Lukrezia Seilers Geschenk an Riehen 


Daisy Reck


 

Eine Würdigung der Publizistin Lukrezia Seiler (1934–2013), die mit ihrer Arbeit ein wichtiges Stück Regionalgeschichte festhielt, ergreifende Schicksale aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs hinterfragte und das ‹Riehener Jahrbuch› als Vorsitzende der Redaktionskommission über viele Jahre mit grossem Einsatz prägte.


 

Der Tag, an dem das ‹Riehener Jahrbuch› ausgeliefert wurde, war zwischen 1979 und 1994 für die Redaktorin Lukrezia Seiler ein zwar festlicher, aber auch ein hektischer. Die ersten Exemplare wurden jeweils bereits in den frühen Morgenstunden zu ihr in ihr Heim am Leimgrubenweg geliefert. Dort erwartete man sie mit Spannung und verteilte sie beinahe generalstabsmässig auf die Bündel von bereitliegenden Briefen. Diese enthielten den Dank für die direkte oder indirekte Mitwirkung bei der neusten Ausgabe sowie die Einladung zur bevorstehenden Präsentation und wurden nun von Herbert Seiler, dem hilfsbereiten Ehemann, mit dem Auto ausgetragen: zuerst bei den Gemeinderäten, dann bei Persönlichkeiten, die den Fortbestand des ‹Jahrbuchs› ermöglichten, hernach bei den Autorinnen und Autoren und schliesslich bei den Beraterinnen und Beratern. Es war Ehrensache, dass noch vor Mittag oder spätestens am frühen Nachmittag alle, die man erreichen wollte, ihren eigenen Band in Händen hielten.


 

Beruf und Familie im Einklang


Dieses alljährliche Austragungszeremoniell im Spätherbst, das Lukrezia Seiler aufgebaut hatte, war typisch für ihre persönliche Bindung an das ‹Jahrbuch›. Es war aber auch typisch, dass es im Privathaus oberhalb von Riehen seinen Ausgangspunkt hatte. Denn hier war das Konzept des Buches entstanden, hatten Redaktionssitzungen stattgefunden, hatte man mit Werner Piram, dem begnadeten Gestalter, getüftelt und hatten sich im Laufe der Monate Berge von Manuskripten und Umbrüchen angehäuft.


 

Hier war Lukrezia Seiler aber auch eine einfühlsame Mutter gewesen. Sie hatte ihren Töchtern Barbara und Marianne immer zu verstehen gegeben, dass die Bindung an ihre Arbeit zwar stark sei und dass sie darin eine grosse Erfüllung finde, für ihre Kinder jedoch stets Zeit habe. Auch Benjamin, Elio, Joya und Vincent durften das später erleben, als ihnen die Grossmutter mit unermüdlichem Erzählen das Reich der alten Geschichten erschloss und für sie neue erfand. Ganz nah verbunden war Lukrezia Seiler indessen vor allem ihrem Ehemann. Er war der erste, der ihre Texte las und sie mit ihr besprach. Mit ihm plante sie die Reisen nach Frankreich. Mit ihm konnte sie alles teilen. Ganz besonders die Leidenschaft für romanische Kirchen, die sie während vieler Jahre aufsuchten und sich in ihre Schönheit vertieften.


 

Diese Reisen fanden jeweils im Spätsommer statt: wenn das ‹Riehener Jahrbuch› schon seine inhaltliche Form gefunden hatte und nur noch ausreifen musste. War das geschehen, wurde es bei einer Vernissage vorgestellt. Sie gehörte zu den gesellschaftlichen Ereignissen des Dorfes und war zum vorweihnächtlichen Brauchtum geworden. Was Lukrezia Seiler und das mit ihr eng verbundene Team dabei aus den Händen gaben, hatte ein Journalist in seiner Besprechung einmal treffsicher benannt: «Man schenkte der regionalen Geschichte ein persönliches Gesicht.» Der verantwortlichen Redaktorin kam es dabei zugute, dass sie keine Riehenerin war. Die zugezogene St. Gallerin, die zeitlebens ihrem eigenen Dialekt treu blieb, sah schärfer als die Einheimischen, was bisher noch unentdeckt geblieben war. Sie verstand es, eine mit Neugierde vermischte Einfühlung einzusetzen und damit Leute zum Sprechen zu bringen, die bisher geschwiegen hatten, sowie nach vergangenen Dingen zu graben, die als verloren galten. Dabei war sie beharrlich und pragmatisch, aber auch voller Charme.


 

Riehen verlieh ihr für dieses jahrelange Engagement 1988 den Kulturpreis. Gerhard Kaufmann, damals Gemeindepräsident, sagte bei dessen Verleihung in seiner Laudatio: «Lukrezia Seiler hat es verstanden, durch ihre Leistung zuerst Anerkennung und dann Vertrauen zu finden. Dadurch sind ihr Türen geöffnet worden. Auch von alteingesessenen Riehenern, die instinktiv gespürt haben, dass ihnen hier echtes Interesse an der Gemeinde, seiner Geschichte, seiner Gegenwart und seiner Zukunft entgegentritt.»


 

Das beeindruckende Alterswerk


Das ‹Riehener Jahrbuch› blieb indessen nicht Lukrezia Seilers einziges Betätigungsfeld. Sie, die sich schon als junge, unverheiratete Frau in Olten beim Walter-Verlag und dann in Zürich bei der Zeitschrift ‹Die Woche› mit literarischen Texten beschäftigt hatte, war Zeit ihres Lebens mit dem Kulturellen verbunden. Sie beteiligte sich an der Neueinrichtung des Dorf- und Rebbaumuseums, verfasste unter dem Titel ‹Zeichen der Hoffnung› einen Grossteil der Festschrift, als das Diakonissenhaus 150 Jahre alt wurde, und fesselte ihr Publikum bei den Führungen, welche die Dokumentationsstelle mit ‹Riehen à point› organisierte. 


 

Wenn sich andere längst zur Ruhe gesetzt hätten, ging sie schliesslich an jene grosse Aufgabe heran, die ihre letzten Lebensjahre ausfüllte und der sie sich auch dann nicht entzog, als sie schon von einer schweren Krankheit gezeichnet war. Mit ihrem Alterswerk ‹Fast täglich kamen Flüchtlinge – Riehen und Bettingen, zwei Grenzdörfer 1933 bis 1948› hielt sie gemeinsam mit dem Historiker Jean-Claude Wacker ein Stück Geschichte fest, das nicht vergessen werden darf.


 

Lukrezia Seiler konnte das, was sie begeisterte oder umtrieb, klug in sich verschliessen, bis es durchdacht und reif genug war, um an die Öffentlichkeit zu gelangen. Doch wer sich zu ihrem Freundeskreis zählen durfte, erlebte sie nun in den Monaten, in denen sie den Quellen für ihre Fluchtdokumentation nachging und die Gespräche mit Zeitzeugen führte, in einer seltenen Offenheit. Denn die Schicksale, die vor ihr ausgebreitet wurden, die Geständnisse, die man ihr dank ihrer feinfühligen Begabung zum geduldigen Zuhören machte, bewegten sie tief. Als das Buch 1996 herauskam, ergriff es auch einen grossen Leserkreis. Denn bisher war es noch niemandem sonst gelungen, die Folgen der schweizerischen Flüchtlingspolitik im Gespräch mit Betroffenen auf diese persönliche Weise aufzuzeigen. Drei Auflagen waren rasch vergriffen. Eine vierte, beeindruckend erweiterte, forderte nochmal grossen Einsatz und kostete Kraft. Sie erschien im Frühling 2013. Bei der Präsentation im Haus der Vereine erlebte man eine stille, gefasste Lukrezia Seiler: dankbar dafür, dass sich ihr Wunsch erfüllt hatte und sie ihr Werk noch hatte vollenden dürfen.


 

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 2014

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