Riehener Baustellenlegende

Daniel Thiriet

Im Jahre 1738 hat sich in der Nähe des heutigen Dorfplatzes eine Tragödie ereignet: Jakob Bagger, ein Wegmacher in Riehen, der gerne mal ein Gläschen Wein zu viel trank, traf beim Aushub für den neuen Dorfbrunnen mit seiner Spitzhacke einen Stein und die Spitzhacke spickte zurück und dem Jakob mit voller Wucht an den Kopf und bohrte sich durch seine Stirn in seinen Schädel. Anstatt dem Jakob zu helfen, lachten seine Kollegen nur: «Der hat wieder getrunken!» Sie erkannten nicht, dass der torkelnde Jakob keinen Spass machte. Sie liessen den Schwerstverletzten liegen, sodass dieser nach einigen Stunden verstarb. Bevor sein Lebenslicht ausging, belegte Jakob aus Wut über die Achtlosigkeit seiner Kollegen sein Dorf mit einem Fluch: Niemals wieder soll Riehen frei von Baustellen sein! Damit dieser Fluch auch wirkt, kehrt Jakob Baggers Seele seither immer wieder im Körper eines Mitarbeiters in die Riehener Verwaltung zurück, um Baustellen zu schaffen. Im Jahre 2019 ist es Lukas. Der langjährige Mitarbeiter der Bauverwaltung Riehen führt – unbewusst – Jakob Baggers Befehle aus. So sucht sich der Lukas Jahr für Jahr Stellen in unserem Dorf aus, die – mit wechselnden Begründungen – aufgerissen, eingezäunt, verkehrsbeampelt, zugeschüttet, asphaltiert und nochmals kurzzeitig aufgerissen und endgeteert werden können. Gerne lässt er auch mal für ein paar Wochen eine Baustelle Baustelle sein. Brühlweg, Essigstrasse, Am Hang, Rauracherstrasse, Grendelgasse – nichts ist dem Lukas (oder dem Jakob) heilig. Jede noch so kleine Begründung reicht, um Bagger und andere gewaltige Maschinen zu bestellen, die rot-weissen Schranken aufzustellen und den Asphalt aufzuspitzen. Sein Meisterwerk kurz vor seiner Pensionierung ist die riesige Baustelle zwischen Zoll und Eglisee: Mit seinen Verbündeten in den Tiefbauabteilungen von Basel und Weil lässt der Lukas ohne irgendwelche Hemmungen gegenüber Anwohnenden die ganzen fünf Kilometer häppchenweise aufreissen (sonst ist es ja viel zu schnell vorbei). Er leitet den Verkehr durch ganz Riehen um. Und damit es ja spassig wird, erfindet er Monsterkreisel, die keine sind, und bestückt die ganze Umleitungsstrecke mit Verkehrsampeln, die nichts anderes zu tun haben, als den Verkehrsfluss zusätzlich zu blockieren. Kaum hat er gesehen, dass diese Baustelle wirkt, lässt er auch Zufahrtsstrassen aufreissen. Und wer denkt, er oder sie könne über Quartierstrassen ausweichen, rechnet nicht mit Lukas’ (oder eben Jakobs) Hinterhältigkeit. Selbstverständlich liegen auch im Quartier die Strassen offen. Es muss ja noch Glasfaser verlegt werden. Und dabei entfallen – ganz im Sinne der Kundenfreundlichkeit – bis zu dreissig Quartierparkplätze. So hat Lukas seine Schuldigkeit getan und lässt sich auf Ende 2019 pensionieren. Zum Abschied erhält er von den Bauunternehmungen der Region ein geländegängiges Elektroauto, mit dem man ohne Weiteres über temporäre Stahlplatten fahren kann. Bei der Abschiedsrede spricht er von einem «erfüllten Berufsleben » und stösst mit dem Chef auf seinen Ruhestand an. Daneben steht Peter, sein Nachfolger. Mit einem Thunfischhäppchen in der linken Hand und einem Glas Weisswein in der rechten. Und wer genau hinschaut, entdeckt auf Peters Stirn eine kleine, unscheinbare Narbe. Sie sieht aus, als stamme sie von einem spitzen Gegenstand …

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2019

zum Jahrbuch 2019