Zweierlei Recht

Stefan Suter

Noch im 18. und teilweise auch im 19. Jahrhundert herrschten in Riehen nicht für alle hier wohnenden Personen die gleichen Rechtsregeln. Stadtbürger konnten sich auf Privilegien des Stadtrechts berufen, während die Landbevölkerung eigenem, zum Teil dem Agrarbereich näherliegendem Recht unterworfen war. Von dieser Problematik betroffen war auch das Erbrecht.

Das Testament der Anna Schuler

Anna Schuler (1672-1742) stammte ursprünglich aus Arisdorf und zog nach der Heirat im Jahre 1709 mit Jakob Basler (1672-1711) nach Riehen. Nachdem ein Töchterlein tot geboren worden war, blieb die Ehe kinderlos. Nach 1711 lebte Anna Schuler, ohne sich wieder zu verheiraten, als Witwe in Riehen. Nach damaligem Recht für die Stadt und die gesamte Landschaft Basel konnten lediglich Personen Testamente errichten, die weder in auf- noch in absteigender Linie Verwandte hatten. Anna Schuler gehörte zu diesem engen Personenkreis, weswegen sie mit letztwilliger Verfügung ihre Blutsverwandten in der Seitenlinie - die vermutlich nicht in Riehen, sondern im oberen Baselbiet wohnten - von der Erbschaft ausschloss und eine oder mehrere andere ihr nahestehende Personen als Erben einsetzte.

Rechtsstreit mit Folgen

Nach dem Tode von Anna Schuler kam es zu einem Rechtsstreit zwischen den gesetzlichen Erben, das heisst zwischen den Verwandten und den durch das Testament Begünstigten. Der Ausgang des Prozesses war nicht nur für die Parteien des Rechtshändeis von Bedeutung, sondern beeinflusste die gesamte Rechtspraxis und die Gesetzgebung für das Testamentsrecht in der Landschaft Basel und somit auch in Riehen. Von entscheidender Bedeutung war nämlich, dass Anna Schuler ihr Testament nicht vor dem Gericht oder dem Landschreiber errichtet, sondern selbst verfasst hatte. Aktenmässig unklar bleibt, ob das Testament formal vom Obervogt genehmigt wurde. Die gesetzlichen Erben fochten das Testament an mit der Begründung, dass ausserhalb des Basler Stadtbannes Testamente nicht selbst errichtet werden durften. Das Appellationsgericht stützte zwar das Testament, teilte jedoch in einem Memoriale vom 13. Februar 1742 an die Regierung mit, in den unteren ämtern Münchenstein und Riehen habe sich die Unsitte eingeschlichen, dass von Untertanen ohne Beizug des Gerichts oder Landschreibers aufgesetzte Testamente für legal gehalten würden. In den oberen ämtern halte man nach wie vor an den strengeren Formvorschriften fest. Künftig solle wieder in allen ämtern die gleiche Regelung gelten.

In der neugeschaffenen Landes-Ordnung des Jahres 1757 wurde explizit festgehalten, dass alle Untertanen zur Errichtung von Testamenten lediglich zwei Möglichkeiten hätten, womit der liberalen Riehener Praxis ein Riegel geschoben wurde: Zum einen konnte der Testierer vor Gericht erscheinen und öffentlich seinen letzten Willen kundtun. Das Gericht hatte dann das Testament auszufertigen, zu unterzeichnen und innert vier Wochen dem Obervogt zwecks Siegelung zu überbringen. Wer nicht vor dem Gericht seinen letzten Willen kundtun wollte, konnte sich beim Landschreiber melden, der in Anwesenheit von drei Zeugen das Testament aufzunehmen hatte.

Aber auch bei dieser Variante erlangte das Testament erst Gültigkeit mit der Anbringung des Siegels durch den Obervogt. Beide Testamentsvarianten hatten natürlich den Nachteil, dass die Landbevölkerung keine Möglichkeit hatte, ein Testament zu errichten, dessen Inhalt geheim bleiben sollte. Im Gericht sassen die lokalen Dorfgrössen, und die Obrigkeit erhielt ohnehin entweder durch den Landschreiber oder durch die Siegelung des Obervogtes Kenntnis von den Testamentswünschen der Untertanen.

Da sich gerade in Riehen immer zahlreiche Stadtbürger auf ihren hiesigen Landsitzen aufhielten, musste dieses Testamentsrecht als ziemlich ungerecht empfunden werden. Den Stadtbürgern kam nämlich durch die Stadtgerichtsordnung von 1719 das Recht zu, bei einem freien und somit nicht staatlichen Notar vor drei Zeugen ein Testament zu errichten. Dabei bestand die Möglichkeit, dass der Notar den Zeugen das Testament verschlossen vorlegte, und diese ohne Kenntnis vom Inhalt der letztwilligen Verfügung lediglich die Urteilsfähigkeit des Testators bezeugten. Die Stadtnähe der unteren ämter hatte dann gerade, insbesondere auch in Riehen, zu Beginn des 18. Jahrhunderts dazu geführt, dass die freie Testamentsausübung toleriert worden ist, währenddem man im oberen Baselbiet mit dem städtischen Recht vermutlich weniger in Kontakt kam.

Erst die französische Besetzung führte durch ein Gesetz vom 12. Juli 1803 auch für die Bürger der Landschaft zur Möglichkeit, bei einem Notar und somit unter Ausschluss der öffentlich- und Obrigkeit das Testament errichten zu dürfen.

Unterschiedliche Erbfolge

Basler Stadtbürger unterstanden - selbst wenn sie auf ihren Riehener Landsitzen wohnten - dem städtischen Recht. Dieses unterschied sich auch bei der Erbfolge von demjenigen der Untertanen. Bei den Städtern erbten primär die Nachkommen. Gab es keine, fiel die Erbschaft an die Eltern. Waren auch diese vorverstorben, kam der Nachlass zusammen an die Grosseltern und Geschwister. Im Gegensatz zur Stadt waren auf der Landschaft bei der Erbteilung die Geschlechter nicht gleichgestellt. Auch in Riehen wurden deswegen gemäss der Landesordnung von 1757 bei einem Erbfall sämtliche Betriebsmittel der Landwirtschaft wie «Hauss, Scheuren, Stell, Zinss, Zinssbahre und ledige Gütter samt Wägen, Kärren, Pflügen und Eisen = Geschirr» nur den Söhnen zugeschlagen. Die Töchter erbten lediglich von der Fahrhabe und den vorhandenen Forderungen. Immerhin war auch das Vieh Teil der «fahrenden Haab».

Starb die Ehefrau, so behielt der überlebende Gatte die liegenden Güter, währenddessen ein Drittel des Nachlasses den Söhnen und Töchtern zustand. Kleider der Mutter und sogenannte Kleinodien gehörten aber ausschliesslich den Töchtern. Erst mit Gesetz vom 15. Mai 1810 wurden alle Vorrechte der Söhne vor den Töchtern abgeschafft. Eine besondere Einrichtung war bis zu diesem Datum die Bevorzugung des jüngsten Sohnes. Dieser hatte nämlich das Vorrecht auf das Haus des verstorbenen Vaters und bei Vorhandensein von mehreren Häusern das Wahlrecht. Diese rechtlichen Unterschiede führten natürlich auch zu sozialen Folgen. Da es damals keinerlei Sozialversicherung gab, war gerade eine Erbschaft von eminenter Bedeutung.

Der Wenkenhof und die vielen anderen Basler Güter wurden hingegen ohne Privilegien einzelner Kinder und ohne Hintansetzung der Töchter nach Stadtrecht weitervererbt. Beispielsweise hinterliess der damalige Besitzer des Wenkenhofs, Johann Jakob Merian-de Bary (17411799), vier Kinder: einen Sohn und drei Töchter. Nach der für Riehen geltenden Landesordnung hätte lediglich der Sohn Samuel Anspruch auf die Immobilien und somit auch auf den Wenken gehabt. Nach der Stadtgerichtsordnung konnte jedoch die 1769 geborene Tochter Anna-Maria den Wenkenhof erben, wenngleich formell ihr Ehemann, Johann Jakob Bischoff (1761-1825), Eigentümer des Wenkenhofs geworden ist. Bezeichnenderweise waren die Ehegatten Anna-Maria und Johann Jakob Bischoff-Merian in Riehen ziemlich sesshaft, da sie sogar am 10. Oktober 1785 in der Dorfkirche heirateten. Gleichwohl galt städtisches Recht, was die Erbfolge nicht nur in diesem Fall veränderte.

Eingeschränkte Hochzeitsfeiern

Die Landesordnung von 1757 beschäftigte sich nicht nur mit eigentlichen Zivilrechtsfragen. So verordnete dieses Gesetz den Landleuten auch bei alltäglichen Festen Einschränkungen, denen die Stadtbürger, selbst wenn sie in Riehen wohnten, nicht unterworfen waren.

Beispielsweise war es den Gastwirten gemäss Titel XI der Landesordnung verboten, ohne Zustimmung der Obrigkeit an einer Hochzeit zu wirten. Selbst bei Zustimmung der vorgesetzten Beamten durften jedoch an einer Hochzeit nicht mehr als 36 Hochzeitsgäste - Bräutigam und Braut eingeschlossen - zur Feier geladen und «gespeiset» werden. Für jeden Hochzeitsgast, der über der vorgeschriebenen Zahl 36 lag, war eine hohe Strafe von 10 Gulden vorgesehen. Solchen Einschränkungen war die Obrigkeit - sogar wenn sie in Riehen sesshaft war - nicht unterworfen.

Die Landesordnung von 1813

Die Landesordnung von 1757 wurde während der Helvetik nicht automatisch abgeschafft. Selbst das ungleiche Testamentsrecht blieb bestehen. Im Jahre 1802 kam dem letztlich in französischen Diensten arbeitenden Regierungsstatthalter zu Ohren, dass vermehrt Bürger der Landschaft bei einem städtischen Notar Testamente verurkunden Hessen. In der Folge kam es zu Prozessen, da übergangene Erben solche Testamente der Landbürger als ungültig anfochten. Der Regierungsstatthalter erkannte das Bedürfnis der Landleute, «die nemliche Freyheit genießen zu dürfen wie die Bürger aus der Stadt». Das damalige Departement der Rechtspflege beharrte jedoch auf der Bestimmung in der Landesordnung, wonach die Landbürger keine solchen Testamente errichten konnten, wollte jedoch die bereits abgeschlossenen Testamente gleichwohl für gültig halten, den Notaren jedoch fortan solche Verurkundungen verbieten. In der Folge Hess ein Gesetz vom 12. Juli 1803 das notarielle Testament für alle Bürger der Landschaft zu. Die neue Landesordnung von 1813 brachte diesbezüglich für die Landleute keine Einschränkung. Mit Gesetz vom 6. Februar 1854 wurde dann sämtlichen Bürgern des Kantons Basel-Stadt die Errichtung selbstgeschriebener Testamente erlaubt.

Die Landesordnung von 1813 sprach nicht mehr von den Untertanen und war im grossen und ganzen ein Gesetz, das die Ungleichbehandlungen der beiden in Riehen wohnhaften Klassen nur noch rudimentär stützte. Im Prozessrecht gab es gar auf der Landschaft einen Vorteil. Nach der Stadtgerichtsordnung von 1719 konnten erstinstanzliche Zivilurteile lediglich dann weitergezogen werden, wenn eine der Parteien auswärtig war. Erstinstanzliche Urteile der Landbezirke konnten jedoch bei einem Streitwert von über 75 Franken - was allerdings sehr viel war - immer vor die zweite Instanz gebracht werden. Natürlich lag in dieser Bestimmung auch ein gewisses Misstrauen den Landgemeinden gegenüber. Interessanterweise blieb die Landesordnung von 1813 auch im neugeschaffenen Kanton Basel-Landschaft nach 1833 in Geltung. Dies führte dazu, dass trotz der Kantonstrennung in Riehen noch während Jahrzehnten das gleiche Landrecht herrschte wie im Kanton Basel-Landschaft. Die Zeit der Landesordnungen fand ihr Ende durch das Gesetz über die Aufhebung derselben vom 8. Februar 1875.

Ungleiches Recht

Ungleichheiten sind stossend und ungerecht. Die Landesordnung von 1757 hatte tradiertes unterschiedliches Recht für Bürger verschiedener Klassen verankert. Trotz der Versuche einzelner Landleute, ähnliche Regelungen - etwa dargestellt am Beispiel des Testaments - zu erhalten, muss gleichwohl festgestellt werden, dass die Landbevölkerung noch im 18. Jahrhundert dieses Zweiklassensystem, das sich etwa in der Landesordnung manifestierte, akzeptierte und nur gegen einzelne Randerscheinungen opponierte.

Quellen

StABS Justiz LI, L3, L7 Der Stadt Basel Landes=Ordnung, 1757 Baselische Landes=Ordnung, 1813 Der Stadt Basel Statuta und Gerichtsordnung, 1719 Stefan Suter: «Das Basler Erbrecht», Basel 1993

 

Personen

(soweit nicht schon im RRJ oder im RJ 1986 ff. vorgestellt): Samuel Merian-Kuder (1770-1824)

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1996

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