Süsse Verführung Das Beerenobstprojekt der Pro Specie Rara

Martin Frei

Völlig unbemerkt verschwinden zahlreiche alte Beerensorten aus unseren Gärten. Jetzt versucht man in Riehen, die bedrohte Vielfalt zu sammeln und zu erhalten.

Beeren lassen niemanden unberührt. Sie kommen als erste heimische Früchte auf den Markt und geben einen Vorgeschmack auf den bevorstehenden Sommer. Bereits im Mai reifen die Erdbeeren, etwas später Himbeeren, Johannisbeeren und Stachelbeeren, im Juli und im August dann als letzte die Brombeeren. Wer hat sich nicht schon auf Waldspaziergängen über die erfrischenden Köstlichkeiten gefreut, die einem unerwartet aus dem grünen Laub am Wegrand entgegenleuchten?

Lange Zeit waren Beeren ein Geschenk der Natur. Während andere Obstsorten wie Äpfel, Birnen oder Kirschen längst domestiziert worden sind, wurden Beeren bis vor gut zweihundert Jahren grösstenteils noch immer an Waldrändern, in Waldschlägen oder auf Weiden gesammelt. Selbst heute haftet den Beeren der Ruf von etwas Wildem an. Erst im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert wurde ihnen Gastrecht in unseren Gärten eingeräumt. Dabei spielten vor allem Sorten, die in England, Frankreich und Amerika gefunden oder gezüchtet wurden, aber auch frühe deutsche Züchtungen wie die Erdbeersorten «Lucida perfecta» (1861), «König Albert von Sachsen» (1878), «Sieger» (1898) oder «Deutsch-Evern» (1905) eine Rolle. Daneben führte eine unüberschaubare Anzahl von Liebhaberzüchtungen zu einer grossen Sortenvielfalt, insbesondere beim Strauchbeerenobst.

«Rote Wädenswiler» und «Lady Delamere»

Eine eigentliche schweizerische Beerenzüchtung setzte erst in den zwanziger Jahren mit der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Obst-, Wein- und Gartenbau in Wädenswil ein. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs kamen die 1928 gezüchteten Himbeersorten «Andenken an Paul Camenzind» und «Rote Wädenswiler» sowie die beiden ersten Wädenswiler Erdbeersorten in den Handel. Weitere wichtige Sorten folgten, so etwa die Himbeeren Zeva 1 und 2 (1952 beziehungsweise 1953) und Zeva Herbsternte (1955) oder die bis heute erfolgreiche Erdbeerzüchtung Wädenswil 6 (1960). Mit Ausnahme der Letztgenannten sind diese Sorten heute allerdings aus den Verkaufskatalogen der schweizerischen Beerenproduzenten verschwunden. Sie haben ertragreicheren, grossfruchtigeren, transportfähigeren, vielseitiger verwendbaren und oft weniger krankheitsanfälligen Sorten Platz gemacht; dies zum Preis einer zum Teil deutlichen Geschmackseinbusse.

Insbesondere die Erdbeersorten sind äusserst kurzlebig. Zurzeit werden in der Schweiz gemäss aktueller Sortenliste der schweizerischen Erdbeerproduzenten zirka fünfzig Sorten angeboten, wovon die älteste (Senga Sengana) gerade vierzig Jahre alt ist. ähnliches gilt für die Himbeeren. Anders die Situation bei den übrigen Beerenarten. Hier sind noch vereinzelt einige wenige alte Sorten im Handel: etwa die «Rote Triumph» und «Lady Delamere» unter den Stachelbeeren oder die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich gezüchtete «Weisse Versailler» unter den Johannisbeeren. Die um 1900 eingeführte Brombeersorte «Theodor Reimers» ist auch heute noch eine Hauptsorte. Ganz allgemein beherrschen aber derzeit importierte «Neuheiten» den Beerenmarkt.

Dieser rasante Wandel in der Sortenvielfalt erfolgte weitgehend unbemerkt. Wer kennt schon die Namen der im eigenen Garten kultivierten Beerensorten? Selbst verhältnismässig neue Züchtungen wie die Himbeeren Zeva 1 und 2 gelten gemäss einer Liste der Forschungsanstalt Wädenswil als mittelfristig gefährdet. In den letzten Jahren wurden Sammlungen von Beerenzüchtern aus wirtschaftlichen Gründen und mangels öffentlichen Interesses aufgelöst. Während es beim Stammobst wie äpfeln und Birnen oder bei Gemüse- und Ackerpflanzen private (beispielsweise Pro Specie Rara, Fructus) oder staatliche (Changins) Erhalterinstitutionen gibt, waren entsprechende Initiativen bei den Beeren zumindest in der Schweiz bisher nicht vorhanden.

Nationales Pilotprojekt in Riehen

Diese Lücke ist 1999 in Riehen geschlossen worden. Daniela Schlettwein-Gsell aus Basel stellte der Pro Specie Rara ein Grundstück am oberen Ende der Dinkelbergstrasse zur Verfügung, das Platz bietet für je etwa hundert Johannisbeer-, Stachelbeer- und Erdbeersorten, vierzig Himbeer- und zwanzig Brombeersorten. Das Projekt wird von der Margarethe und Rudolf Gsell-Stiftung finanziert. Die Parzelle ist auf Anfrage öffentlich zugänglich. Eine Informationstafel am Eingang gibt Auskunft über die Sammlung (Telefon: 302 8812).

Hauptziele sind der Aufbau einer nationalen Beerenobstsammlung und die Dokumentation der aufgenommenen Sorten. Dabei werden nur Sorten berücksichtigt, die älter als dreissig Jahre sind und die in der Schweiz gefunden oder hier nachweislich angebaut, vertrieben oder für Züchtungen verwendet wurden. Weitere alte oder interessante Sorten werden fallweise - solange es die Platzverhältnisse erlauben - ebenfalls in die Sammlung integriert. Mittelfristig soll eine Vergleichssammlung entstehen, die neben dem Erhalt die Erkennung und Bestimmung alter Beerensorten ermöglicht. Die langfristige Absicherung der Sorten soll dezentral in weiteren Sortengärten der ganzen Schweiz erfolgen, wobei für jede Sorte zwei oder drei Standorte angestrebt werden. Ein analoges Vorgehen hat sich beim Stammobst und bei den Reben bewährt.

In einer ersten Projektphase wurde aufgrund von Literaturrecherchen und alten Verkaufskatalogen eine Liste mit über tausend Beerensorten erstellt, wovon etwa ein Drittel für die Schweiz relevant gewesen sein könnte. Dieser Sortenkatalog bildet die Grundlage für weitere Abklärungen, insbesondere die Erstellung einer Suchliste mit den wichtigsten Sorten. Gleichzeitig wurden Kontakte zu Beerenzüchtern, privaten und öffentlichen Forschungsinstituten sowie Sortenprüfstellen im In- und Ausland aufgenommen, um Prioritäten zu setzen und mögliche Zusammenarbeiten abzuklären. So konnte beispielsweise die umfangreiche Stachelbeersammlung des Beerenzüchters Peter Hauenstein (Rafz) verjüngt und in Riehen abgesichert werden. Verschiedene Suchaufrufe hatten interessante Sortenmeldungen zur Folge, wobei freilich in den wenigsten Fällen die genauen Sortenbezeichnungen bekannt sind. Erste Kontakte mit dem deutschen Bundessortenamt in Würzen, welches für die Beurteilung und Prüfung von Beerenzüchtungen zuständig ist, ergaben Hinweise auf eine Vielzahl jener Sorten, die für das Riehener Beerenprojekt interessant sind. Und schliesslich kann mit Hilfe von Geldern des Bundesamtes für Landwirtschaft die Befreiung der Pflanzen von Viren und anderen Krankheiten finanziert werden.

Krankheiteil sind ein Proble

Die Sammelbemühungen im ersten Projektjahr lassen darauf schliessen, dass vor allem bei den Johannisbeeren noch mehrere bemerkenswerte Sorten unerkannt in alten Gärten ausharren dürften. Ein Problem sind hier die vielen nicht sortenechten Verwilderungen, die gerade in alten, vernachlässigten Gärten eine eindeutige Sortenzuordnung erschweren. Bei den Stachelbeeren ist dank der Sammeltätigkeit des Beerenzüchters Peter Hauenstein bereits ein ansehnlicher Grundstock von rund fünfzig Sorten beisammen. Es fehlen aber noch mehrere, früher hierzulande verbreitete Sorten wie beispielsweise «Gelbe Triumph», «Früheste aus Neuwied», «Früheste Gelbe», «Grüne Flaschen», «Honings Früheste» oder «Sämling von Maurer». Ob diese Sorten in der Schweiz noch aufgefunden werden können, ist fraglich. Denn viele Stachelbeersträucher sind im Gefolge von Krankheiten, insbesondere dem Stachelbeermehltau, ausgemerzt worden. Unklar ist auch die Bedrohungslage bei den Brombeeren. In der Schweiz wurden auch früher nur wenige Sorten kultiviert. Die heute an Bahndämmen häufig verwilderten Brombeeren dürften grösstenteils auf «Theodor Rei mers» zurückgehen. Ansonsten kommen in der Schweiz mindestens siebenundzwanzig wildwachsende Brombeerarten vor, die gelegentlich - der Fall der Ulmenblättrigen Brombeere belegt es - auch in Gärten verpflanzt wurden. Problematisch ist die Situation auf jeden Fall bei den Erdbeeren und Himbeeren. Beide Beerenarten neigen zu Krankheiten und Degenerationserscheinungen und werden deshalb mit der Zeit meistens durch neue Pflanzen ersetzt. Deshalb ist die Chance, weitere alte Sorten in Gärten zu finden, relativ klein. Bei den Himbeeren beispielsweise beeinträchtigen Rutenkrankheiten und das Wurzelsterben die Pflanzengesundheit und können ganze Anlagen zum Absterben bringen. Eine Nachpflanzung am selben Ort ist unmöglich, da die Krankheitsverursacher - beim Himbeer-Wurzelsterben ein Pilz der Gattung Phytophtera - jahrelang im Boden überleben. So ist es nicht erstaunlich, dass gerade bei diesen beiden Beerenarten erst wenige Rückmeldungen über Standorte vorliegen. Möglicherweise kann aber eine Intensivierung der Kontakte zu ausländischen Institutionen die eine oder andere ehemals auch in der Schweiz angebaute Sorte zutage fördern. Zumindest bei den Erdbeeren scheint ein solcher Erfolg nicht ausgeschlossen, sind doch seit den frühen 1990er Jahren Bemühungen im Gange, den Erhalt der wichtigsten Sorten auf europäischer Ebene zu koordinieren und sicherzustellen (European Strawberry Genebank Group).

Zurzeit befindet sich die Beerenobstsammlung in Riehen noch in der Aufbauphase. Die Hauptarbeit konzentriert sich auf das Sammeln von Sorten und die Vermehrung über Stecklinge und Ableger. Langwierige Sortenabklärungen stehen bevor, ebenso die Sanierung kranker Pflanzen in Wädenswil. Bis erste entvirte Erdbeer- und Himbeerpflanzen in die Sammlung aufgenommen werden können, dürfte noch einige Zeit verstreichen. Deshalb wurden im Frühsommer 1999 erst Jungpflanzen der diesbezüglich weniger problematischen Stachel- und Johannisbeeren gepflanzt.

Wegen des geringen Alters der Anpflanzungen macht die Sammlung gegenwärtig noch einen eher bescheidenen Eindruck. Es ist zu hoffen, dass zusätzliche Suchaufrufe auf ein breites Echo stossen und so die Sammlung sukzessive erweitert und die Beerenvielfalt erhalten werden kann. Für viele Sorten kommt das Projekt allerdings spät, vielleicht sogar zu spät.

 

Die Stiftung Pro Specie Rara Pro Specie Rara (PSR) ist eine nationale Stiftung, die sich für die Erhaltung der Vielfalt bei Kulturpflanzen und Nutztierrassen einsetzt. Im Samenkatalog «Sortenfinder» bietet PSR jeden Frühling gegen 400 verschiedene alte Gartenund Ackerpflanzen an. Beim Obst sind in der von PSR geführten Datenbank 4500 Sorten an 13000 verschiedenen Standorten registriert. Der Züchterverband für gefährdete Nutztierrassen betreut zusammen mit PSR 21 Tierrassen. Die Lebenderhaltung dieser immensen Vielfalt wäre nicht möglich, wenn die acht PSR-Angestellten nicht von rund 2000 Aktiven bei ihrer Arbeit unterstützt würden. Sie halten auf ihren Höfen gefährdete Tierrassen oder vermehren selten gewordene Kulturpflanzen in ihren Gärten.

 

Im Moment unterstützen über 5000 Gönner die Aktivitäten der Stiftung finanziell. Neben konkreten erhaltungszüchterischen Aufgaben werden mit diesen Mitteln Dokumentationen erstellt, und die öffentlichkeit wird mit Ausstellungen und Schaugärten für die Erhaltung alter oder seltener Kulturpflanzen und Nutztierrassen sensibilisiert.

 

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1999

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