Museumsrang und private Vision

Annemarie Monteil

Mit der Fondation Beyeler wird Riehen zum glanzvollen Ort für Kunstinteressierte aus aller Welt. Museum und Sammlung sind aus verwandtem Geist gewachsen, in übereinstimmung von Kunst, Architektur, Ficht, Natur.

Die Auswahl für Illustrationen zur «Fondation Beyeler» fiel schwer. Üblicherweise entscheidet man sich, um einen Text zu bebildern, für die Hauptwerke einer Sammlung oder Ausstellung. Aber im Beyeler-Museum ist jedes Werk - ein Hauptwerk.

Das hat Gründe. Der Sammler Ernst Beyeler besitzt nicht nur ein angeborenes Gespür für malerische und formale Qualitäten, sondern verfügt auch als Galerist und Kunsthändler über «Heimvorteile»: Er hat Einblick in zahlreichste private und öffentliche Sammlungen und kennt weltweit die Auktionsangebote. Er kann Werke in die Galerie oder zu sich heim nehmen und in langem Umgang deren Strahlkraft gemeinsam mit Frau Hildy erproben.

Höhenweg

Im Schaffen grosser Künstler gibt es einzelne Werke, die den schöpferischen Impetus in besonderem Masse enthalten. In seiner hochdifferenzierten und gefilterten Auswahl hat Beyeler viele von ihnen herausgefunden. Zur Lebendigkeit, ja zur Faszination der Sammlung gehört zudem, dass hier nicht ein Museumsmann mit enzyklopädischem Anspruch «die» Kunst des 20. Jahrhunderts belegen will. Ernst Beyeler ist kein Dokumentarist, sondern - bei aller professionellen Erfahrung mit Kunst - ein Liebhaber, leidenschaftlich auf jener Fährte, die seinen persönlichen Einsichten und Neigungen entspricht.

Liebe ist eine Passion, sie will das Geliebte bewahren. So ist in aller Stille über Jahrzehnte die Vision eines privaten Musée imaginaire in die Wirklichkeit umgesetzt worden, und dies neben anspruchsvollstem Kunsthandel und 250 hochkarätigen Galerieausstellungen. Unvergesslich ist mir das geradezu schockartige Glückserlebnis, als die Sammlung erstmals vereint - sogar für Hildy und Ernst Beyeler erstmals - zu sehen war: im Frühsommer 1989 im Centro de Arte Reina Sofia in Madrid. «Colección Beyeler» lautete schlicht der Ausstellungstitel. Die zweite überwältigende Begegnung im Sommer 1993 in der Nationalgalerie Berlin hiess «Wege der Moderne» (nicht «Die» Moderne). Man darf ruhig von «Höhenwegen» reden.

Rund zweihundert Werke zählt die Sammlung heute. Seit Madrid ist sie ständig gewachsen - und tut es weiter. Sie umfasst die klassische Moderne, ungefähr die Zeit vom Ende des Impressionismus bis zum späten Picasso, mit «Ausläufern» in die Gegenwart. Schwerpunkte mit umfangreichen Werkgruppen bilden Henri Matisse, Paul Klee, Pablo Picasso, Fernand Léger, Alberto Giacometti, Jean Dubuffet. Figuren aus Afrika und Ozeanien sind spannende Bezugspunkte im Beyelerschen Koordinatensystem.

Es fehlt hier der Raum, die einzelnen Werke bis in den Teppich der Kunst unseres Jahrhunderts zurück zu verfolgen. Lektüre und Anschauungsmaterial dazu bieten die Kataloge von Madrid und Berlin sowie die eben erschienene Publikation der Fondation. Uns bleibt, einige Leitlinien herauszuheben, die die Sammlung als optische und geistige Lichtbahnen durchziehen. Man möchte sie - etwas summarisch - als Lebensfreude und Spiritualität bezeichnen. Und leiser sei beigefügt, dass beide Eigenschaften, das Temperamentvoll-Heitere und das Besinnliche, im Charakter des Sammlers angelegt sind.

Lebensfreude

Die Sommerausstellung 1997 in der Galerie an der Bäumleingasse hiess «Joie de vivre». Im Katalogvorwort bekennt sich Ernst Beyeler, ein sonst zurückhaltender Schreiber, ausdrücklich zum «tragenden Element einer Lebensfreude», die er in seinen Ausstellungen «versucht habe, zum Ausdruck zu bringen». Und wie tat er das! Jetzt durchströmt diese «Joie de vivre», die - nochmals Beyeler - «immer wieder ansteckend wirkt», als Cantus firmus die Räume des neuen Museums, aufgenommen von Architektur und Licht.

Nie ist Lebensfreude in der Kunst so direkt erfahrbar wie in Momenten des Entdeckens neuer Erfahrungszonen. Im Beyeler-Museum sind berühmte Aufbrüche der Moderne immer wieder mit kapitalen Werken belegt. Das geschieht schon mit jenem Bild, das Beyeler als erstes nicht mehr aus der Hand geben wollte, sozusagen dem Beginn der Sammlung: Die 31 Zentimeter breite Kreidezeichnung «L'Homme couché» von Georges Seurat (1883/84) enthält in nuce eine damals völlig neuartige Transparenz und eine Bildautonomie, von der Kraftströme ausgehen zu so verschiedenen Malern wie Matisse, Mondrian, Rothko. Ein nächster Grundstein der Sammlung, «Improvisation 10» von Wassily Kandinsky (1910), markiert strahlend den Beginn der abstrahierenden und bald völlig gegenstandslosen Malerei. Hügel und Regenbogen werden in schwungvolle Farb-Form-Klänge hineingeführt. Dass der Sammler-Liebhaber Beyeler über der «Improvisation 10» den Kunsthändler vergass und auf ein glänzendes Geschäft mit hundert Werken von Paul Klee verzichtete, ist bereits zur Legende geworden. Dass er schlussendlich die Klees doch erhielt, würde ein weiteres Beyeler-Kapitel eröffnen, das mit Gelassenheit, Treue und Menschlichkeit zu betiteln ist.

Aufbruch

Chronologisch beginnt die Sammlung mit dem, was man den Frühmorgen der Moderne nennen könnte. Paul Cézanne ist mit einer repräsentativen Gruppe vertreten. Dazu gehören die in vibrierende Linien gefassten «Badenden» und Bäume, die sich wie Körper einander zuneigen, ein schönstes Früchte-Aquarell und als neuste Erwerbung das wunderbar dichte ölbild «Frau im gelben Lehnstuhl»

von 1888/90. Natur und von ihr abgehobene Form, Materie und immaterielles Farblicht sind in ständigen Umsetzungsprozessen. In verwandter Einsamkeit entstand 1890 ein Kornfeld von Vincent van Gogh, wenige Monate vor seinem Tod: bewegte und doch geordnete Rhythmen aus kurzen Pinselgesten. Der neue Geist der Freiheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts mitsamt seinem Wissen um die Relativität der Dinge blüht im Kubismus auf. Ihm gilt eine exquisite Gruppe von Braque und Picasso.

Als Claude Monet die Kathedrale von Rouen zu immer andern Tageszeiten malte, war das so kühn und ungewöhnlich, dass der sonst fortschrittliche Kritiker Julius Meier-Graefe das böse Wort «Dekorateur der Kathedralen» brauchte. Heute ist es Monets Aufbruch zum Spiel mit dem Licht und seinen feenhaften Verspiegelungen, das die Maler nicht loslässt - und befruchtet. Beyeler hat eine besonders poetische «Cathédrale»: Traumblau überrieselt von Goldgelb. Damit wird man ins horizontlose Versinken des wandbreiten Seerosen-Triptychons geführt, das Monet zwischen 1917 und 1920 in Giverny malte.

Kann sich Lebensfreude mit Dramatik paaren? Ja, in der magischen Wirklichkeit von Henri Rousseau, den man den «Zöllner» nannte. «Der hungrige Löwe wirft sich auf die Antilope» (1905) vereint die tödliche Szene mit der üppigen Sinnlichkeit des Urwalds. Das von unzähligen Repros bekannte Bild dokumentiert wiederum einen Anfang, sahen doch Franz Marc, Max Ernst, Picasso und viele andere in Rousseau das ganz «Andere» einer neuen Ursprünglichkeit.

Dass Pablo Picasso im Zentrum der Sammlung steht, hat nicht nur mit den vielen freundschaftlichen Begegnungen Picasso-Beyeler und mit bevorzugten Auswahlangeboten zu tun, sondern mit der Erkenntnis, dass Picasso «das» Genie unseres Jahrhunderts ist. Glanzvoller als in Riehen lässt er sich kaum in so knappem Schnitt belegen: Es beginnt mit der wie ein Gongschlag klingenden «Femme» von 1907, aus der Zeit der «Demoiselles d'Avignon», reicht vom Kubismus über die Klassik von Frauenköpfen und metamorphosierende Stilleben bis zum pathetischen Eros des Spätwerks, dazu die damals als Kunstrevolution wirkenden Skulpturen. Der grosse Picasso-Saal wird eine internationale Attraktion sein, um so mehr, als der Museumsbau mitspielt, wie eine festlichklassische Fundstätte ins Terrain gelagert.

Nachdenklichkeit

Kennerschaft und Augenfreude des Sammlers bestimmten die Wahl. Das Resultat ist Schönheit, aber nicht im Sinne jenes «kleinen schön», das für Rilke «aus dem Begriff des Geschmacks stammt», Kunst sei vielmehr «die Leidenschaft zum Ganzen». Auf dieses «Ganze» reagiert Beyeler wie ein Wünschelrutengänger der Kunst. Das bedeutet, dass in seiner Sammlung ästhetik und gestalterisch-handwerkliche Meisterschaft die Tiefendimension des Menschlichen und Schicksalsmächtigen besitzen. Bezeichnend für diese Ausrichtung ist zum Beispiel, dass in der Klee-Kollektion das Gewicht auf den späten, den schwierigen Werken liegt. Dunkle Runen, Zeichen für Trauer und Vergänglichkeit anstelle der früheren heiteren Gärten. Klee litt unter der Verfemung durch die Nazis und ahnte seinen Tod.

Einen eigenen Platz nimmt Alberto Giacometti ein, seine Wanderer aus purem Geist mit schweren Füssen haben Antennen in Jenseits-Zonen. In den USA kam Giacomettis Projekt für die «Chase Manhattan Plaza» nicht zustande, im Beyeler Museum kann man zwischen den monumentalen, sockellos auf die Erde gestellten Figuren umhergehen, ein existentielles Erlebnis ohnegleichen. Und so, wie es der Künstler vielleicht gemeint hatte.

Grosse Kunst besitzt Welthaltigkeit. Unheil und Rettung, Liebe und Tod, dazu malte Picasso nicht nur eine Metapher, sondern das ergreifendste Bild von Frauen-Begegnungen dieses Jahrhunderts: «Die Rettung einer Ertrinkenden» von 1932.

Als «Meditation» noch kein überstrapaziertes Wort war, schufen Maler Ikonen der universellen Harmonie. Wer ins blaue Rechteck von Piet Mondrian, in die fliessende Farbwand von Mark Rothko, in die unendlichen Strukturen von Mark Tobey hineinstaunt, gewinnt Meditation im ursprünglichen Sinn zurück: anschauende Versenkung, die willensfrei und krampflos zu neuen Horizonten führen kann.

In der Kunst der unmittelbaren Gegenwart, sagt Ernst Beyeler, sei er weniger heimisch. Auf Konzeptkunst verzichtet er, Beuys ist - listigerweise - lediglich in einem Porträt von Andy Warhol gegenwärtig. Trotzdem fehlt die Gegenwart nicht, sie muss sich aber für den Sammler mit grosser Malkunst, mit «Peinture» verbinden. Das gilt vor allem für Francis Bacon. So viel Verzweiflung (sie sei ihm «nützlich» zum Malen, sagte Bacon), so viel Zerstörungslust - und eine solche malerische Herrlichkeit! Beyelers Wahl ist auch hier sehr persönlich. Nicht schreiende Münder und Kreuzigungen, sondern die in Bacons Œuvre rare «Düne» voll erotischer Unheimlichkeit, sowie das Triptychon «Im Gedenken an George Dyer», das die kühnste Auseinandersetzung mit Raum, Figur, Farbe ist.

Georg Baselitz und Anselm Kiefer reihen sich als jüngere bei aller Pathosgeste gut in die Sammlung ein, gehören sie doch mit virtuosen Pinselzügen und Uberlagerungen zu den heute rar gewordenen «Malern». Die Fortsetzung in die Gegenwart geschieht in Wechselausstellungen. Jährlich zwei- bis dreimal soll ein Dialog stattfinden zwischen den Klassikern der Fondation und den Zeitgenossen.

Das Ganze

Magisch ist der Empfang. Wer ins Museum eintritt, wird begleitet von einer dreieinhalb Meter langen TrompetenMaske aus Melanesien. Und beim Rundgang begegnet man immer wieder auserlesenen Figuren und Masken aus Afrika und Ozeanien. Die Durchmischung von klassischer Moderne und Stammeskunst gehört zu den Spezialitäten der Fondation und erzählt gleichzeitig ein Stück Kunstgeschichte. Denn viele der im Museum vertretenen Künstler sammelten «art primitif». Picasso hatte 1907 im Trocadéro in Paris Masken aus Afrika und Ozeanien entdeckt und sogleich in den die Wirklichkeit phantastisch verändernden Formen eine Verwandtschaft mit dem eigenen Schaffen gespürt. Tatsächlich wirken die «primitiven» Gestaltungen in der Fondation nicht als Fremdlinge, obwohl sie aus ganz anderen Kulturkreisen und Traditionen kommen. Hohe Qualität verträgt sich immer. Zudem ist den Künst lern von hier und dort jene «Leidenschaft zum Ganzen» gemeinsam, die auch Beyelers Auswahl steuert: Mit je eigenen Mitteln wird durch die Kraft des Expressiven und der ästhetischen Erkenntnis die Wirklichkeit auf eine verwandelte Ebene gehoben. Auf eine Ebene, von der aus die Welt und das seltsame Tun der Menschen ein bisschen besser oder anders lesbar sind.

Das heisst: Die Bilder und Skulpturen mit ihren vielen Bezügen vereinen sich im Beyeler Museum zu einem eigenen Gesamtkunstwerk, in einzigartiger übereinstimmung mit grosser Architektur.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1997

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