Kulturpreisträgerin 1988 Lukrezia Seiler-Spiess
Gerhard Kaufmann
Die Jahrbuch-Redaktion ist es nicht gewohnt (und will es sich auch nicht zur Gewohnheit machen), in eigener Sache in Erscheinung zu treten. Dieses eine Mal tun wir es jedoch mit Freude, denn bekanntlich erhielt unsere Kollegin, Lukrezia Seiler-Spiess, leitende Redaktorin des Riehener Jahrbuches, den Kulturpreis 1988 der Gemeinde Riehen. Dieser wurde ihr im Rahmen einer feierlichen Übergabe am 20. April 1989 im Haus der Vereine verliehen. Die übrigen Mitglieder der Redaktionskommission freuen sich mit Lukrezia Seiler über diese ehrenvolle Auszeichnung.
Die Laudatio hielt Gemeindepräsident Gerhard Kaufmann; da er Frau Seiler so trefflich charakterisiert hat, wie wir es besser nicht könnten, geben wir seine Rede ganz wieder:
Im Jahre 751 sind bedeutende, im Banne Riehen gelegene Güter, heute bekannt unter dem Namen Wenkenhof, dem Kloster St. Gallen geschenkweise übereignet worden. Es ist offenkundig, dass auf diesem Geschenk ein, wenn auch später, Segen gelegen hat, denn nach einer Spanne von 1214 Jahren hat diese Vergabung Früchte getragen, indem die Gemeinde Riehen ihrerseits von St. Gallen in besonderer Weise bedacht worden ist. Ich meine damit die im Jahre 1965 erfolgte Ubersiedlung der St. Gallerin Fukrezia Seiler-Spiess in unser Dorf und den reichen Gewinn, der der Gemeinde aus dieser Transaktion zugeflossen ist.
Durch ihre Tätigkeit in der damaligen Buchhandlung Theo Schudel kommt Lukrezia Seiler 1969 erstmals in Berührung mit dem Riehener Jahrbuch, indem sie für ihren Chef das Korrekturenlesen übernimmt. Offensichtlich hat sie sich dabei mit dem Bazillus «Jahrbuch» infisziert, denn bereits zwei Jahre später ist sie Mitglied der Redaktionskommission und seit 1979, das heisst seit nunmehr zehn Jahren, verantwortliche Chef-Redaktorin und früher zugleich auch Verlegerin des Jahrbuches in Personalunion.
Kulturelles Leben - soll es bestehen können - ist auf Resonanz angewiesen. In Riehen findet es diese Resonanz im Jahrbuch, das wie kein anderes Organ lokales Kulturgeschehen und lokales Kulturbewusstsein widerspiegelt. Für mich bemerkenswert ist, dass eine Nicht-Riehenerin in derart kurzer Zeit dieses für unsere Gemeinde und deren Eigenständigkeit wichtige Instrument zu handhaben verstanden hat. Fukrezia Seiler hat mit ihrem Engagement verschiedene Vorurteile, herumgeboten als wohlfeile Klischees zum Schutze der eigenen Bequemlichkeit, widerlegt.
Erstes Vorurteil: «Riehen ist ein reines Schlafdorf.» Die Welt der Arbeit schafft soziale Kontakte, das ist unbestrit ten; tut aber ein gleiches nicht auch das kulturelle Geschehen? Finden sich nicht immer wieder bei Veranstaltungen der verschiedensten Art Bewohner unseres Dorfes zusammen ausserhalb der Arbeitswelt und strafen so dem Vorurteil, unser Dorf sei ein Schlafdorf, Fügen? Gehört die jährliche Jahrbuchpräsentation nicht bereits zu Riehens vorweihnächtlichem Brauchtum?
Zweites Vorurteil: «Ein Zuzüger hat es ausserordentlich schwer, hier Wurzeln zu schlagen und Zugang zu den Alteingesessenen zu finden.» Ich meine, in Riehen ist es wie anderswo auch. Wer in Riehen als Auswärtiger seine Zelte aufgeschlagen hat, wird vielleicht lange und vergeblich warten, bis man ihm den roten Teppich ausrollt und ihn auffordert, sich dieser oder jener Gruppe anzuschliessen. Hingegen behaupte ich, und Lukrezia Seiler liefert den offenkundigen Beweis, wer den ersten Schritt tut, wer sich selber einbringt, dem bleiben auch in Riehen die Türen nicht verschlossen. So hat es Lukrezia Seiler verstanden, durch entsprechende Leistung zuerst Anerkennung und dann Vertrauen zu finden. Es sind ihr Türen geöffnet worden, überliefertes aus Riehens jüngerer Vergangenheit ist ihr anvertraut und schliesslich sind ihr Bilder, Fotos und Dokumente aus altem Familienbesitz zur Verfügung gestellt worden, auch von alteingesessenen Riehenern, die instinktiv gespürt haben, dass ihnen in der Person von Lukrezia Seiler echtes Interesse an unserer Gemeinde, an seiner Geschichte, seiner Gegenwart und seiner Zukunft entgegentritt. Ein Interesse, das sich bekanntlich nicht an der Arbeit am Jahrbuch erschöpft, sondern auch andere Gebiete des Riehener Kulturlebens, ich denke dabei an das Dorfmuseum, befruchtet.
Drittes Vorurteil: «Ehrenamtlichkeit ist gleichbedeutend mit Dilettantismus.» Die Herstellungskosten eines einzelnen Jahrbuches sind von beachtlicher Höhe. Autoren- und Redaktionshonorare partizipieren daran in einem äusserst bescheidenen Mass. Ohne den Idealismus des Redaktionsteams gäbe es kein Jahrbuch. Oder anders ausgedrückt: die ausgerichteten Entschädigungen stellen kein äquivalent zu den erbrachten Leistungen dar. Umso bemerkenswerter ist die Professionalität, mit der dieses Werk von Lukrezia Seiler konzipiert, betreut, begleitet und Jahr für Jahr neu herausgebracht wird. Angesichts der Biographie der heute Geehrten kann das allerdings nicht verwun dem: an die Maturität am Wirtschaftsgymnasium der Kantonsschule St. Gallen schlössen sich Auslandaufenthalte in England und Frankreich an, dann eine Berufstätigkeit beim Walter-Verlag in ölten, und zwar im Sekretariat und im Lektorat, mit vier Jahren Redaktionstätigkeit für die Zeitschrift «Die Woche». Sie mögen daraus entnehmen, dass sowohl für den administrativ-kommerziellen Teil als auch für den literarisch/redaktionellen Part des Jahrbuches Lukrezia Seiler beste Voraussetzungen mitbringt und es nicht von ungefähr kommt, dass die Riehener Annalen zum Vorbild ähnlicher Publikationen geworden sind.
Lassen Sie mich nun zur eigentlichen Würdigung des Werkes von Lukrezia Seiler kommen, nämlich ein Jahrbuch herauszugeben, das seinesgleichen sucht. Als hier Geborene und Aufgewachsene leiden wir unter einer Art Betriebsblindheit, die darin besteht, die kulturelle Eigenart unseres täglichen Umfeldes und die Besonderheit der hiesigen Landschaft nicht mehr als solche wahrzunehmen. Die von auswärts zugezogene Lukrezia Seiler hat gleich einmal erkannt, wie reich an Fakten und Ereignissen Riehens Vergangenheit ist, wie umfangreich dokumentiert sie vor allem ist, wie gross die Zahl privater Sammler und Sammlungen ist, welche Vielfalt an Persönlichkeiten des geistigen, politischen und wirtschaftlichen Lebens hier in Riehen beheimatet waren und auch heute noch sind, was für eine unvergleichliche geographische Exklusivität unsere Grenzlage darstellt, was es bedeutet, dass Riehen über Jahrhunderte hinweg nicht nur ein durch besondere Fruchtbarkeit des Bodens gesegnetes Bauerndorf, sondern gleichzeitig Sommerresidenz der städtischen Oberschicht war, dass das kirchlich-religiöse Leben in unserer Gemeinde von jeher besondere Züge trug und vieles andere mehr.
Was wäre ein Dorf ohne Vereine. Auch diese finden im Jahrbuch ihren Platz, allerdings nicht in der Art der sonst weitherum geübten Vereinsmeierei. Für einen Verein und dessen Geschichte ist das soziale Klima seiner Entstehungszeit, die soziologische Einbettung seiner Mitglieder in unsere Dorfgemeinschaft fast ebenso wichtig wie der Vereinszweck selbst. Die jeweils aus Anlass eines Jubiläums im Jahrbuch zur Darstellung gelangenden Vereinschroniken sind immer auch ein Stück Dorfgeschichte und zeigen den unaufhörlichen Wandel, denen auch diese, als Konstanten des Gemeindelebens empfundenen Zusammenschlüsse, ausgesetzt sind. Heutige Vereinsverantwortliche schöpfen dabei Mut aus der Tatsache, dass Krisen im Dasein eines Vereins etwas durchaus Normales sind und derartige Tiefpunkte oftmals den Auftakt zu einem Neubeginn gebildet haben und wohl auch weiterhin bilden werden. Ich glaube auch hier, nämlich in der beispielgebenden Art und Weise, wie unsere Vereine im Jahrbuch zur Darstellung gelangen, die Hand von Lukrezia Seiler zu spüren.
Das Konzipieren und Herausbringen eines Jahrbuches kann niemals die Sache eines Einzelnen sein. Lukrezia Seiler verfasste während einer Reihe von Jahren die Chronik zum kulturellen Geschehen in unserer Gemeinde und tritt hie und da auch als Autorin einzelner Beiträge in Erscheinung. Als gelegentlicher Mitautor weiss ich um die Wehen, welche der Geburt eines jeden Jahrbuches vorausgehen. Lukrezia Seilers grosser Verdienst ist, dass es ihr immer wieder gelingt, alle am Entstehen Beteiligten zu einem Team zusammenzufügen, wobei ihr neben ihrer fachlichen Kompetenz vor allem ihr von weiblichem Charme getragenes liebevoll-dezidiertes Wesen zugute kommt. Wissend, dass heute mehr als je zuvor das Lesen, das heisst das intellektuelle Aufnehmen von Buchstaben, optisch angeregt sein will, legt sie grossen Wert auf eine grafisch sorgfältige Gestaltung, auf die Auswahl von ansprechendem Bildmaterial und auf eine das Auge erfreuende Einbandgestaltung. Bei der drucktechnischen Wiedergabe alter Fotos und Dokumente kommt der Wahl der zweckmässigsten Reproduktionstechnik grosse Bedeutung zu. Auch dieser Aufgabe zeigt sich Lukrezia Seiler dank ihres fachlichen Könnens und ihrem Hang zur Perfektion vollumfänglich gewachsen.
Ein Jahrbuch soll - in gut verstandenem Sinne - ein populäres und unterhaltsames Werk sein. Es liegt in der Natur der Sache, dass Beiträge, die aus historischem Archivmaterial schöpfen, vorwiegend aus der Feder wissenschaftlich geschulter Historiker stammen. Hierbei kommt der Chefredaktorin die Aufgabe zu, zwischen leichter Lesbarkeit und wissenschaftlicher Exaktheit und Ausführlichkeit zu vermitteln. Oftmals eine heikle Gratwanderung.
Der Gefahr, in provinzieller Enge steckenzubleiben und eine ausschliessliche Riehener Nabelschau zu betreiben, wird begegnet durch Beiträge, die über unsere Gemeinde hinaus weisen, Beiträge, die jedoch immer in irgendeinem Zusammenhang mit unserer Gemeinde stehen, sei es durch die Person des Verfassers oder durch den behandelten Gegenstand.
Gemessen an unserer Bevölkerungszahl hat das Riehener Jahrbuch einen bemerkenswert grossen, treuen Leserkreis und damit auch eine beachtliche Auflage. Gemessen allerdings an den sonst im Buchhandel üblichen Auflagen ist die Auflage des Riehener Jahrbuches naturgemäss eine ausserordentlich bescheidene. Wir haben das zu akzeptieren, denn unser Riehener Mikrokosmos kann nicht erwarten, das Interesse der grossen Welt auf sich zu ziehen. Dass trotz dieser Beschränkung auf das Lokale Lukrezia Seiler sich nicht zu schade ist, ihre Gaben und Fähigkeiten in den Dienst des Riehener Jahrbuches zu stellen, macht ihre Leistungen erst recht gross. Ich gratuliere Lukrezia Seiler zu der ihr zugesprochenen Auszeichnung. Ich danke Herrn Seiler und den beiden Töchtern für die der vielbeschäftigten Ehefrau und Mutter gegenüber gewährte Nachsicht und geleistete Unterstützung. Ich danke der Kulturpreisjury, dass sie die Ausserordentlichkeit von Lukrezia Seilers Leistungen erkannt und durch die Zusprechung des Kulturpreises 1988 verdientermassen gewürdigt hat.