Stätte der Geschichte und friedlicher Naturpark

Hans A. Jenny

Schon vier Generationen ruhen auf dem Riehener Gottesacker. Vor 100 Jahren ist er eingeweiht worden. Und von seinen Grabsteinen lässt sich die kulturgeschichtliche Vergangenheit des Dorfes ablesen.

Jahrhundertelang dienten unserer Gemeinde der Gottesacker um die Kirche und später der zusätzliche Begräbnisplatz auf dem Schänzli vor dem Klösterli als letzte Ruhestätte der Dorfbewohner.

1828 eröffnete man dann den Friedhof an der Mohrhaidenstrasse, «hinter dem alten Schützenhaus». In der heute noch in verwandelter Form existierenden Kapelle dieser ersten grösseren Totenstätte unserer Gemeinde wurde übrigens 1899 die erste heilige Messe der Riehener Katholiken gefeiert. Als der Mohrhaldenfriedhof der schnell wachsenden Bevölkerung nicht mehr genügte, fanden die Gemeindeväter ein neues Gelände im Grienboden am Lörracherweg beziehungsweise am Haselrain.

Am 29. Januar 1899 meldeten die «Basler Nachrichten»: «Heute nachmittag um 3 Uhr wird durch die hiesige Geistlichkeit der neue, nun fertiggestellte Friedhof unserer Gemeinde Riehen feierlich eingeweiht. Zur Erhöhung dieser einfachen, aber würdigen Feier wird der hiesige Musikverein einige Choräle vortragen.»

Das Gelände umfasste ursprünglich 11185 Quadratmeter und wurde 1913 um etwa dreieinhalb Aren erweitert. Im Vergleich zum 1932 eröffneten Basler «Zentralfriedhof» am Hörnli mit 482 000 Quadratmetern ist unser Dorfgottesacker also eine räumlich bescheidene Totenehrungsstätte geblieben. Pfarrer Ludwig Emil Iselin meinte in seiner 1922 zur 400jährigen «Ehe» von Basel und Riehen Hans A. Jenny erschienenen «Geschichte des Dorfes Riehen» etwas mürrisch: «Der grosse Gottesacker am Hörnli, den die Stadt Basel jetzt auf Riehener Boden erstellen will, mag dann in der Riehener Festschrift des Jahres 2022 gebührend beschrieben werden...»

Gültig war damals noch die für den alten Friedhof an der Mohrhaldenstrasse erlassene «Begräbniss-Ordnung» von 1882. Zwei ihrer Paragraphen kommen uns heute recht kurios vor: «Der Begräbnissbeamte hat namentlich darüber zu wachen, dass bei der Behandlung von Leichen keine Hebammen beschäftigt werden.» Und: «Dem Leichen- und Begräbnisspersonal darf weder vor noch nach der Beerdigung Essen und Trinken verabfolgt werden.»

Individuelle Grabgestaltung

Etliche der alten Grabsteine stammen vom Riehener Steinhauermeister Theodor Seckinger-Schmid (18751925), der 1913 die Wirtschaft zum «Lindenhof» an der Baselstrasse 11 übernommen hatte. Seiner Mutter Elise setzte er einen sinnigen Trostvers auf den Leichenstein:

 

«Müde von des Lebens Sorgen

Schliefst Du, liebe Mutter, ein,

O wie schön wird jener Morgen

Deiner Auferstehung sein.»

Es ist durchaus erfreulich, dass heute trotz klar geregelten Vorschriften in bezug auf den Grabschmuck individuelle Möglichkeiten erlaubt sind: Auf Riehener Grabsteinen finden wir Vögel - Eulen, Tauben, Spatzen -, Pferde, Hunde, Hasen und Katzen. Auch vier Loko-Motive(n) dampfen als Zeichen erlebter Reiselust - oder vielleicht auch der Verbundenheit mit der «Badischen Bahn», die gleich jenseits der Friedhofsmauern vorbeifährt. Ein Bergsteiger wünschte sich seinen Lieblingsberg auf den Grabstein; eine idyllische Alphütte ist kunstvoll in den Stein gemeisselt. Und fein säuberlich und originalgetreu gestaltet, darf man auch unsere Dorfkirche als Grabzierde bewundern. Auf der letzten Ruhestätte eines fünfjährigen Kindes drehen sich zum Trost der Eltern und Geschwister sechs farbige Windrädchen. Letzte Griisse in spanischen, latei nischen und englischen Worten zeugen von der sprachlichen Vielfalt in unserer Gemeinde. So steht zum Beispiel auf dem Gedenkstein für das Ehepaar Häfliger-Hollingham; «Reunited in Love». Auf dem Familiengrab Morandini (Sägerei an der Grendelgasse) heisst es: «In Manu Dei sunt» - wir stehen alle in Gottes Hand.

Mehr als ein Begräbnisplatz

Ein Friedhof ist nicht nur ein Begräbnisplatz, sondern immer auch ein Natur- und Geschichtspark, eine Stätte der Würdigung unserer Toten. So führt uns eine pietätvolle Promenade über den Riehener Gottesacker zu Begegnun gen mit Menschen wie du und ich, aber auch zum Rendez-vous am Grab mit der Prominenz unserer Gemeinde: Professor Rudolf Nissen lebte von 1896 bis 1981. In den Lavendelbüschen an seinem Grabe summen im Sommer Hunderte von Bienen. Er war ein Schüler des bedeutenden Chirurgen Ernst Ferdinand Sauerbruch. Nissens wissenschaftliche Bedeutung kontrastierte mit seiner Bescheidenheit: Als ich ihn als junger Journalist nach einem der populären Bernoullianum-Vorträge symbolisch fragte, ob er seine Hand nicht noch etwas weiter zum Publikum hinunterreichen könne, konterte er entrüstet: «Ja glauben Sie denn, ich fühle mich oben?»

Nicolas Jaquet-Dolder (1898 bis 1986) war Direktor der Schweizerischen Reederei und Nationalrat. Als Basel 1954 das Schiffahrtsjubiläum feierte, organisierte er eine grosse Flottenparade von rund zweihundert Schiffen auf dem Rhein. Auf der Pfalz oben stand Jaquet mitten im Festkomitee und griisste die Kapitäne wie ein Admirai. Ich bewunderte ihn, weil alles so perfekt klappte.

August Frese (1834 bis 1900) wirkte als Inspektor der Laubstummenanstalt. Auf seinem Grabstein stehen zwei Bibelverse, die seine Tätigkeit trefflich umschreiben: «Der Stummen Zunge wird Lob sagen» (Jes. 35, 6) und «Tue deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind» (Sprüche 31, 8).

Überall trifft man auf die schlichten steinernen Grabkreuze der Riehener Diakonissen. Jede dieser hilfsbereiten Pflegerinnen hat ihr eigenes Zitat aus der Heiligen Schrift. So zeugen rund dreihundert Trostverse von der christlichen Gesinnung der Verstorbenen.

Fritz Behret (1893 bis 1979) war Münsterbildhauer. In einer Nische seines Grabes steht ein Minimuster seines künstlerischen Wirkens - eine reizvolle Figurengruppe.

Der Jagdaufseher Karl Meyer-Fluri (1907 bis 1991) - ich erinnere mich noch gut an seine typisch wald- und waidmännische Kleidung - hat ein für seine Tätigkeit und seine Fröhlichkeit symbolisches Jagdhorn als Grabschmuck.

Hunderte von Konzerten haben wir Professor Hans Löwlein (1909 bis 1992) zu verdanken. Seine Begeisterung übertrug sich, wenn er im Stadtcasino oder im Stadttheater das Orchester dirigierte, immer auch auf das Publikum.

Ein grosser Künstler von internationaler Bedeutung war Hans Sandreuter (1850 bis 1901). Er hatte sich sein Haus an der Wenkenhofstrasse selber dekoriert. Auch seine Schüler (zum Beispiel Emil Beurmann) profitierten von seiner Methodik und seinem Können.

Seit 1925 ruht auch der Verfasser der ersten grossen Riehener Chronik, Pfarrer Ludwig Emil Iselin (1861 bis 1925), auf unserem Gottesacker. Er hätte uns noch viel vom alten Dorf erzählen können.

Im Grab 14 der ersten Sektion an der Mauer in Richtung Weilstrasse liegen die Schwestern Agnes und Bertha Bauer (1848 bis 1918 und 1843 bis 1926), Töchter des Fürstlich Löwensteinischen Domainen-Direktors Johann Balthasar Bauer. Die beiden waren verwandt mit dem Flugpionier Emanuel Respinger und mit der Gattin des WenkenhofBesitzers, mit Fanny Clavel-Respinger.

Ich habe ihn als eleganten, freundlichen Herrn in Erinnerung: Regierungsrat Fritz Ebi-Hagin (1889 bis 1961). In seiner Amtszeit als Vorsteher des Basler Baudepartementes sind der Spiegelhof, die neue Universität und die Albanbrücke entstanden.

Er hat Zivilcourage, Mut und Standfestigkeit gegenüber nationalsozialistischer Arroganz bewiesen: Albert Oeri Preiswerk (1875 bis 1950). Seine Leitartikel in den «Basler Nachrichten» richteten sich nicht nach dem politischen Wind, sondern nach seinem Gewissen als Demokrat und Schweizer.

Da ruhen sie nun alle, die traditionsreichen Riehener Geschlechter der Wenk, Löliger, Stump, Späth und Unholz, der Bertschmann, Schlup, Probst und Gass, der Stolz, Schäublin, Mory, Weissenberger und Vögelin: friedlich vereint mit den in Riehen wohnhaft gewesenen «Altbasler» Vertretern, den Wackernagel, Burckhardt, Geigy und La Roche.

Am weitesten in die Vergangenheit zurück reicht das Grab von Marie-Antoinette Rappard, geborene de Rham. Sie kam 1818 zur Welt. Damals lebten noch Goethe und Napoleon. Karl Marx, Iwan Turgenjew, Charles Gounod und Jakob Burckhardt waren «Jahrgänger» unserer Friedhofs-Doyenne, die 1902 starb.

Die erste Bestattung auf dem «neuen Gottesacker» fand am 9. Februar 1899 um drei Uhr nachmittags statt: «Eduard Schlageter aus Langensee-Elbenschwand, in Baden gebürtig, 16 Jahre, 6 Monate und 24 Tage alt». Die jüngste Person in unseren Grabregistern war ein Mädchen der Familie Meier «ohne Vorname», das am 19. Mai 1903 mit der Angabe «Alter: zwei Minuten» zur letzten Ruhe gebettet wurde. Das höchste Alter erreichte die am 17. März 1983 verstorbene Witwe Augusta Blatter mit 102 Lebensjahren.

Verena Wenk war die erste Riehener Tote unseres zwanzigsten Jahrhunderts am 15. Januar 1901. Und irgendein Mensch aus unserer Gemeinde, der in den letzten Dezembertagen des Jahres 2000 sterben wird, wird dann als erster im neuen Jahrtausend Anfang Januar 2001 auf dem Riehener Gottesacker beerdigt werden. Denn das 21. Jahrhundert, das heisst unser drittes Jahrtausend nach Christus, beginnt erst am 1. Januar 2001 und nicht schon 2000, wie vielerorts falsch zu lesen ist.

Ab 1942 wurden die Urnenbestattungen in einem separaten Register aufgezeichnet. Im Jahre 1946 und dann wieder 1949 und 1950 leitete der Weitere Gemeinderat Anregungen zur Erweiterung der Abdankungshalle, zur Verbesserung der Bestuhlung, zur Modernisierung der Heizanlage, zur Kreation eines Wandschmucks und zur Anschaffung eines Harmoniums oder einer Orgel an die zuständigen städtischen Friedhofsinstanzen weiter. Einstimmig genehmigten schliesslich die Gemeindebe hörden am 24. März 1982 die übernahme des Gottesackers von der kantonalen Verwaltung in Riehener Besitz und Kompetenz.

Seit 1997 hat auch Riehen ein Gemeinschaftsgrab mit einer Sammelurne: «Das rund zehn Meter lange und neunzig Zentimeter breite Flachgrab aus aufgestellten, aneinandergereihten Granitplatten steht für die Gemeinschaft der Toten, für Bescheidenheit und Demut.»

Waren es 1901 noch 53 Beerdigungen im Jahr, so verzeichnete man (beispielsweise) für 1998 deren 103.

«Da drunten schläfst auch du einmal...»

Unser Friedhofsgärtner Christoph Lerch und seine Mitarbeiter von der Gemeindegärtnerei sind sich bewusst, dass die Arbeit auf unserem Gottesacker nicht nur bei den Abdankungen und bei der Grabpflege, sondern auch im täglichen Umgang mit den Besuchern viel Einfühlungsvermögen und (seelisches) Verständnis erfordert. Gelegentlich werden übrigens auch Hilfskräfte aus dem sogenannten Sozialstellenplan beigezogen, die jedoch ihrerseits eine spezielle Betreuung benötigen.

Als man in Basel 1872 den Wolf-Gottesacker einweihte, publizierten die «Basler Nachrichten» ein Gedicht «Auf dem neuen Friedhofe»:

 

«Da drunten schläfst auch du einmal,

Und einer muss der Erste sein,

Der wandert durch das finstre Thal,

Dem sich erschliesst ein Kämmerlein!

O wen das Loos auch treffen mag,

Sanft ruh' er bis zum jüngsten Tag!»

Und mit dem letzten Vers dieser Grabpoesie dürfen wir daran erinnern, dass es auch auf unserem Riehener Gottesacker irgendwann einmal eine allerletzte Beerdigung geben wird: «Da drunten schläfst auch du einmal, Und einer wird der Letzte sein! Dann bricht des ew'gen Morgens Strahl Als wie ein Blitz in's Grab hinein! Dann lasse Gott dich auferstehn, Und freudig ein zum Leben gehn!»

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1999

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