Als Parlamentarier muss man auch Niederlagen akzeptieren können

Dieter Wüthrich

Der Riehener Einwohnerrat besteht seit 75 Jahren. Der amtierende Ratspräsident, Hansruedi Lüthi, äussert sich in einem Gespräch über seine parlamentarischen Erfahrungen.

 

Jahrbuch: 1924, also vor genau 75 Jahren, wurde die in Riehen seit 1876 bestehende Gemeindeversammlung abgeschafft und an ihrer Stelle das Gemeindeparlament, der sogenannte Weitere Gemeinderat (heute Einwohnerrat), eingeführt. Herr Lüthi, Sie haben vor zehn Jahren zum ersten Mal an einer Sitzung des Riehener Gemeindeparlamentes teilgenommen. Heute sind Sie dessen amtierender Präsident und damit sozusagen der «höchste» Riehener. Was kommt Ihnen spontan in den Sinn, wenn Sie auf diese zehn Jahre parlamentarischer Tätigkeit zurückblicken ?

Hansruedi Lüthi: Da ist zunächst einmal die Veränderung sowohl in der Gemeindepolitik als auch in meinem eigenen Leben. Ich kam vor zehn Jahren gewissermassen als «Nobody» in dieses Parlament, durfte aber sehr rasch viel Anerkennung und Wertschätzung erfahren. So wurde ich schon bald in verschiedene wichtige parlamentarische Kommissionen berufen, später dann zum Statthalter und schliesslich zum Parlamentspräsidenten gewählt. Ich darf sagen, dass ich eine sehr interessante lokalpolitische Karriere erlebt habe.

Sie sprachen auch von persönlichen Veränderungen und Prägungen in diesen vergangenen zehn Jahren...

Durch die Politik und die persönlichen Beziehungen, die sich durch die Parlaments- und Kommissionsarbeit ergaben, habe ich Riehen besser kennengelernt und dadurch

Dieter Wüthrich

auch für mich selbst sehr viel profitiert. Als Mensch - denke ich - hat mich meine politische Tätigkeit nicht verändert. Ich bin derjenige geblieben, der ich schon immer war, so hoffe ich wenigstens. Natürlich sind mit einem politischen Amt auch immer gewisse Einschränkungen verbunden, beispielsweise was die eigene Freizeit betrifft.

Mit der Kandidatur für einen Parlamentssitz sind ja immer auch gewisse Erwartungen, Hoffnungen und Wünsche verknüpft. Haben sich diese in den letzten zehn Jahren für Sie erfüllt?

Dass ich eines Tages den Einwohnerrat präsidieren würde, damit habe ich zu Beginn meiner parlamentarischen Tätigkeit und auch später sicher nicht gerechnet. Deshalb hat mich der Moment meiner Wahl zum Ratspräsidenten emotional sehr berührt. Ansonsten haben sich die Erwartungen, die ich bei meiner ersten Kandidatur hegte, zu einem guten Teil erfüllt. Ich konnte mitreden und mitgestalten.

Welches war aus Ihrer Sicht das bedeutendste politische Geschäft in dieser Zeit?

Das waren zweifellos der Bau des Wärmeverbundes im Dorf und die Nutzung der Geothermie. Diese allseits spürbare Dynamik, mit der dieses «Jahrhundertprojekt» in Angriff genommen wurde, war für mich das gewaltigste Erlebnis meiner politischen Karriere.

Gibt es für Sie als Mitglied und Vorsitzender des Gemeindeparlamentes so etwas wie ein den Parteiinteressen übergeordnetes politisches Credo?

Das Volk, also die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, ist in unserem demokratischen System die oberste und wichtigste Instanz. Als Parlamentarierin oder Parlamentarier muss man sich deshalb immer seiner Rolle als Volksvertreter bewusst sein.

Ist es in der politischen Realität aber nicht eher so, dass man sich in erster Linie den Interessen seiner Wählerinnen und Wähler verbunden fühlt?

Natürlich braucht jede Einwohnerrätin und jeder Einwohnerrat den Rückhalt der Partei und jener Bevölkerungskreise, die sie oder ihn ins Parlament delegiert haben. Dass man sich der eigenen Partei, den eigenen Wählerinnen und Wählern gegenüber besonders verpflichtet fühlt, scheint mir durchaus legitim. Man muss dann allerdings als Parlamentarierin oder Parlamentarier auch Niederlagen akzeptieren können, weil ja die eigene Wählerschaft nicht immer die Bevölkerungsmehrheit repräsentiert.

Parlamentarierinnen und Parlamentarier werden von gewissen Kreisen in unserem Land hin und wieder als «Classe politique» kritisiert, die über die Köpfe des Volkes hinweg entscheide. Wie gehen Sie als Lokalpolitiker mit dieser Kritik um?

Für den Riehener Einwohnerrat trifft diese Kritik sicher nicht zu. Denn unser Gemeindeparlament scheint mir sowohl von der beruflichen als auch von der politischen Herkunft seiner Mitglieder her doch recht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung zu sein. Zudem ist Riehen nach wie vor einigermassen überschaubar - man kennt sich. Und deshalb haben die Mitglieder des Einwohnerrates schon noch das Ohr am Puls der Bevölkerung.

Tatsache ist doch aber, dass sich auch in Riehen rund die Hälfte aller Stimmberechtigten in politischer Abstinenz übt. Interpretieren Sie dies nun als Zeichen der Zufriedenheit mit der Arbeit des Einwohnerrates oder eher des Desinteresses nach dem Motto: «Die machen ja sowieso, was sie zuollen»?

Solange es den Menschen materiell gutgeht, hält sich bei vielen die Bereitschaft, sich politisch zu engagieren, in Grenzen. Zudem geht es in der Riehener Lokalpolitik eher darum, das in den letzten Jahren und Jahrzehnten Erreichte zu bewahren, und nicht darum, neue, spektakuläre und damit eben auch häufig umstrittene Projekte anzureissen.

Den neutralen Beobachter beschleicht bisweilen das Gefühl, dass im Einwohnerrat eigentlich gar keine echte Meinungsbildung über Sachgeschäfte mehr stattfindet, weil die Meinungen bereits in den vorangegangenen Fraktionssitzungen gemacht zuorden sind. Wozu braucht es denn überhaupt noch die monatlichen Sessionen, zumal ja auch das öffentliche Interesse an diesen Debatten nicht besonders gross ist?

Das sehe ich doch etwas anders. Es gibt durchaus Sachgeschäfte, bei deren Behandlung im Einwohnerrat die Zuschauertribüne gut besetzt ist. Bei vielen Vorlagen erübrigt sich zudem eine kontroverse Debatte, weil das Geschäft inhaltlich nicht umstritten ist. Aber es trifft sicher zu, dass die parlamentarische Knochenarbeit in den Fraktionssitzungen geleistet wird. Tendenziell scheint mir die Bereitschaft bei den kleinen Parteien grösser, angesichts neuer, während der Parlamentsdebatte eingebrachter Argumente einen Fraktionsbeschluss zu revidieren. Der Einwohnerrat erfüllt zudem im Auftrag der Bevölkerung eine wichtige Kontrollfunktion gegenüber der Arbeit des Gemeinderates und der Verwaltung. Wenn nun der Riehener Einwohnerrat, wie beispielsweise jener in Birsfelden, abgeschafft würde, hätte ich doch grosse Bedenken, dass je nach Sachfrage ein Zufallsmehr den Ausschlag auf die eine oder andere Seite geben könnte.

Nur wenige Mitglieder des Einwohnerrates beherrschen die Kunst der freien Rede, können spontan auf ein vorangegangenes Votum reagieren. Wie erleben Sie als Parlamentspräsident die Debatten im Einwohnerrat?

Es ist nun einmal nicht jedermanns Sache, vor vielen Leuten und dann auch noch spontan und ohne Vorbereitung zu sprechen. Sicher werden die Debatten im Einwohnerrat nicht so spektakulär und lautstark geführt wie etwa im Deutschen Bundestag. Ich muss aber gestehen, dass ich als Parlamentspräsident gar nicht so unglücklich bin, dass es bei uns im Einwohnerrat in der Regel sehr diszipliniert zu- und hergeht, dass die Mitglieder respektvoll miteinander umgehen.

Auf eidgenössischer wie auch auf kantonaler Ebene lassen sich in politischen Auseinandersetzungen eine gewisse Polarisierung der Meinungen, eine Verhärtung und Unversöhnlichkeit im gegenseitigen Umgang feststellen. Spüren Sie diese Entwicklung auch im Riehener Einwohnerrat?

Dieser Eindruck mag bisweilen entstehen. Aber ich möchte doch betonen, dass persönliche Ressentiments im Riehener Einwohnerrat zum Glück eine seltene Ausnahme sind. Gegenüber früheren Jahrzehnten sollen die heutigen Einwohnerratsdebatten - so höre ich zumindest immer wieder - vergleichsweise sehr gesittet verlaufen. Dies gilt im übrigen auch für die Arbeit in den verschiedenen Kommissionen.

In den letzten Jahren ist es bei Abstimmungen zu verschiedenen wichtigen Sachgeschäften zu einer Pattsituation im Einwohnerrat gekommen, bei der letztlich die Stimme des Parlamentspräsidenten beziehungsweise der Parlamentspräsidentin den Ausschlag gab. Wären Ihnen eindeutige Entscheide lieber?

Ich bin froh, dass bei Sachgeschäften nicht immer die gleichen Parteien von vornherein als Gewinner oder Verlierer feststehen. Im Einwohnerrat in seiner aktuellen Zusammensetzung stehen sich in der Tat zwei annähernd gleich starke Blöcke gegenüber. Immerhin ist jeder der beiden Blöcke bereit, auch einen knapp zu seinen Ungunsten ausgefallenen Entscheid zu respektieren.

Auch Sie haben als Parlamentspräsident schon Stichentscheide fällen müssen. Was geht in einem solchen Moment in einem vor?

Als Parlamentspräsidentin oder als Parlamentspräsident hat man sich in der Regel ja seiner Stimme zu enthalten. Wenn dann aber doch einmal ein Stichentscheid gefordert ist, dann schlüpft man wieder in die Rolle des Parteipolitikers. Bei einem Stichentscheid kann ich mir als Parlamentspräsident ja keine Bedenkzeit ausbedingen, sondern muss meist sehr schnell entscheiden.

Vor einigen Jahren haben Sie in einem Interview mit der Riehener-Zeitung den populären Bundesrat Willi Ritschard als Unpolitisches Vorbild bezeichnet. Warum gerade er?

Willi Ritschard war für mich ein Politiker, der sich natürlich gab. Er kam aus der Gewerkschaftsbewegung und war für mich im besten Sinn des Wortes ein Volksvertreter. Er redete eine klare und treffende Sprache. Er konnte sowohl mit dem einfachen Hornusser als auch mit hohen Wirtschaftsvertretern sprechen. Seine Volksverbundenheit war für mich vorbildlich. Dies gilt auch in bezug auf meinen baselstädtischen Parteikollegen Karl Schnyder.

Herr Lüthi, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1999

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