Ludwig Georg Courvoisier (1843-1918)

Friedrich Rintelen

Mit der Geschichte der Basler medizinischen Fakultät der Jahre 1900—1945 beschäftigt, hatte ich mich auch mit dem 1900 zum persönlichen Ordinarius ernannten Chirurgen Ludwig Courvoisier zu befassen, mit diesem um Riehen und sein Diakonissenspital so verdienten Mann. Rudolf Nissen, dem ich manche wertvolle Anregung für meine Arbeit verdanke, fand es richtig, wenn man sich in Riehen dieses ausgezeichneten Arztes erinnere. So bin ich der von ihm veranlassten Aufforderung, über Leben und Werk Courvoisiers im Jahrbuch «z'Rieche» zu berichten, gerne gefolgt.

Ludwig Georg Courvoisier, den sein Nachfolger Dr. Emmanuel Veillon einen «der besten seiner ärztegeneration» genannt hat, ist 1843 als ältestes von 9 Geschwistern im Strassburgerhof am Petersberg zu Basel geboren. Das Geburtshaus, 1935 abgebrochen, ist in alten Zeiten ein bekannter Gasthof gewesen. Im Schosse der aus Le Locle stammenden Kaufmannsfamilie hat Courvoisier eine behütete Jugend erlebt. Bedeutsam für sein späteres Leben war der Besuch des Siebenjährigen während 9 Monaten in Malta. Man war zu Besuch bei den englischen Eltern der Mutter, einer geborenen Lowdes; seither besass schon der Junge gute Kenntnisse der englischen Sprache. Wahrscheinlich hat er auch mit seiner Mutter oft Englisch gesprochen. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Anstalt Königsfelden im badischen Schwarzwald zur «Festigung seiner zarten Gesundheit» kam Ludwig ans Basler Gymnasium. Dort hat er von Dr. Fritz Burckhardt entscheidende Anregungen für seine naturwissenschaftlichen Interessen bekommen. Schon damals begann er mit der musterhaften Führung eines Herbariums, das — später fortgesetzt — schliesslich in den Besitz der botanischen Anstalt gekommen ist. Wesentlich war auch der Einfluss des GermanistenWilhelmWacker nagel und Jakob Burckhardts, die damals auch am Pädagogium, den obersten Gymnasialklassen unterrichteten. Bleibender Sinn für die kulturelle Bedeutung der alten Sprachen ist in jenen Jahren in dem vielseitig Interessierten geweckt worden. Nach der 1862 mit bester Note bestandenen Maturität wandte sich der junge Mann dem Studium der Medizin zu. Das erfuhr freilich zunächst schmerzlichen Unterbruch; Courvoisier erkrankte an dem damals in Basel häufig grassierenden Typhus mit kompliziertem Verlauf. An Studieren war während fast eines Jahres nicht zu denken. Der ungewöhnlich Begabte hat aber Versäumtes rasch nachgeholt und 1865 das Propaedeutikum «insigni cum laude» bestanden. Kurz vorher hatte er eine Preisaufgabe der medizinischen Fakultät «über die Histologie des sympathischen Nervensystems» gelöst. Den vollen Preis, den ihm sein späterer Lehrer August Socin als Dekan überreichte, brauchte er zur Anschaffung eines Mikroskopes. In den ersten Semestern haben den jungen Mediziner vor allem der Anatom und Physiologe Wilhelm His, der Zoologe Ludwig Rütimeyer und der geniale Chemiker Christian Friedrich Schoenbein beeindruckt. In der Klinizistenzeit war Courvoisier Praktikant in der chirurgischen Klinik bei August Socin und arbeitete unter der direkten Aufsicht des nachmaligen ersten Basler Ordinarius für Geburtshilfe, J. J. Bischoff. Courvoisier hat damals den entscheidenden Wandel in der Wundbehandlung miterlebt, den die Einführung der CarbolAntisepsis durch Joseph Lister gebracht hatte. Unter Socins Einfluss ist Courvoisiers Entschluss gereift, sich der Chirurgie zuzuwenden. Am 19. März 1868 besteht er «summa cum laude» nach dem Staatsexamen die Doktorprüfung. Zuvor hatte er ein Semester in Göttingen studiert, der Wirren um den preussisch-österreichischen Krieg wegen ohne grossen Gewinn. Die Dissertation «Der mikroskopische Bau der Spinalganglien» schloss thematisch an seine Preisarbeit an. Eng sind in seinen Studenten- und Assistentenjahren die kollegialen und menschlichen Beziehungen zum Pädiater Eduard Hagenbach, zum nachmaligen Physikus Theophil Lötz und zum späteren Polikliniker Rudolf Massini gewesen. Der Kontakt der 15 Studenten klinischer Semester untereinander und mit ihren Professoren war 1865 noch erfreulich eng. Der Besuch bei seinem Grossvater in England nach dem Staatsexamen gab ihm Einblick in die damalige englische Chirurgie und Gynäkologie, die unter Sir William Ferguson und Spencer Wells vor allem, auf beträchtlicher Höhe stand. Ein Aufenthalt in Wien zusammen mit Freund Lötz brachte Kontakt mit dem grossen Chirurgen Theodor Billroth. Zwei Jahre ist Courvoisier dann Assistent Socins im Bürgerspital als Nachfolger Bischoffs. Von einem Studienaufenthalt in Prag zurückgerufen, folgt er 1870 seinem Chef, «dem Arzte von Gottes Gnaden», wie er ihn in einem Nachruf apostrophiert hat, ins Kriegslazarett Karlsruhe. Dort muss er angesichts von Wundeiterungen und Hospitalbrand auch die Grenzen ärztlichen Helfens kennenlernen, reift selbstkritisch zum verantwortungsbewussten Arzt. In Karlsruhe findet er seine Lebensgefährtin: «Das höchste Glück meines Lebens». Der Grossherzog von Baden verleiht dem jungen Kriegschirurgen den Orden «vom Zähringer Löwen»; der Kleine Rat von Basel gestattet die Annahme.

In Riehen hatte man schon anlässlich des Spitalneubaus 1870 «die Frage eines Hausarztes ins Auge gefasst». 1927 schreibt Hauspfarrer Karl Stückelberger: «Die Wahl fiel auf einen jungen Basler Arzt, der als Assistent im Bürgerspital, wie auch im Kriegslazarett von Karlsruhe eine gute Vorübung sich erworben hatte. Im März 1871 bezog Herr L. G. Courvoisier das neue Krankenhaus.» Dieses konnte im September 1871 anlässlich der 18. Jahresfeier eingeweiht werden, gleichsam zusammen mit dem neuen Hausarzt. Im Jahresbericht der Diakonissenanstalt von 1870/71 schreibt der Präsident der Anstalt, B. Staehelin-Bischoff: «Da unsere bisherigen ärzte zu einem beständigen Wohnen und Wirken sich nicht verstehen zu können erklärt hatten, so wählten wir Herrn Dr. Courvoisier, damals noch in dem Baracken-Lazarett in Karlsruhe tätig; derselbe nahm unseren Antrag an und trat am 15. März in seinem Wirkungskreise ein, in welchem er seitdem mit Interesse und Liebe zu diesem Werk tätig ist». E. Veillon hat später vom Beginn Courvoisiers in Riehen geschrieben: «Gereift und für das Leben wohl vorbereitet, mit bodenständigem Können und Wissen gut ausgestattet, mit einer guten Dosis gesunden Menschenverstandes und Selbstkritik und viel Menschenliebe ausgerüstet, trat Courvoisier, 28 Jahre alt, seine neue Stellung in Riehen an». Im Mai 1872 zieht Courvoisier mit seiner jungen Gattin, mit der er im April in der Schlosskirche zu Karlsruhe getraut worden ist, im nahen kleinen Doktorhaus ein. Im Diakonissenhaus findet man: «Es freut uns, dass auch seine Gattin — eine geborene Sachs — unserem Werk freundlich zugetan ist». Im neuen Spital stehen vier Krankensäle zu fünf Betten für Frauen und ein Saal für Männer zur Verfügung, fünf Betten für Kinder. 14 kleinere und grössere Zimmer sind für Privatpatienten bestimmt. Im ersten ärztlichen Bericht werden 238 weibliche und nur zwei männliche Patienten erwähnt, ausserdem 46 Kinder. 92 Patienten kommen aus Basel, 68 aus Riehen, 20 aus Basellandschaft, 68 aus dem nahen Baden. 1872 ist der ärztliche Bericht Courvoisiers ausführlicher: viermal soviel Frauen als Männer sind eingetreten. Courvoisier bemerkt, die Anstalt sei kein Zufluchtsort für Unheilbare. Wegen der Schwesternausbildung wäre ein steter Wechsel der Patienten wünschbar.

Als einziger Arzt hatte er sich, die Krankengeschichten selbst sorgfältig schreibend und zu Statistiken nützend, sowohl mit den internistischen wie mit den chirurgischen Fällen zu befassen; die Medizin war noch zu überblicken. Bei den Operationen, die sich bald erheblich mehren, assistieren Kollegen aus Basel. Der ganze Krankenhausbetrieb wird neu organisiert und ein Unterricht für die «Probeschwestern» eingeführt für Krankenpflege und Krankheitenkenntnis. Neben seiner Spitaltätigkeit ergab sich schon bald eine ausgedehnte und anstrengende Dorf- und Landpraxis, die sich über eine noch offene Grenze bis Lörrach, Weil und Grenzach ausdehnte; er besorgte Das neue Mutterhaus der Riehener Diakonissen, das 1869—1871 erbaut wurde und bis 1907 als Spital diente. (Stahlstich von 1877).

sie meist zu Fuss. Da es in Riehen noch keine Apotheke gab, musste der Spitaldoktor auch die verordneten Medikamente in «Selbstdispensation» eigenhändig zusammenstellen und ordinieren. Trotz einem so ausgefüllten Arbeitstag hat Courvoisier Zeit gefunden, der Gemeinde Riehen manche Anregungen gemeinnütziger Natur zu geben. Der botanisch-oekologisch Interessierte rief einen landwirtschaftlichen Verein ins Leben, sorgte für die Gründung der Riehener-Ortskrankenkasse und hielt populäre Vorträge, etwa 1875 über Säuglingsernährung; ihre Bedeutung lag ihm in Anbetracht der noch häufigen schweren Dyspepsien sehr am Herzen.

Die Arbeit im Spital war längere Zeit mit manchen Schwierigkeiten verbunden. Die Lüftungsanlage war ungenügend, es fehlte an Nebenräumen, die sanitären Anlagen versagten oft; Hausinfektionen waren häufig. Auch die Einrichtung des Operationssaales war ungenügend; trotzdem liess sich Courvoisier nicht entmutigen. Dr. E. Veillon berichtet: «Mit zäher Energie und unermüdlichem Eifer und unter der verständigen Mithilfe von Pfarrer Kaegi — Vorsteher des Hauses von 1880—1918 — und dank Entgegenkommen des Komitees, vor allem dessen Präsidenten B. Staehelin-Bischoff, gelang es ihm schliesslich, diese Mißstände nach und nach zu beheben. Seine charakterlichen Eigenschaften, seine loyale Gesinnung und seine aufopfernde Liebe haben zum Gedeihen des Riehener Diakonnissenwerkes Vieles beigetragen». 1875 heisst es im ärztlichen Bericht, der Hausarzt habe eine lange dauernde «septische Erkrankung» durchgemacht. Dr. Lötz und Dr. Hugelshofer mussten Courvoisier monatelang vertreten.

In jener Zeit ist sein höchst instruktives, praktisch geschriebenes Büchlein «Die häusliche Krankenpflege» entstanden. Bis 1881 erfährt es vier Auflagen. Gewidmet ist es «meiner Mutter, meiner treuen Pflegerin, in kindlicher Liebe». Wie ein Krankenzimmer zu Hause aussehen soll, wie das Bett beschaffen, welche Kost am Platze ist, wie man Arzneimittel verabreicht, wird eingehend geschildert. Er selbst habe erfahren: «welch' ein Zauber darin liegt von den sorgsamen Händen einer treuen Mutter, einer liebenden Gattin in Leidenstagen gepflegt zu werden». Er ist «ein geschworener Feind von Büchern, welche darauf lossteuern, das Volk in die Erkenntnisse von Krankheiten einzuführen». Man solle ein erreichbares Ziel sich stecken: die Pflege des leidenden Körpers. Hinsichtlich der Krankenkost ist er ein Befürworter «geistiger Getränke; Spirituosen beseitigen die Fieberhitze»; Gustav v. Bunge hätte sich über diese Auffassung nicht gefreut!

Schon 1881 müssen Kranke in Riehen wegen Raummangels abgewiesen werden. Die Wartezeiten sind oft lang. Ausser in Notfällen ist eine Voranmeldung nötig. 251 Patienten werden registriert, 103 Operationen vorgenommen, unter anderem drei Oberschenkel-Amputationen und sechs Brustentfernungen bei Krebs. Täglich gilt es 32 Kranke zu betreuen. 1882 kommen die meisten Patienten aus dem benachbarten Baden (104), aus Riehen 58, 74 aus Basel, nur 3 aus dem Elsass; die Elsässer bleiben offenbar lieber auf dem linken Rheinufer!

1883 erklärt Courvoisier, die Arbeit im Spital sei so gross geworden, dass man einen zweiten Arzt brauche. Ausserdem will er nach Basel umziehen; seine beiden Söhne kommen aufs Gymnasium. Von 1884 an praktiziert Courvoisier in Basel, zuerst an der Sternengasse, von 1894 an im behaglichen Haus an der Holbeinstrasse. Er bleibt aber, wie es im gemeinsamen Bericht mit dem neuen Hausarzt, Dr. L. Rütimeyer-Lindt heisst: «Operateur». Er besorgt neben seinem Nachfolger die chirurgischen Patienten. Von 1872— 1882 hat Courvoisier, Statthalter des Basler Physikus, Physikatsberichte über die Kirchgemeinde Riehen und Bettingen abgegeben. Im Korrespondenzblatt erscheint 1876 eine interessante Mortalitäts-Statistik: 1796—1875 über 3347 Sterbefälle, 20 Prozent der Gestorbenen sind Kinder!

Inzwischen hatte sich Courvoisier 1882 an der Basler Fakultät mit einer medizin-historischen Arbeit habilitiert. Seine Habilitationsschrift gilt «Felix Wirtz, ein Basler Chirurg des XVI. Jahrhunderts». Auf Anregung Konrad Gessners in Zürich hatte Wirtz eine «practica der Wundarznei» verfasst, bei Henric Petri 1563 in Basel erschienen. Das auf Deutsch geschriebene Buch, dem deutschen Chirurgenstand zugänglich, ist noch 126 Jahre nach seinem ersten Erscheinen in 18. Auflage erschienen. Paracelsisch klingt Wirtzens Spruch: «Die Natur ist iren selber der beste Arzt, sie wird sich selber nicht versäumen». Trotz sorgfältigem Quellenstudium ist Courvoisier entgangen, dass Felix Wirtz im Gegensatz zu seinem Sohn, der auch Felix hiess, nicht in Basel, sondern in Zürich und von 1559 an in Strassburg gewirkt hat. Das hat der Basler Medizinhistoriker Albrecht Burckhardt auf Grund einer Studie von Conrad Brunner (1890) festgestellt. Es ist offenbar das in Basel erschienene Buch Wirtzens, das Courvoisier zu seiner Studie über den ausgezeichneten Chirurgen veranlasst hat; Wirtz mag ihm in gewisser Hinsicht Vorbild gewesen sein.

Ostern 1880, im Dekanat von Ludwig Rütimeyer, ist der 37jährige zum Privatdozenten für Chirurgie ernannt worden. Im Sommersemester 1880 hält er seine ersten Vorlesungen: ein Repetitorium der Chirurgie, 1883 auch einen anatomisch-physiologischen Kurs für Turnlehrer. Trotz seiner grossen Belastung durch die Tätigkeit im Riehener Spital und in der Basler Privat-Praxis ist Courvoisier zu wissenschaftlicher Arbeit gekommen. In den Sitzungen der Basler medizinischen Gesellschaft hat er darüber berichtet und im Korrespondenzblatt publiziert. Sein Vortrag sei sachlich, anschaulich und frei von Phrasen gewesen; er sprach und schrieb nur über das, was er selbst erlebt hatte. 1881 berichtet er über den Salicyl-Verband, den er — der geringeren Giftigkeit wegen — dem Listerschen Carbol vorzieht. 1886 gibt er Rechenschaft über die ersten 1000 Kranken in Riehen, 1891 über das zweite Tausend.

Courvoisiers Hauptverdienst für die mit der beginnenden Asepsis rasch fortschreitende Chirurgie ist seine Leistung auf dem Gebiet der operativen Behandlung der Erkrankungen der Gallenwege. 1887 erscheint eine erste Arbeit über Gallensteinoperationen, 1888 eine zweite über die «Chirurgie der Gallenwege». 1890 kommen seine «kasuistisch-statistische Beiträge zur Pathologie und Chirurgie der Gallenwege» heraus, eine massgebliche Monographie. Noch heute gilt das Courvoisiersche Zeichen, das er als erster beschrieben hat: das Fehlen einer Ektasie der Gallenblase bei Verlegung des Gallenganges sei charakteristisch für einen Gallensteinverschluss des Choledochus, ihr Vorhandensein dagegen spreche für eine andere Verschlussursache. «Wenn sich das bestätigen sollte, so wäre ein wichtiger Anhaltspunkt für die différentielle Diagnostik gewonnen»; es hat sich bestätigt! Auch mit seinem Schlusswort hat Courvoisier recht behalten: «Die Chirurgie der Gallenwege hat, wie mir scheint, eine grosse Zukunft und wird, wenn nicht alles trügt, in Bälde eines beachtenswerten Anhangs sich zu erfreuen haben». Courvoisier gehört — selbst mit 450 eigenen Operationen beteiligt — zu den Mitbegründern dieses Spezialgebietes. Die Chirurgie der Gallenwege hat seinen Ruf weit über die Grenzen getragen und ist der Fakultät Anlass gewesen, ihn 1888 zum Extraordinarius zu befördern. Nach den Berichten von ärzten, die mit Courvoisier und unter ihm gearbeitet und operiert haben, ist dieser Chirurg kein blendender Techniker gewesen. Das nil nocere stand für ihn im Vordergrund. Mit fortschreitenden Jahren hat er die Indikationen zum operativen Eingreifen immer enger gestellt. Veillon schreibt: «Wenn er sich in einem ihm ferner liegenden Gebiete chirurgischer Technik nicht ganz zu Hause fühlte, Hess er das Messer einem anderen». In seiner Grundhaltung ist er ein idealer Hausarzt geblieben.

Eindrücklich im Leben des Mannes ist seine Anteilnahme am öffentlichen Geschehen, an den Geschicken der Fakultät und des ärztlichen Standes. Von 1887 bis 1890 vertritt er Riehen im Basler Grossen Rat. Von 1886—1890 gehört er der Inspektion der Töchterschule an. Seit 1890 bis zu seinem Tode 1918 ist er Mitglied des Erziehungsrates. Als Arzt hat er in diesem Gremium oft Entscheidendes bei Fragen der Wahl von Ordinarien und Beförderungen für die medizinische Fakultät getan, unabhängig und unbestechlich in seinem Urteil. 1899 ist sein Lehrer August Socin gestorben. In einem bewegenden Nachruf hat Courvoisier seiner gedacht: «Mit ihm scheidet aus dieser Welt ein in vielen Beziehungen Unersetzlicher. Das ganze Basel hat ein Recht und eine Pflicht zu trauern um den Mann, der ihm so viel gewesen ist». Courvoisier schien ein gegebener Nachfolger Socins, aber der Dekan Albrecht Burckhardt schreibt an die Kuratel: «L. G. Courvoisier, der zuerst in Betracht gekommen wäre, der als Arzt und Operateur und auch in wissenschaftlicher Hinsicht Vorzügliches geleistet hat, lehnt aus Gründen, die hier nicht zu erörtern sind, im vornherein ab». Was waren die Gründe? Courvoisier hatte zu viel andere Interessen, die ihm am Herzen lagen; wahrscheinlich fühlte er sich für die Ordinariatsaufgabe auch schon reichlich alt, ausserdem war seine Frau damals schwer erkrankt. 1899 ist er nicht nur angesehenes Mitglied der Fakultät, ältester aussordentlicher Professor, der eine 3stündige Chirurgie des Bewegungsapparates und ein 3stündiges Repetitorium liest, sondern auch «als eifriger Natur- und Gartenfreund», seit 1883 Präsident der «Basler Gartenbau-Gesellschaft». Ausserdem befasst er sich intensiv mit Entomologie; er besass eine hervorragende Schmetterlingssammlung; auf dem Gebiete der Lycaeniden-Schmetterlinge galt er als eigentlicher Fachmann; 20 Publikationen aus diesem Bereich stammen aus seiner Feder. Von 1899—1916 dient er der Stadt Basel als Mitglied der Sanitätskommission. Während des Sommersemesters 1899 führt Courvoisier stellvertretend die chirurgische Klinik bis zum Amtsantritt von Socins Nachfolger Hildebrandt. Am 4. November 1899 berichtet das Erziehungsdepartement dem Regierungsrat: «In aufopfernder Hintansetzung persönlicher Rücksichten sprang Herr Courvoisier in die durch den Tod Socins eingetretene Lücke, indem er nicht nur die Leitung der chirurgischen Abteilung des Spitals, sondern auch der chirurgischen Klinik übernahm». In Anerkennung seiner Leistungen ist Courvoisier am 3. Januar 1900 zum persönlichen Ordinarius ernannt worden. Er dankte dem Regierungsrat: «Seien Sie versichert, dass ich auch künftig hin, wo immer meine Vaterstadt meine schwachen Kräfte in Anspruch nehmen sollte, dieselben bereitwilligst in ihren Dienst stellen werde». Courvoisier ist jetzt Mitglied des Komitees der Riehener Diakonissenanstalt und zeichnet auch weiterhin neben dem Hausarzt Dr. Gutknecht als «ärztlicher Leiter». Der 48. Anstaltsbericht spricht von 122 Operationen. Courvoisier dürfte immer noch einen beträchtlichen Teil selbst operiert haben. 1903 tritt Dr. Veillon an Stelle des nach «eifrigster Arbeit demissionierenden Dr. Gutknecht», «neben ihm bleibt Herr Prof. Courvoisier wie bisher an unserem Hause tätig. Zugleich wurde Dr. August Staehelin von Basel zu chemisch-bakteriologischen und mikroskopischen Untersuchungen herangezogen». Die innere Medizin gewinnt an Boden, obschon Veillon in erster Linie Chirurg ist. In der ärztlichen Leitung steht Dr. Veillon an erster Stelle; Courvoisiers operative Tätigkeit ist offenbar im Abnehmen begriffen. Im Dezember 1907 konnte nach fast 3jähriger Bauzeit das neue Diakonissenspital bezogen werden. Der grosszügige Bau hat sich so bewährt, dass Veillon 1952 schreiben konnte: «die Riehener Diakonissen dürfen sich rühmen, in einem der best eingerichteten Schulspitäler unseres Landes ihren Beruf erlernen zu können». Wieweit Courvoisier am Planen des neuen Hauses beteiligt gewesen ist, lässt sich nicht ermitteln; wahrscheinlich hat Veillon die Hauptarbeit geleistet. Der Jahresbericht von 1910 zeigt in eindrücklichen Abbildungen das erfreuliche Werk. Inzwischen hatte der ungemein tätige Courvoisier neue grosse Aufgaben in Basel übernommen. Seit 1888 präsidiert er den Prüfungssitz Basel für die eidgenössischen Medizinalprüfungen; später ist er Präsident des zentralen leitenden Ausschusses. In dieser Funktion hat er sich intensiv um die Ausbildung der Medizinstudenten gekümmert. Von dieser anspruchsvollen und bedeutsamen Tätigkeit hat Veillon in seinem Nachruf auf Courvoisier gesagt: «diejenigen welche in den letzten 30 Jahren in Basel die verschiedenen Hindernisse und Gräben der propaedeutischen und der Staatsprüfung zu überspringen hatten, werden sich wohl dankbar an Courvoisier erinnern, der mit viel Ruhe und herzlichem Wohlwollen manche Phobie und Angstneurose im Keime zu ersticken wusste». Seine Menschlichkeit ist auch bei der Erfüllung dieser Aufgabe deutlich geworden. Intensiv hat er sich ferner mit der Revision der eidgenössischen Medizinalprüfungen befasst, auch hier «in nie versagender Gewissenhaftigkeit». Für die «Medizinal-Matur» hat er in Wort und Schrift nachdrücklich die humanistische Vorbildung gefordert.

1905 verliert er seine Gattin, die an einer unheilbaren chirurgischen Erkrankung gelitten hat. Sein so harmonisches Familienleben ist tief getroffen.

Auf Neujahr 1918 ist der 75jährige Courvoisier, «von den Gebrechen des Alters unberührt», von seiner operativen Tätigkeit in Riehen zurückgetreten. Er hatte sie in den letzten Jahren, von vielen anderen Pflichten in Anspruch genommen, nur noch sporadisch ausgeübt. Im 66. Jahresbericht von 1918 fehlt sein Name erstmals unter den ärzten des Hauses. Dr. Veillon ist jetzt alleiniger «Chefarzt», Dr. Ch. Krayenbühl sein Assistent und der Urochirurg Achilles Müller-Kober ist als «Hilfsarzt» angestellt. «Courvoisier hat gesagt, dass ihm dieser Rücktritt besonders schwer geworden sei, nachdem er fast 47 Jahre nicht nur mit der Arbeit, sondern mit dem Herzen mit der Anstalt verbunden war», schreibt Pfarrer A. Schultze im Jahresbericht, «aber unerwartet rasch raffte eine Lungenentzündung am 8. April 1918 den 75jährigen hinweg. Mit ihm sank ein Stück Geschichte unseres Hauses ins Grab». Wenn auch durch den Verlust der Gattin recht einsam geworden, hat Courvoisier seine letzten Jahre nützlich gestaltet, sich auch der glücklichen Entwicklung seiner beiden Söhne und seiner Enkel erfreuen können. Eine gewaltige Lebensarbeit lag hinter ihm. Bis zuletzt ist er aktives Mitglied des Erziehungsrates und Präsident des leitenden Ausschusses der eidgenössischen Medizinalprüfungen. Von seinem Amt als persönlicher Ordinarius für Chirurgie ist er schon im März 1912, kurz vor Erreichen des 70. Altersjahr zurückgetreten. Bis zum Wintersemester 1911/12 hat er noch sein Repetitorium und im Sommersemester eine Vorlesung über Hernien gehalten.

Man kann füglich sagen, L. G. Courvoisier habe sich um Riehen und sein Diakonissenspital, um Basel und seine medizinische Fakultät in hohem Masse verdient gemacht. Albrecht Burckhardt als Dekan hat dem namens der Fakultät, Ernst Hagenbach als Vertreter der medizinischen Gesellschaft, deren Ehrenmitglied Courvoisier gewesen ist, an der häuslichen Trauerfeier gebührend Ausdruck gegeben.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1978

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