer Laut im Zimmer als unser Atem und der Atem der Nacht, als der Windzug, der die Balkontüren leis bewegte, oder ein halbes Geräusch aus der nahen Stube, in welcher bei offenen Fenstern die Kinder schliefen. In diesen stummen Minuten drang der Glanz der aufsteigenden Venus stärker in das Zimmer, vom Klavier her klangen für Träumerohren die zärtlich-eleganten Takte Mozarts unendlich leise hörbar, und in der braunen Geige rührten sich mit summendem Gedränge die gefangenen Töne. In den entfernten Ecken des zu grossen Zimmers sass lauschend die Finsternis.

«Jetzt erzählet!» sagte die Hausfrau, und zugleich löschte sie die Lampe aus. Die Finsternis stürzte hinter dem verglosenden Flämmlein her gierig aus allen Ecken hervor, aber der süsse Glanz der Venus drang bis zum Rande des runden Tisches und lag zwischen ihm und dem Balkon wie eine weisse Strasse. Gemeinsam mit dem Sohne begann ich nun eine Geschichte zu erzählen, so dass einer den anderen in kurzen Pausen ablöste, wie wir es oft getan hatten. Die dunkle Nacht und der erwachende Spätwind und die viel mehr als hundertjährigen Bäume der englischen Allee erzählten in den Pausen mit, und es geschah daher, dass in unserer Geschichte viel von Sternen und nächtlichen Schatten auf mondhellen Pfaden die Rede war, auch von Seufzern, die in bedeutender Stunde aus Gewächs und Geräte steigen, von Doppelgängern und aufsteigenden Schatten Gestorbener.

Mit dem letzten Schlag der Mitternacht war die Geschichte zu Tod und Ende geführt und verklang fremden Tons in der Dunkelheit. Eine Kerze flammte auf, und eine zweite; nebenan ward mir ein kleines Schlafgemach geöffnet; wir gaben einander die Hände und gingen auseinander.

Nach einer kurzen Stunde Schlafs erweckte mich eine sanfte Klaviermusik. Leise und sehr behutsam stieg ich aus dem hohen Bett und schob die angelehnte Tür des Gesellschaftszimmers ein wenig weiter zurück. Ein schwaches Flimmerlicht drang ein, und die Musik erklang deutlicher. Ich erkannte ein Menuett von Mozart, von Frauenfingern gespielt. Noch ein vorsichtiger, vorsichtiger Druck an der Türe...

Am Klavier sass ein hübsches Mädchen im Kostüm des Empire, weiss mit lila Schleifen und sehr hoch gegürtet. Sie spielte die delikate Musik so, wie ich glaube, dass sie vor hundert Jahren gespielt wurde, nämlich sehr zierlich und akkurat, nur die kleinen sentimentalen Wendungen ganz leicht übertreibend, und sie lächelte dazu. Nach einer kurzen Weile hielt sie inne. Es entstand Geräusch auf dem Balkon. Ein junger Herr in dunkelblauem Frack stieg über die schöne schmiedeiserne Brüstung. Seine weissen Wadenstrümpfe stachen hell und unerträglich eitel durch die Nacht hervor. Kaum hatte er beide geschmeidige Beine über den leicht erzitternden Eisenbord gebracht, da lag er schon vor dem Klavier der schönen Musikantin zu Füssen. Indes er Liebeswahnsinn stammelte und von ihr mit schnöde lächelnden Mienen ohne Glauben angehört wurde, reizte mich ihr hochmütiges, hübsches Gesicht und der edle Bogen ihrer hochgezogenen Brauen. Sie spielte jeweils einen fröhlichen Takt weiter und hörte sodann wieder heiter, behaglich und grausam dem Knieenden zu, seine Beschwörungen bald mit Schweigen, bald mit Lächeln, bald mit einem Triller beantwortend. Sie schlug erstaunlich tadellose Triller.

Da der Galant heisser und am Ende immer drängender und unabweislicher wurde, ärgerte ich mich doch. Ich brach im Hemde aus meiner Kammer hervor, ergriff den Verliebten mit beiden zornigen Händen, trug ihn - er war nicht schwer - zum Balkon, auf welchem noch seine angehakte Leiter hing, und warf den Pudermann köpflings hinunter. Ein verhältnismässig stattlicher Fall tönte drunten auf dem mondweissen Fliesenboden. Umkehrend verneigte ich mich vor dem weissen Fräulein und schämte mich elend, weil ich im Hemde dastand.

«Mademoiselle, permettez...»

Sie aber wurde blass, und wurde schmal, und sank mit einem überaus zarten Seufzer auf dem Stuhl zusammen, und da ich die Hände nach ihr ausstreckte, griff ich eine grosse, stark duftende Narzisse. Erschrocken und traurig stellte ich die weisse Blüte zu den anderen ins hohe Blumenglas und kehrte in das verlassene Bett zurück.

Als ich des Morgens vor dem Abschiednehmen das Klavierzimmer nochmals aufsuchte, war alles wie am vergangenen Abend. Nur ein altes Männerbildnis an der Wand schien mir auffallend rachsüchtig zu blicken, was ich früher nie beachtet hatte. Doch machte mir dies begreiflicherweise keine Sorgen.

Der Wagen war angespannt, und ich fuhr in Begleitung des Hausherrn nach der Stadt zurück. Der gastfreundliche Herr war heute ziemlich verschlossen und sah mich unangenehm und fragend an.

«Es ist vielleicht besser», sagte er plötzlich, «wenn Sie uns hier draussen nicht mehr besuchen.»

Ich war sprachlos.

«Ja, weshalb denn?» rief ich bestürzt.

Er blickte mich strenge an.

«Ich habe gesehen, was Sie heut Nacht getan haben.»

«Und nun?»

«Jener Herr war mein Grossvater. Sie wussten es vermutlich nicht, aber einerlei...»

Ich begann mich zu entschuldigen, aber er rief dem Kutscher zu, schneller zu fahren, winkte abwehrend gegen mich und lehnte sich tief im Sitz zurück, ohne sich mehr auf ein Gespräch einzulassen.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1996

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