Auf Schmugglerpfaden zur Eisernen Hand

Niggi Basler

Es war gerade die richtige Stimmung, als ich in einer dunklen, regnerischen Nacht Grenzwachtmeister N. auf seiner Kontrolltour über den Maienbühl begleiten durfte.

 

«Es ist gut, daß Sie nicht im Sonntagskleid gekommen sind, denn unser Weg wird hie und da feucht und schmal sein», meinte mein Begleiter. Am Anfang sah es zwar noch nicht so aus, als wir in der dunklen Schlucht des geteerten Hohlweges hinter der «Charmille» emporstiegen.

 

«Da passierte vor ...zig Jahren auch etwas: Als unser Grenzwächter seine Runde gerade beenden wollte und von der Inzlinger Grenze her über das Hinterengeli heimwärts zog, da hörte er beim Gebüschrand am Hohlweg ein verdächtiges Geräusch im mitternächtlichen Dunkel. Er schlich näher hinzu und gewahrte zwei Gestalten, welche, offenbar von der Grenze herkommend, Riehen zustrebten. Auf den Haltruf hin blieb bloß der eine stehen — der andere sprang seitwärts ins Gebüsch. Dort ist jene Stelle, wo er sich zum Hohlweg hinunterrollen ließ — es war gerade so dunkel wie jetzt. — Glücklicherweise ist im gleichen Moment des Grenzwächters Ablösung erschienen, so daß beide heimlichen Grenzgänger abgeführt werden konnten. Ohne jene Ablösung wäre die Begegnung für den einzelnen Grenzwächter nicht so gut abgelaufen. Denn es erwies sich nachher, als man die Personalien im Grenzposten prüfte, daß jener Hohlweg-Flüchtling ein bekannter Meisterboxer war...»

 

Inzwischen waren wir auf dem Sträßchen durch den Wald zum Maienbühler Hofgut gelangt, aus dessen Stubenfenstern freundliches Licht schien und vor dem Hause einen querlaufenden Fahrweg links nach Stetten und rechts nach Inzlingen schwach beleuchtete.

 

«Hier sind wir an einem wichtigen Punkte angelangt, nicht mehr heute, denn jetzt dürfen die Deutschen dieses Quersträßchen ohne weiteres benützen. Während des Krieges und kurz nachher war es jedoch anders. Da gäbe es verschiedenes zu berichten. Bei den Schmugglern ins Badische zum Beispiel war die motorisierte Fahrt von Riehen hierher beliebt. Wenn sie wußten, daß dieses Sträßchen nach Stetten zu bestimmten Zeiten von den Deutschen nicht bewacht war, dann flitzten sie dort schnell hinunter. Als jene Zollorgane merkten, daß ihnen hier auf diese Art einige motorisierte Kunden durch die allzu weiten Maschen geschlüpft waren, legten sie eine Kette mit spitzen Dornen quer über den Maienbühlweg. Der nächste .Lebensmittel- und Rauchwaren-Exporteur' wollte nach dem Einnachten mit seinem Auto bei ausgelöschtem Licht und abgestelltem Motor ganz leise in Richtung Stetten hinunterfahren, wobei er das stachlige Hindernis auf dem Weg nicht bemerkte. Päng! Und nach einigen Sekunden noch einmal Päng — Päng! Zuerst glaubte er an Schüsse. Er wollte fliehen, indem er den Motor einschaltete und schnell weiterfuhr. Doch er kam nicht weit. Auf dem löchrigen Sträßchen holperte sein Auto ganz bedenklich auf den Felgen von drei Rädern und landete schließlich am Wegrand in einem Graben. Da sah er, daß drei Pneus platt waren. Und er mußte befürchten, daß die Grenzwächter, durch den Lärm der platzenden Pneus alarmiert, jeden Moment da sein konnten. So gab es für ihn nur eines: Flucht seitwärts in die Büsche, unter Zurücklassung der Ware und des havarierten Autos (Zum Glück war es ohnehin ein altes, abbruchreifes Vehikel).

 

Wohl wurde es ihm erst wieder, als er im Stettener Bahnhof das Billet nach Basel löste und mit dem Zug gleich abdampfen konnte.»

 

«Und hier» — so fuhr mein Begleiter weiter, als wir die Maienbühler Matte hinter dem Gutshof hinanstiegen — «hier feierten einst dreißig Elsässer den 1. Mai... Ich hatte gerade Dienst», fuhr er fort, «die Bäume da hinten an der Halde zeigten sich in ihrem schönen Blütenkleid — da sah ich oben vom Waldrande her eine größere Menschengruppe herunterkommen. Zuerst dachte ich an den Bannumgang der Bürgerkorporation. Doch, als mich der erste mit ,Güete Bonjour' ansprach, wußte ich Bescheid. Es waren zwangsverpflichtete Elsäßer aus einer Fabrik in Brombach. Von wohlmeinender Seite erhielten sie genaue Angaben zu ihrem Fluchtweg über den Maienbühl, so daß sie unbehelligt bis hieher gekommen sind. Ja, das war ein kleiner MaiUmzug von besonderer Art, als wir nachher miteinander ins Dorf hinunterstiegen.»

 

Mittlerweile führte uns der Weg weiter hinauf in den dunklen Wald. Stockfinster war es; ich wollte deshalb meine mitgenommene Taschenlampe anzünden. Doch mein Begleiter meinte, ohne Licht sei das Begehen dieser Gegend richtiger; die Schmuggler und die Grenzwächter würden auch immer im Dunkeln ihren Pfad suchen, was natürlich voraussetze, daß sie ihn genau kennen. Und wirklich, als wir eine Weile vorwärtstasteten, sahen wir den Pfad vor uns, allerdings nicht deutlich, so daß ich oft über Steine oder am Boden liegende äste stolperte.

 

«Ja, wenn Sie es länger gewohnt wären, dann hätten auch Sie Nachtaugen wie ich», lachte mein Führer. «Sehen Sie, genau auf diesem Pfade verläuft die Grenze — einmal ist der Stein links und das nächste Mal rechts davon gesetzt. Das bedeutet, daß hier unsere und die deutschen Wächter patrouillieren dürfen. Auf der andern Seite des Maienbühls ist es ebenso, fast zwei Kilometer lang. Diese beiden parallelen Grenzwege sind bloß fünfzig bis dreihundert Meter voneinander entfernt. Wir finden auf der ganzen Schweizerkarte keinen so langen und schmalen Zipfel wie diesen hier. Die oberste Kuppe des Maienbühls also ist Riehener Boden und genau in der Mitte, auf dem flachgewölbten Hügelkamm, mußten jeweils die Schmuggler hindurch, und zwar nur in dunklen, sternenlosen Nächten, weil ja die Grenzpfade zu beiden Seiten nahe waren. Aber trotz dieser Schwierigkeiten wurden oft größere Unternehmen dieser Art erfolgreich durchgeführt. Ich erinnere mich da an die Zucker-Karawane. Da waren einmal zwölf Mann. Jeder von ihnen, mit Ausnahme des vordersten, trug in einem umgehängten Sack zwanzig Kilo Zucker. In Einerkolonne, in einem Abstand von etwa fünfzehn Metern, miteinander durch eine dicke Schnur verbunden. Der vorderste kannte jeden Baum und jeden Strauch. Möglichst lautlos pirschten sie sich durch die Finsternis, langsam, jeden Tritt sorgfältig aufsetzend, damit ja kein zerbrechendes Holz ihren Gang verrate. Schon waren sie eine halbe Stunde unterwegs, vorbei an der Stelle ,Auf Burg', — wo es hieß, daß auf dieser Höhe zu Urzeiten einmal ein Gebäude gestanden und ganz in der Nähe ein sagenhafter Schatz vergraben sei... — Da vernahm unser Vordermann links ein Geräusch. Er blieb stehen, zog ruckartig zwei, drei Male an seiner Schnur, als Zeichen für die Nachfolgenden, sich völlig ruhig zu verhalten. Wäre ein Grenzer aufgetaucht, dann hätte sein Haltruf die nachfolgende Schmugglerkolonne veranlaßt, den vordersten Schnurzipfel sofort zurückzuziehen, damit ja keine Spur zu ihr hinführe.

 

Doch das Geräusch rührte bloß von einem aufgescheuchten Reh her; der Gang konnte fortgesetzt werden. Bald bog der Anführer rechtwinklig ab, kreuzte den Grenzpfad und nach kurzer Zeit war die ganze Gesellschaft bei ihren Abnehmern drüben, worauf dann anschließend der Rückweg wieder auf den gleichen Spuren angetreten wurde.»

 

Jetzt sind wir am äußersten Ende des Zipfels angelangt. Zwei Grenzsteine sind in etwa fünfzig Meter Entfernung auf die Mitte eines Querweges gesetzt. «Dort an jenem Baum war während vielen Jahrzehnten eine Zeigfingerhand aus Blech, mit der Aufschrift ,Zum Waidhof' befestigt, und von dem heute verschwundenen Wegweiser hat diese Gegend die Bezeichnung .Eiserne Hand' erhalten.»

 

Während des Rückweges auf der anderen Seite erfuhr ich noch verschiedenes über geglückte und mißglückte Schmuggelgänge, zum Beispiel von jenem Chüngelibur, welcher auf der Maienbühlmatte Gras und Kräuter in seinen mitgebrachten Sack füllte und zum patrouillierenden Schweizer Grenzwächter bemerkte, daß hier oben das Futter für seine Chüngel bekömmlicher sei, als wenn er es drunten in der Nähe seines Dorfes Inzlingen suche. Als jedoch unser Grenzer später auf dem Heimweg war, traf er unten beim Hinterengeli den gleichen Gras- und Kräutersammler mit seinem Sack. Er veranlaßte ihn, den Sack auszuleeren. Diese Aufforderung war nicht unbegründet, denn zuunterst befand sich ein Radio.

 

Wir selber waren inzwischen auch wieder in diese Gegend hinunter gestiegen. Aus dem Dunkel der seitlichen Bäume blinkte plötzlich der Strahl einer Taschenlampe. Kontrolle der Grenzwacht; woher wir kämen. Doch als der Grenzer meinen Begleiter erkannte, salutierte er. Drunten schlug die Dorfkirche die zehnte Abendstunde.

 

Auch heute noch wird die Grenze bewacht, Tag und Nacht, wenn auch nicht mehr so intensiv wie während der vierziger Jahre.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1969

zum Jahrbuch 1969