Annäherungen an das Sein

Claudia His

Für sein vielfältiges künstlerisches Lebenswerk erhielt Werner von Mutzenbecher den Riehener Kulturpreis 2006.

 

Wahrscheinlich kennen Sie alle Werner von Mutzenbecher gut und möglicherweise auch schon lange, aber erlauben Sie mir trotzdem, im Rahmen der Kulturpreisverleihung einige Anmerkungen zu seinem Lebenslauf zu machen.

Werner von Mutzenbecher wurde 1937 als deutscher Staatsbürger in Frankfurt am Main geboren. Sein Vater fiel 1940 im Krieg. Die Mutter, die Pianistin war, zog mit den beiden Söhnen, dem dreijährigen Werner und seinem zwei Jahre älteren Bruder, zunächst auf ein Gut der Familie in Schlesien, brachte die beiden aber 1942 zu ihren Schweizer Eltern nach Riehen. Werner von Mutzenbecher erhielt 1949 als Zwölljähriger das Bürgerrecht von Riehen. 1956 machte er am Humanistischen Gymnasium die Matura und studierte ein Jahr an der Universität Basel Germanistik und Philosophie (1956/57). Von 1957 bis 1960 absolvierte er eine Ausbildung an der Allgemeinen Gewerbeschule Basel in Zeichnen und in der Malklasse. Verschiedene Auslandaufenthalte in Paris und Rom folgten. Von 1966 bis 1978 arbeitete er Nachtschicht bei der Post, um sich und seiner Familie die materielle Grundlage zu sichern.

Seit 1967/68 entstehen Filme und auch Texte und Gedichte in einer glasklaren, prägnanten Sprache, oft kurz, manchmal länger und immer präzise, beispielsweise über seine bildnerische und filmische Arbeit, über die Welt, über Privates und Alltägliches, über die Liebe und über verehrte Maler, wie etwa der gescheite und feinsinnige Text über Arnold Böcklin, publiziert im Katalog zur grossen Böcklin-Ausstellung von 1977 oder der vor wenigen Wochen für die Ausstellung in diesem Haus entstandene treffende und sehr schöne Text über den Künstlerfreund Hans Rémond.

 

Von 1970 bis 1990 nahm er an den Solothurner Filmtagen und an ausländischen Filmfestivals teil. 1977 war er gemeinsam mit Maria Netter Konservator ad interim an der Kunsthalle Basel. Wichtig ist auch Werner von Mutzenbechers über dreissigjährige Lehrtätigkeit an der Schule für Gestaltung Basel (1973-2000); von 1987 bis 2000 war er ausserdem Leiter der Fachklasse für freies bildnerisches Gestalten (Malklasse). Er war ein erfolgreicher und beliebter Lehrer, der zahlreiche junge Menschen am Beginn ihrer künstlerischen Laufbahn begleitete und unterstützte.

Werner von Mutzenbechers Bilder wirken auf den ersten Blick klar, einfach, souverän auch, manchmal vielleicht ein wenig spröde, ob dies nun die bekannten, seit den späten Sechzigerjahren entstehenden geometrischen Bilder sind, die Linien-Netz-Bilder, die seit 2000 entstehen, oder die Paraphrasen beziehungsweise Umsetzungen nach Gemälden alter Meister (seit Ende 2004). Man ist unmittelbar von diesen Bildern eingenommen, fast gefangen, als ob nicht nur wir sie anschauen würden, sondern auch sie uns, und als ob dieser Bilderblick etwas den Betrachter Bannendes hätte.

Die Präsenz dieser Bilder ist stark. Der erste Eindruck von Klarheit, Einfachheit und Harmonie weicht einer zunehmenden Irritation. Die stereometrischen Körper und Figuren verlieren ihre scheinbar feste Gefügtheit und wirken bewegt und expressiv, fast so, als ob sie auch den umgebenden Bildraum in Schwingung versetzen würden. Es ist eine feine, dynamische und schwingende Qualität in diesen Architekturräumen, einer Melodie aus tiefen sonoren Klängen ähnlich. Man muss die Bilder von Werner von Mutzenbecher immer wieder anschauen; sie tauchen ab und zu unvermittelt im Bewusstsein auf.

Bei längerem Betrachten betritt man diese Bilder mit den Augen und in der Imagination, man geht in sie hinein und entdeckt vieles: einen geometrischen Körper, in einer leicht verzogenen Perspektive dargestellt, dem ein zweiter Körper parallel gegenübersteht, wodurch sich Raum bildet; schwarze Flächen, die aneinander stossen und eine feine weisse Linie aussparen; dann einen grossen raumfüllenden Würfel mit eingekerbten Ecken; weiter sich überkreuzende Linien, freihändig mit dem Pinsel auf die Leinwand gemalt und ein flirrendes, gewebe- und netzartiges Linienmuster bildend; und einen Engel, dessen Linien hier nun Gewandfalten, Gesichtszüge, Gebärden bezeichnen, ein Gemälde von Pinturicchio oder Botticelli, übersetzt in die zeitgenössische Bildsprache Werner von Mutzenbechers.

In seinen Filmen sind es bewegte, manchmal in stakkatoartig kurzen Rhythmen vorbeiziehende, zuweilen von anderen Filmbildern überlagerte Bilder von Strassenzügen, Häusern, Fassaden, Fenstern, Bäumen, vom gehenden und sich bewegenden Künstler gefilmt. Oder die Kamera ist statisch und unbewegt und zeigt Mutzenbecher in Räumen oder aussen von hinten, aus dem Bild hinaustretend und wiederkehrend. Der Künstler ist Regisseur, Kameramann und Akteur in einem. Und fast immer sehen wir ihn von hinten. Diese Filmbilder sind in ihrer Flüchtigkeit und Skizzenhaftigkeit, auch in ihrer seltsam vertraut-unvertrauten Alltäglichkeit eigenartig und schön.

Es gibt ein wunderbares, sehr kurzes Gedicht von Werner von Mutzenbecher, das ich hier passend finde: Am weissen Licht besonnter Häuser vorbei an meinem Hause sitzend fahrend vorüber vorbei Kehren wir zu den Gemälden zurück: Da, wo der Pinsel die Malfläche berührt, ist der Maler. Von Mutzenbecher beschreibt es auch mit dem lateinischen «hic et nunc» (hier und jetzt). In seinem Text «Im Film sein» von 1990 schreibt der Künstler etwas, das - so finde ich - auch für seine Bilder gilt: «(...) Jedenfalls wollte ich Film so direkt angehen wie andere Medien (Malerei, Literatur), nahm die Kamera als körpernahes Instrument wie den Bleistift, den Pinsel, um seismografisch zu reagieren, als Möglichkeit der überbrückung oder Annäherung zwischen mir und dem Gegenstand. Ein anderer Antrieb war, mir mit Bildern und Filmen Raum zu schaffen, Freiraum, Raum zum Betreten und Wohnen, imaginären Raum, Seelenraum. Ich wollte Bilder malen zum Hineingehen. Filme machen zum Träumen, Filme, von denen man träumt. (...)»

Werner von Mutzenbecher fordert uns mit seinen Bildern auf, genau hinzusehen. Es ist niemals so, dass man auf seinen Bildern etwas wieder erkennen würde, was man schon einmal gesehen hat. Er zeigt uns immer etwas Neues, auf neue Art und Weise und doch in seiner dem Betrachter allmählich über die Jahre vertrauten Bildsprache. Dieses Neue, Ungekannte ist wohl ein weiterer Grund für die Irritation und Beunruhigung, die von seinen Bildern ausgehen kann und die zu wiederholtem Anschauen und sich Auseinandersetzen führt. Zwar sind es Formen, die uns bekannt sein mögen und eine Erinnerung in uns anklingen lassen. Je länger wir uns aber mit den Bildern beschäftigen, desto klarer wird, dass sie uns etwas Unvertrautes zeigen. Es ist dieses leichte und dennoch dezidierte Abweichen von scheinbar formalen Gegebenheiten, das uns zwingt, unsere Sehgewohnheiten zu überprüfen, unsere Wahrnehmung zu schärfen, zu hinterfragen und neu einzustellen. In diesem Sinne wirken Werner von Mutzenbechers Bilder wahrnehmungsbildend.

Der «Spielwürfel» von 1996 beispielsweise: Zunächst sind es drei gleiche, auf gleicher Ebene sich befindende, parallelperspektivisch dargestellte schwarze Flächen auf einer weiss grundierten Leinwand und neun weitere, kleinere schwarze Flächen dazu. Die ausgesparten weissen Linien habe ich erwähnt. Auch die grundierte Leinwand, die zu einem Raum wird, in dem die schwarzen Flächen sich zu einem Würfel fügen und die weissen Linien Kanten werden. Die schwarze Acrylfarbe scheint gleichmässig aufgetragen, erst von Nahem erkennt man deutlich die ausgreifende, dezidierte Pinselhandschrift. Das Schwarz wirkt wolkig-bewegt, lichtdurchlässig, samten.

Einen Anker werfen möchte Werner von Mutzenbecher, «nachhaltige», «nachhallende» Bilder schaffen. Die Unvergleichlichkeit und Individualität seiner Bilder geben ihm dabei Recht. Deshalb hat er auch kaum in Serien gearbeitet, es sind immer Einzelstücke.

Er erwähnte einmal im Gespräch, wie sehr es ihn gefreut habe, dass eine Betrachterin seiner Filme sich noch nach vielen Jahren an diese erinnerte. Mir geht das mit seinen Bildern genauso.

Etwas dem Chaos der Welt entgegenstellen, das seelenvoll und klar in einem ist - ein romantisches Ansinnen vielleicht. Die Geometrie ist als Hilfsmittel verstanden, um gewisse Sachverhalte zu untersuchen, zum Beispiel: Wie verhält sich eine Figur im Raum? Wie steht sie darin? Wie verändert sie ihn? Die Ergebnisse sind wohl weniger techni scher Natur, sondern zeugen vielmehr von philosophischen und gleichzeitig sehr alltäglichen Erkenntnissen über das Sein in der Welt, über Freiräume, Begrenzung von Raum, Individualität.

Ich zitiere in diesem Zusammenhang nochmals aus einem Text des Künstlers über seine Malerei (von 1990): «Ob Kunst ein Mittel ist, die Differenz zwischen mir und der Welt als dem grundsätzlich Anderen, dem Fremden schlechthin, schärfer, unerbittlicher herauszuarbeiten, oder ein Mittel, Einssein als Täuschung und Realität zu erfahren im Moment der übertragung, der Spiegelung von Welt, im Moment einer Erschaffung einer Gegenwelt (der Kunst) - verbunden mit dem kurzen Vergessen der eigenen einkerkernden Individualität?»

Es ist wohl beides: Kunst als Trennendes von Welt und Selbst und gleichzeitig als Möglichkeit der Verbindung zu, in seltenen Momenten vielleicht auch als Einssein mit dieser Welt. Werner von Mutzenbecher zeigt uns mit seinen Bildern, was und wie er sieht. Mehr noch, was ihn bewegt, umtreibt. Er malt es in seiner Bildsprache, geometrisch, in einem Linienmuster oder angeregt durch ein Bild eines alten Meisters, von dessen Liniengefüge er sich anregen und inspirieren lässt und das er in seine Gegenwart übersetzt. Inhalt kann der Hintergrund eines bedrängenden aktuellen politischen Geschehens sein. Etwas Inneres, ein Gedanke, ein Gefühl muss nach aussen gebracht werden, muss Form annehmen, damit es Kunst sein kann. Seine Bilder sind immer zeitgenössisch, heutig, gegenwärtig.

Bei Werner von Mutzenbecher geschieht dieses Formwerden in seinen drei Medien: in der Malerei, die für ihn nach wie vor ein wunderbares Medium ist, autonom, unabhängig und möglich ohne Fremdhilfe; im Film und beim Schreiben, beides ebenso unabhängige und «freie» Medien.

Die geometrischen Bilder sind zumindest formal der Minimal Art verwandt, anders ist bei Werner von Mutzenbecher die dezidierte Inhaltlichkeit und innere Beteiligung. Auseinandersetzungen mit Gemälden alter Meister gibt es, seit Bilder gemalt werden; immer waren für die Maler das sich Messen und Auseinandersetzen mit dem Bestehenden wichtig und im besten Sinne des Wortes bildend: Cézanne, Hodler, Giacometti, Picasso - sie und viele andere haben sich mit Bildern und Skulpturen alter Meister auseinander gesetzt, sie kopiert, umgesetzt. Werner von Mutzenbecher sagte es im Gespräch sehr schön: In alten Zeiten wandern, gebe öffnung in die Gegenwart.

Zum Schluss möchte ich noch einmal aus einem Text des Künstlers von 1981 über seine Bilder zitieren - eine wunderbare Passage, finde ich, die sehr präzise diese starke Verbindung zwischen Maler und Bild zeigt: «In den leeren Raum gestellt Architekturen des Innern. Schwebend, bodenlos. Wie der Raum verstellt oder geöffnet erscheint, wo und wie ein Architekturelement auftaucht, macht die psychische Situation aus. Die in jedem Bild, mit jedem Bild neu definiert ist. Keine a priori geometrische Kunst, die Geometrie ist nur vordergründig vorhanden.

Dient aber einem Zweck. Zur einfachsten, zur ablesbaren Form, die dadurch, wie sie gehandhabt wird, geheimnisvoll werden kann. Bilder, Situationen, Architekturen des Innern. Geometrie als Strukturelement, als Träger poetischer Inhalte. Auch Inhalte des Behälters. Es sind leere Behälter, offen oder geschlossen. Und Montage, Zusammensetzspiel oder verschiedene Dehnbarkeit gewisser Grundelemente. Wände. Die schneidende Schärfe der Kanten. Aggressivität. Länge, Winkel der Linien wichtig. Höhe, Breite, Tiefe der Elemente. Die malerische Freiheit innerhalb festgesteckter Grenzen, parallel zur eigenen sozialen Situation. Die Präzision liegt nicht allein in der Linienführung, der monumentalen Einfachheit, sondern in der gefühlten Richtigkeit der Bildkomposition, die eine psychische Konstellation präzise wiedergibt. Die Essenz der inneren Bilder, der Traumbilder: Raum offen oder verstellt und in welcher Art? Die Burgen und Zinnen des Innern. Alle diese Selbstbildnisse. (...)»

 

Ich kenne Werner von Mutzenbecher seit Jahren als Menschen, der den Austausch im Gespräch, in Reden und die Begegnung mit anderen braucht. Er tut dies immer mit grosser Klarheit und Präzision, auch mit Lust, Humor und Witz und einer Prise Ironie.

 

Seine Bilder sind ebenso klar, aber auch rätselhaft und geheimnisvoll.

Besser kann man es nicht sagen.

Die Konsequenz und Schönheit dieses bildnerischen Werks, die selbst auferlegte, aus einer inneren Notwendigkeit heraus entstandene Beschränkung der Mittel, die Klarheit in Form, Ausdruck und Gehalt, dies zu ehren sind wir heute Abend zusammengekommen. Es ist ein Werk, das in Erinnerung bleibt und das hoffentlich noch lange weiterwachsen wird.

 

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2007

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