Kulturpreisträger 1996 Christian Schuppli Figurentheater Vagabu

Paul Ragaz

Seit 1983 richtet Riehen einen Kulturpreis aus; für 1996 ging er an Christian Schuppli und sein Figurentheater. Andreas F. Voegelin, Kulturpreisträger 1994, hat die Figuren porträtiert.

Der Kulturpreis der Gemeinde Riehen für 1996 wurde Christian Schuppli und seinem Figurentheater Vagabu zugesprochen. Damit erfuhren sowohl der Vertreter einer weniger bekannten Kunstform als auch diese selbst ihre fällige Würdigung und verdiente Anerkennung. Beim folgenden Text handelt es sich um die leicht gekürzte Laudatio von Paul Ragaz - seinerseits Kulturpreisträger 1993-anlässlich der Preisverleihung am 3. Juni 1997.

Früher hatte es den Ruf von billiger Jahrmarktsgaukelei. Heute verstehen viele darunter so etwas wie selbstgebasteltes Märchenerzählen für Kinder. Keine andere Kunstgattung muss mehr gegen Vorurteile und für Anerkennung kämpfen als das Figurentheater. Wenn nun die Gemeinde Riehen den Riehener Kulturpreis an Christian Schuppli als Figurenspieler und an das Figurentheater Vagabu als Institution verliehen hat, dann wird diese Ehrung hoffentlich auch dazu beitragen, das Interesse am Figurentheater als künstlerischer Form zu mehren.

Würde ein Musiker, eine Dichterin, eine Bildhauerin ausgezeichnet, käme es niemandem in den Sinn, sich über die Musik, die Dichtkunst oder die Bildhauerei im allgemeinen zu äussern. Es scheint jedoch wichtig, der Würdigung Christian Schuppiis und des Vagabu einige grundsätzliche Bemerkungen zum Figurentheater vorauszuschicken.

Figurentheater - was ist das?

Bereits der etwas nüchterne, bescheidene Begriff ist nicht allen Leuten geläufig und bedarf einer kurzen Erklärung: Wie der Name sagt, ist Figurentheater natürlich auch Theater. Anders als beim Schauspiel werden aber die Dramen dieser Welt nicht mit Menschen, sondern mit Figuren, das heisst Objekten irgendwelcher Art gespielt. Diese Objekte können Puppen im traditionellen Sinn sein, Marionetten, Stabpuppen, Handpuppen, Marotten, aber auch Masken, Riesenfiguren, Gegenstände verschiedenster Art, die mit dem Spiel zum Leben erweckt werden. Figurentheater ist dabei nicht ein Miniaturersatz für das sogenannt grosse Theater, sondern besitzt eigene Ausdrucksformen. Mit Figuren können zum Beispiel menschliche Eigenschaften typisiert und auf Wesentliches reduziert dargestellt werden. Mit der Möglichkeit, Figuren beliebig gross und klein werden zu lassen, mit ungewohnten Perspektiven zu spielen und sogar die Schwerkraft aufzuheben, nähert sich das Figurentheater der Illusionskunst des Films und der Zauberei. Im Unterschied zum Film bewahrt es aber die Unmittelbarkeit des Theatererlebnisses, im Unterschied zur Magie spielt es mit of fenen Karten und verzaubert gerade durch die völlige Transparenz der Tricks und Illusionen. Dieser offenen Verzauberung, die Fantasie anregt, aber auch Fantasie voraussetzt, kann kaum ein Kind auf der ganzen Welt widerstehen. Unter den Erwachsenen ist die Anhängerschaft des Figurentheaters treu, aber eher klein. Wenn man den modernen Starkult als Gradmesser für das Prestige einer Kunstform nimmt, kommen die Figurenspielerinnen und -Spieler schlecht weg. Der beste Figurenmeister der Welt hat keine Chance gegenüber einer exzentrischen Filmschauspielerin, einem skandalumwitterten Tänzer oder einem genialen Tastenlöwen.

Schon in früheren Zeiten wurden die Figurentheaterleute von der Gesellschaft nicht auf Händen getragen. Sie galten als Gesetzlose, als Vagabunden. Ihr Wirkungsfeld war der Jahrmarkt, den teilten sie mit andern zwielichtigen Gestalten: den Gauklern, Possenreissern, Feuerschluckern, Seiltänzern, Jongleuren, Musikanten, Scherenschleifern, Zahnziehern und Chirurgen, die alle als mehr oder weniger Ausgestossene der ansässigen Bevölkerung gegen klingende Münze Kultur, Unterhaltung und nützliche Dienstleistungen anboten. Vielen dieser Jahrmarkt-Berufsstände gelang es im Laufe der Zeit, ge seilschaftliche Anerkennung und materielle Sicherheit zu erreichen. Das Figurenspiel hingegen wird von der breiten öffentlichkeit auch heute noch nicht als Beruf, als Berufung, als Kunst zur Kenntnis genommen. Erinnerungen ans Kasperlitheater machen aus dem Figurenspiel allenfalls ein fröhliches Hobby. Professionelle Figurenspielerinnen und -Spieler leben in der Schweiz oft am Rande des Existenzminimums. In ihrem Bereich, der Kleinkunstszene, müssen sie meistens mit den tiefsten Gagen vorlieb nehmen.

Es sind vor allem drei Gründe, die dem Figurenspiel nur eine bescheidene Rolle im modernen Kulturzirkus gewähren. Diese Gründe sind zugleich Qualitäten, die diese Kunstgattung ausserordentlich sympathisch machen:

 

1. Figurenspieler sind zwar mächtige Drahtzieher ihrer eigenen Marionettenregierungen. Die Schöpfer der fantastischen Figurenwelten bleiben aber auf der Bühne diskret im Hintergrund. Sie verstecken sich entweder ganz hinter Tüchern und Vorhängen oder kleiden sich diskret und versuchen mit allen Mitteln, die Aufmerksamkeit des Publikums von sich weg auf die belebte Figur zu richten. Leider wird in unserer Gesellschaft die Selbstdarstellung mehr geschätzt als die Arbeit im Hintergrund.

2. Wer sich dem Figurentheater verschreibt, muss vielseitig sein, muss gestalterische, dramaturgische, schauspielerische Fähigkeiten mit einer guten Portion manueller Geschicklichkeit verbinden. Doch in unserer Zeit des hochentwickelten Spezialistentums ist Vielseitigkeit nicht so gefragt.

3. Nach wie vor gibt es in der Schweiz, im Gegensatz zum Ausland, keine Berufsausbildung für Figurentheater. Auch professionelle Spieler und Spielerinnen müssen sich ihre vielseitigen Kenntnisse selbst erarbeiten. Das selbstbestimmte Lernen, vom eigenen Willen und der Neugier angetrieben, ist eigentlich die höchste Form der Pädagogik. Unsere Welt verlangt aber nach Diplomen und ist mehr beeindruckt von Lebensläufen mit Namen von berühmten Akademien.

Beginn im Kinderzimmer

Auch Christian Schuppli hat sich seine Ausbildung selbst erarbeitet. Die unliebsamen wirtschaftlichen Bedingungen haben ihn nicht davon abgehalten, sich mit seinem Beruf, seiner Existenz und seiner ganzen Kreativität dem Figurenspiel zu verpflichten. 1950 geboren, wuchs er, zusammen mit drei jüngeren Geschwistern, im Niederholzquartier, in Bettingen und an seinem jetzigen Wohnort, an der Oberen Wenkenhofstrasse, auf. An seinem elften Geburtstag wurde er zum Figurenspiel berufen. Seine Grossmutter schenkte ihm nämlich ein Schnitzmesserset und ein SJW-Heft über den Bau eines Marionettentheaters. Fortan widmete Christian seine Freizeit dem Figurentheater. Die ersten Produktionen entstanden im Kajütenbett. Die Geschwister mussten assistieren. Der Stoff der Dramen wurde schon damals aus brennenden Gegenwartsproblemen gewonnen: Der innerfamiliäre Konflikt um Randensalat ergab eine königliche Geschichte, deren Realisierung sogar der Nachbar, Strafgerichtspräsident Häberli, und die Haushalthilfe der Grosstante beiwohnen durften. Die Eltern waren allerdings ob der Ausweitung des Publikums über den häuslichen Rahmen hinaus nicht so erbaut. Noch während der Gymnasialzeit vertiefte Christian Schuppli seine Kenntnisse im Figurenschnitzen. In den Ferien entstanden schon grössere, ausgereiftere Inszenierungen. Die Idee einer hauptberuflichen Figurenspielerlaufbahn lag aber in jener Zeit jenseits aller Wünsche und Träume.

Stationen eines Werdegangs

Nach der Matura verschlug es Christian Schuppli zuerst für ein Jahr nach Madagaskar, wo er im Rahmen eines Entwicklungshilfeprojektes in Klassen von über 60 Schülern unterrichtete. Madagaskar prägte sein Bewusstsein für grosse soziale Ungerechtigkeiten und legte den Grundstein für sein kontinuierliches politisches Engagement, das auch dem Figurentheater Vagabu sein Gepräge geben sollte. Es folgten einige Semester des Studiums in Psychologie und Deutsch an der Universität Zürich, das er aber, zugunsten einer lebensnaheren Tätigkeit als Kindergärtner im alternativen «Gampiross» aufgab. Während dieser Zeit erhielt er Gelegenheit zu einem Volontariat im Basler Marionettentheater, kurz BMT.

Nach einem Jahr, 1974, stellte ihn Richard Koelner, der Leiter des BMT, als seinen Assistenten mit fürstlichen siebenhundert Franken Monatsgehalt an. Während der folgenden vier Jahre konnte er von den grossen Erfahrungen des Basler Altmeisters im Figurenschnitzen und Inszenieren von traditionellen Marionettenstücken profitieren. Der Lehrling entwickelte jedoch bald soviel Initiative, dass Konflikte mit dem Meister unvermeidlich wurden.

Christian Schuppli inszenierte zum Beispiel «Pinocchio» und «Biedermann und die Brandstifter», trat selbst - welche Ungeheuerlichkeit! - als Spieler auf der Marionettenbühne auf, experimentierte mit neuen Formen und Perspektiven, mit der Illusion von Gross und Klein und führte unter anderem auch die japanische Bunraku-Technik ein, die darin besteht, dass drei sichtbare, aber vermummte Spieler eine Figur führen und ihr mit menschlichen Händen eine grosse Ausdruckskraft geben, fm BMT fand Schuppli nicht nur den Beruf, sondern auch die Frau seines Lebens. Aus der Begegnung mit einer Mitspielerin, Maya Delpy, entstand bald nicht nur eine Familie mit zwei Kindern, sondern auch eine intensive künstlerische Lebensgemeinschaft.

Maya Delpy hatte ihre Liebe zum Figurentheater im Alter von 15 Jahren bei einer Ausstellung im BMT entdeckt. Mit einem Musiker als Vater und einer Tänzerin als Mutter suchte sie damals einen eigenständigen künstlerischen Bereich und fand im Figurenspiel die Möglichkeit sich auszudrücken, ohne sich selber zeigen zu müssen. Auch Maya widmete ihre ganze Freizeit dem Figurentheater und arbeitete im BMT mit. Mit 19 erhielt sie sogar ein Angebot, als professionelle Spielerin bei den Salzburger Ma rionetten mitzumachen. Sie entschied sich dann aber für ein Medizinstudium und trat weiterhin im BMT auf, wo die innovativen Schupplischen Inszenierungen bald für Erfolg, aber auch für Unruhe im Marionettenkral sorgten. 1978 trennte sich Christian Schuppli vom BMT und gründete zusammen mit Maya eine Wanderbühne, das Figurentheater Vagabu, benannt nach einem Fantasievogel. Eine schöpferische, aber auch ökonomisch harte Zeit begann. überleben konnte die junge Familie dank der Tätigkeit Mayas als Arztin und dank der gelegentlichen Unterstützung durch die Grossmutter. Sie hatte den Lebensweg ihres Enkels als Gaukler ja schliesslich zu verantworten.

Das Vagabu wächst

Das Vagabu blieb nicht lange ein Duo. Bald wurde Vrene Ryser beim Basler Marionettentheater abgeworben und bildete mit dem Schuppli-Delpyschen Paar ein Trio, das lange Jahre zum harten Kern der Wanderbühne gehörte. In den 19 Jahren bis heute haben dem Vagabu ausserdem viele wechselnde Mitwirkende ihr Gepräge gegeben.

Gerade die Vielseitigkeit des Figurentheaters bringt es mit sich, dass für neue Produktionen und eine erfolgrei che Tourneetätigkeit eine Vielzahl von künstlerischen und organisatorischen Arbeiten zu verrichten ist. Auf einer grossen Bühne werden diese Arbeiten verteilt und hierarchisch organisiert. Beim Vagabu wurde in den Gründerjahren versucht, alles möglichst gemeinsam zu erledigen. Dies war nicht einfach und führte zu vielen nutzbringenden, aber auch schwierigen Auseinandersetzungen, besonders da nicht alle Mitwirkenden mit den gleichen ökonomischen und zeitlichen Bedingungen mitmachen konnten. Seit der Grossproduktion «Anna Göldin» 1986 mit 15 Mitwirkenden änderte sich die Organisationsform: Christian Schuppli übernahm als Leiter und einziger vollamtlicher Mitarbeiter des Vagabu die Verantwortung für Organisation, Konzept und Planung, bemühte sich um Produktionsbeiträge und verpflichtete weitere Mitwirkende. Während die Regiearbeit am Anfang vor allem in den Händen von Christian und Maya Schuppli lag, wurden später Regiefachleute verpflichtet. Die künstlerische Arbeit während der Proben war aber weiterhin geprägt durch Dialog und fruchtbare Auseinandersetzung.

Im künstlerischen Dialog des Teams und mit der kreativen Antriebskraft von Christian Schuppli sind bis heute 19 Eigenproduktionen entstanden, die sich in ihrer Ver schiedenheit zu einem eindrucksvollen Gesamtbild zusammenfügen. Die künstlerische Leistung des Figurentheaters Vagabu besteht vor allem in der ungeheuren Reichhaltigkeit an Ausdrucksformen. Während andere Figurentheater sich oft im Laufe ihrer Entwicklung auf eine erfolgreiche Technik und Spielart konzentrieren und sich darin perfektionieren, sucht Christian Schuppli mit dem Vagabu bei jeder Inszenierung eine neue Herausforderung. Figurentheater heisst für ihn, die ganze Palette der Möglichkeiten, welche die Gattung hergibt, auszuloten. Die Reichhaltigkeit zeigt sich schon im Gestalterischen: Früh erreichte Christian eine Meisterschaft im Schnitzen von Holzfiguren, die über die Region hinaus Beachtung fand. Er begnügte sich aber nicht damit, auf diesen Lorbeeren auszuruhen. Bei Diana Fahrner fand er neue Anregungen im Schnitzen von Masken, die in der «Anna Göldin»-Produktion auf eindrückliche Weise die düstere, erstarrte Welt des Glarner Establishments im 18. Jahrhundert zum Ausdruck brachten. Vrene Ryser brachte die Kunst der textilen Figurgestaltung und des kreativen Umgangs mit Alltagsmaterialien mit und beeinflusste damit auch nach und nach Christian Schuppiis Technik. Die skurrilen Recyclingmarionetten in Don Pe dros Puppentheater und das Duo Don Quijote/Sancho Pansa aus Veloschläuchen sind ein frühes Beispiel gestalterischen Aufbruchs und kreativer Zusammenarbeit. Die Produktionen «Ikarus» und «nicht jetzt, nie» zeigen wichtige neue Entwicklungen in Richtung Abstraktion und Reduktion: Figuren, die nur aus Kopf und Hand oder sogar nur aus Köpfen allein bestehen, Strandgut, das auf archaische Weise belebt wird. Die Bellevue-Bar, ein Auftrag des Fernsehens, brachte Schuppli dazu, Bundesräte nicht aus Holz, sondern aus Schaumstoff zu schnitzen und zu formen. In der neuesten Inszenierung schliesslich, dem «Play Odipus», ziehen zwanzig Stabfiguren mit aufs Einfachste reduzierten Papiermaché-Kôpfen einen wilden Reigen aus Intrigen, Lüsten, Mord und Totschlag auf.

Eine ungeheure Reichhaltigkeit an Ausdrucksformen

Auch im Formalen suchte das Vagabu ständig neue Herausforderungen. Neben traditionellen Theaterstücken wie Märchen- und Literaturbearbeitungen finden wir ein Figurenballett in «Wüsche macht selig», Figurenkabarett in «Mensch ärgere dich», Tanztheater mit Figuren und der Tänzerin Barbara Winzenried, ausserdem in vielen Pro duktionen die Durchmischung von Puppen-, Maskenund Schauspiel und die fruchtbare Zusammenarbeit mit Musikerinnen und Musikern. Im Auftrag des Justizdepartements entstanden Stücke mit offenem Schluss, die Kinder zu Improvisationen zum Thema «Sucht» anregen. Die grosse Erfahrung Mayas als Kindertherapeutin hat natürlich viel zu diesen pädagogischen Projekten beigetragen, die ausserdem von Theaterpädagogik-Fachleuten mitgetragen wurden.

All dieser faszinierende Reichtum im Gestalterischen und Formalen ist aber beim Vagabu nie Selbstzweck gewesen, sondern immer Mittel und Gefäss für Gedanken, Philosophien, Botschaften. Ohne das sozial- und gesellschaftspolitische Engagement von Maya und Christian Schuppli würde der Figurenzauber wie eine leere Hülle wirken. Allerdings beschränkte sich das Vagabu nie auf reines Zeigefinger- oder Agitprop-Theater, sondern suchte immer eine differenzierte Sicht der Dinge zu vermitteln. Das Thematisieren von aktuellen Problemen ging dabei oft Hand in Hand mit der Vermittlung grosser literarischer Stoffe. So kommt es, dass eine Vagabu-Theatervorstellung nicht nur eine Augenweide, sondern immer auch ein Ort geistiger Auseinandersetzung ist.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1997

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