Ein wahrlich ruhiges Licht - die Gralsgemeinschaft

Franz Osswald

Das kleine, eingeschossige Haus am Gatternweg 47 fällt kaum auf. Dass es kein Wohnhaus ist, merkt man wohl, wozu es gebraucht wird, verrät es aber dem Betrachter nicht auf den ersten Blick. Deshalb ist es auch erstaunlich, dass dieses Gebäude und dessen Benutzer schon für Schlagzeilen im «Beobachter» gesorgt haben. Das kleine Gartentor, kaum hüfthoch, wurde in der Zeitschrift fotografisch so dargestellt, dass man den Eindruck gewann, es handle sich um ein massives Eisentor, das vor unerwünschten Gästen abhalten soll. Das rot eingefärbte Bild symbolisierte zudem «Achtung Gefahr». Dass in Riehen eine laut «Beobachter» «zweifelhafte» Organisation seit Jahrzehnten sesshaft ist, davon hat man im Dorf keine Kenntnis genommen - und ruhig ist es auch nach dem Artikel geblieben. Wer verbirgt sich denn nun hinter diesem so unterschiedlich bewerteten Gartenzaun und in dem unscheinbaren Haus?

Es ist eine Organisation, die wohl den wenigsten Riehenern bekannt ist: die Gralsgemeinschaft. Untrennbar mit dieser Vereinigung verbunden ist der Name Oskar Ernst Bernhardt oder Abd-ru-shin. Sowohl der eine wie der andere Name wird vielen nichts sagen, was indes kaum verwunderlich ist, trat doch die Gralsgemeinschaft seit ihrem Bestehen in unserer Region kaum an die öffentlichkeit. Und ansässig ist sie in Basel seit dem Jahre 1934. Damit zählt sie zu den ersten Gralsgemeinschaften überhaupt. Damals trafen sich die Leserinnen und Leser der Schrift «Im Lichte der Wahrheit» zu regelmässigen Versammlungen bei sich zu Hause in privatem Rahmen.

Franz Osswald

Das Buch, das die Gralsbotschaft enthält, wurde von Abdru-shin verfasst, einem Deutschen, der 1875 als Oskar Ernst Bernhardt in Bischofswerda nahe Dresden das Licht der Welt erblickte. Bernhardt war gelernter Kaufmann und leitete ein eigenes Handelsunternehmen. Während des Ersten Weltkrieges war er in Internierungshaft in England. In dieser Zeit machte er sich Gedanken über das Wesen des Menschen und der Schöpfung. Er setzte sich zum Ziel, die in der Natur wirkenden göttlichen Gesetzmässigkeiten für die Menschen klar verständlich aufzuzeigen. In den frühen 20er-Jahren begann er als Abd-ru-shin (Diener des Lichts) seine Gralsbotschaft in öffentlichen Vorträgen zu verkünden. Als Buch in endgültiger Fassung erschien die Gralsbotschaft erst nach seinem Tode im Jahre 1941. In seiner Botschaft zeigt Abd-ru-shin die Naturgesetze auf und bringt sie in den Zusammenhang mit der Schöpfung und dem menschlichen Dasein. Die Schöpfung sei die Sprache

Ein wahrlich ruhiges Licht: die Gralsgemeinschaft Nach dem Zweiten Weltkrieg liess sich in Riehen die Gralsgemeinschaft nieder. Ihre Mitglieder haben das Buch «Im Lichte der Wahrheit» von Abd-ru-shin gelesen und richten ihr Leben nach seiner Lehre aus.

 

Gottes, sie gelte es kennen zu lernen. Abd-ru-shin will sein Werk indes nicht als «Bibel» verstanden wissen, er bindet sich an keine Konfession, stützt sich aber in weiten Teilen auf christliche Grundwerte ab.

«Die Gralsgemeinschaft ist keine neue Religion», erklärt Walter Hegi, der dem Kreis Basel vorsteht. Und auch sein Amt als «Vorsteher» habe nichts mit einem kirchlich-religiös ausgeübten Amt zu tun. «Jemand muss einfach die Zusammenkünfte organisieren, für das Haus sorgen und Ansprechperson sein. Ich besitze aber nicht mehr Kompetenzen als alle anderen Mitglieder und schon gar keine Befugnisse, über andere zu bestimmen.» Die Gralsgemeinschaft sieht sich selber als Leserkreis. Die Mitglieder sind von der Botschaft Abd-ru-shins überzeugt und suchen deshalb den Austausch mit Gleichgesinnten, so Hegi.

Die Zusammenkünfte finden im Versammlungsraum am Gatternweg 47 statt.

Wer den Raum betritt, kommt nicht umhin, sich in einer Kapelle zu wähnen. Ein Altar befindet sich linker Hand, ihm gegenüber, am anderen Ende des Raumes, erhebt sich die Empore mit Harmonium. Warum die Gralsgemeinschaft trotz der aus christlichen Kirchen gewohnten Ausstattung des Raumes keine Sekte oder Kirche ist, erklärt Werner Hegi: «Natürlich loben wir bei unseren Versammlungen den Schöpfer und preisen sein Werk, denn das ist ja eine Forderung Abd-ru-shins und deshalb auch die Ausstattung. Abd-ru-shin richtet sich zudem mit seiner Botschaft an alle Menschen jeglicher Konfession.» So können die Mitglieder der Gemeinschaft ihre Konfession beibehalten.

In Abd-ru-shins Schrift «Im Lichte der Wahrheit» heisst es dazu: «Das nachstehende Wort bringt nicht eine neue Religion, sondern es soll die Fackel sein, um den rechten Weg zu finden. Nur in der überzeugung ruht der rechte Glaube, und überzeugung kommt allein durch rücksichtsloses Abwägen und Prüfen! Steht als Lebendige in Eures Gottes wundervoller Schöpfung!» Bernhardt verlangt geradezu die kritische Prüfung seiner Schrift. Eine solche nimmt auch der «Führer durch das religiöse Basel» vor: «Die sonntäglichen Andachten dienen der Verehrung Gottes. Sie enthalten einen Vortrag aus der Gralsbotschaft, das Gebet und Musik. Eine Auslegung des betreffenden Vortrages findet nicht statt. Die Anhänger der Gralsbotschaft treten sehr zurückhaltend auf. Es wird keine Mission betrieben.»

äusseres Zeichen der Zugehörigkeit ist das Gralskreuz, das bei der Aufnahme überreicht wird - das Neumitglied wird zum so genannten «Kreuzträger». Diese Aufnahme nennt sich «Versiegelung» und ist mit der Firmung/Konfirmation vergleichbar. An christliche Riten lehnen einige Feste an, die die Gralsgemeinschaft begeht. Das Fest der Taube am 30. Mai weist wie Pfingsten auf die Sendung des Heiligen Geistes hin. Auf den 7. September fällt der Festtag der Reinen Lilie; der Tag fällt auf den Geburtstag Abd-ru-shins Tochter Irmingard, die am 7. September 1930 als «Reine Lilie» eingesetzt wurde. Es gilt den Frauen, die die Strahlung des Lichtes dank ihrer Empfindungsfähigkeit besser als der Mann an die Umgebung weitervermitteln können. Kurz vor Jahresende steht am 29. Dezember das Fest des Strahlenden Sterns im Kalender. Gleich dem Weihnachtsfest erinnert es an die Geburt Christi. Die Gralsgemeinschaft kennt auch Segnungen, so zum Beispiel den Kleinkinder- und den Trausegen. Beisetzungen werden auf Wunsch im Sinne der Gralsbotschaft abgehalten.

Das Wirken der Gralsgemeinschaft war während des Zweiten Weltkrieges stark eingeschänkt, Versammlungen wurden nicht abgehalten, um den Gründer der Bewegung nicht unnötig zu gefährden, berichtet Werner Hegi. Oskar Ernst Bernhardt, seit 1928 auf dem Vomperberg im Tirol beheimatet, wurde von den Nationalsozialisten enteignet und aus österreich vertrieben. Bis zu seinem Tode hielt sich Bernhardt im Zwangsaufenthalt im deutschen Kipsdorf (Erzgebirge) auf.

Schriftlich belegt ist die Geschichte der Riehener Gralsgemeinschaft kaum. Sicher ist nur, dass deren Mitglieder sich gleich nach dem Krieg im Jahre 1946 privat zu Versammlungen trafen. Am heutigen Ort am Gatternweg 47 weilt die Gemeinschaft seit dem 7. Juni 1955. An diesem Tag wurde der Neubau eingeweiht und seiner Bestimmung übergeben. Eine der treibenden Kräfte in dieser Zeit war der Riehener Ingenieur Emanuel Geering. 1974 beschloss die Vereinigung, einen Erweiterungsbau in Auftrag zu geben. Dieser konnte ein Jahr später am 2. November 1975 bezogen werden. Finanziert wurde der Anbau zum Teil aus Spenden der Mitglieder, mit 100 000 Franken den grössten Brocken stiftete indes ein ungenannt sein wollender Riehener, der der Gralsgemeinschaft wohl gesinnt war.

In Riehen besuchen regelmässig rund fünfundzwanzig Mitglieder die sonntägliche Andacht, sie kommen aus der Nordwestschweiz und dem Badischen. Der Kreis Basel zählt um die fünfzig Kreuzträger. Die genaue Zahl der Gralsanhänger in der Schweiz ist selbst der Gemeinschaft nicht bekannt, der «Führer durch das religiöse Basel» beziffert sie auf rund fünfhundert. Die Gralsgemeinschaft Kreis Basel ist in ihrer Organisationsform eine Stiftung, deren Sitz sich in Riehen befindet. Diese ist Eigentümerin des Versammlungshauses. Da die Aktivitäten der Stiftung gemeinnütziger Art sind, so Hegi, geniesse die Gemeinschaft Steuerfreiheit. Zu den Aufgaben der Gralsgemeinschaft gehört die Verbreitung Abd-ru-shins Schriften. Die Bücher werden vom eigenen Verlag - ebenfalls eine Stiftung - mit Sitz in Stuttgart herausgegeben. Neben dem Haupttitel «Im Lichte der Wahrheit» und weiteren Texten Bernhardts vertreibt der Verlag die Buchreihe «Die Wegbegleiter».

Aufmerksam auf die Gralsgemeinschaft wird man eigentlich nur, wenn in der Zeitung ein Inserat auf einen Vortrag der Bewegung hinweist. Ansonsten ist es wie immer am Gatternweg 47: ruhig.

Der Heilige Gral Um den Heiligen Gral ranken sich viele Legenden und Sagen. In der Dichtung des Mittelalters ist er ein segenspendender Stein oder die Schüssel des Abendmahls, in der Joseph von Arimathia Christi Blut am Kreuz aufgefangen haben soll. In Wolfram von Eschenbachs «Parzival» wurde der Heilige Gral zum Symbol der göttlichen Heilskraft und Gnade. Die Gralslegende wurde erstmals im Frankreich des 12. Jahrhunderts unter Einbezug der Artus-Epik literarisch ausgeformt und seither wiederholt aufgenommen (Richard Wagner, in Parsifal und Lohengrin). Nach der Lehre Abd-ru-shins steht «am höchsten Ausgangspunkt des ewigen Geistig-Wesenhaften die Gralsburg». In einem Raum wiederum befinde sich «als Unterpfand der ewigen Güte Gottvaters und als Symbol seiner reinsten göttlichen Liebe sowohl als Ausgangspunkt göttlicher Kraft: der Heilige Gral». Der Tag der Taube sei der Zeitpunkt der Verbindung, der Erneuerung der göttlichen Wunderkraft. Die Hüter des Grals empfangen sie und vermögen diese weiterzugeben (Abd-ru-shin).

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2001

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