Riehen hilft einer Berggemeinde

Rudolf Schmid

Am 14. Dezember 1955 reichte Herr J. Jutzier im Weiteren Gemeinderat einen Anzug ein, in dem der Beitritt der Gemeinde Riehen zum Verein «Schweizerische Patenschaft für bedrängte Gemeinden» als Bekenntnis freundeidgenössischer Verpflichtung gefordert wurde. In der Sitzung des Weiteren Gemeinderates vom 16. Mai 1956 legte der Gemeinderat den Bericht zum Anzug vor und beantragte, nicht nur dem Verein beizutreten, sondern eine eigene Patenschaft zu übernehmen. Auf den Vorschlag des Vereins wurde eine Gemeinde im Tessin als Patengemeinde vorgesehen. Im erwähnten Bericht wurde unter anderem ausgeführt: «Das Besondere und Schöne des Hilfswerkes liegt darin, daß man sich nicht begnügt, mit bloßen Geldspenden über eine momentane Notlage hinwegzuhelfen, sondern angestrebt wird, in einem Dauerverhältnis und einer ständigen Bereitschaft zur Prüfung von Anliegen und Sorgen ein menschliches Band zwischen dem «Götti» und der Gemeinde zu schaffen.

Sofern unsere vorgeschlagene Patenschaft Wirklichkeit wird, wäre Riehen die erste Gemeinde, die in freundeidgenössischer Bruderhilfe selbständig eine Betreuung übernähme, und es ist zu erwarten, daß unserem Beispiel bald andere Gemeinden folgen würden ...»

Aus Gründen, die nie ganz abgeklärt werden konnten, scheiterte der erste Versuch zur übernahme einer Patenschaft. Im Jahre 1959 machte der Vorstand der Schweizerischen Patenschaft für bedrängte Gemeinden neue Vorschläge. Der Gemeinderat entschied sich nach Prüfung der Gesuche für die Berggemeinde Mutten im Kanton Graubünden. Der Ort, eine Walsersiedlung, liegt zwischen Thusis und Tiefencastel. Vor Solis in der Schinschlucht zweigt das schmale Bergsträßchen ab und führt in vielen Kehren nach dem 1400 m hoch gelegenen Untermutten. Nach alter Walserart ziehen die Bewohner im Vorsommer nach dem «Staffel» und im Sommer nach Obermutten, das auf ca. 1860 m Höhe liegt. Vor Jahren fiel ein großer Teil der Häuser von Obermutten einem Brand zum Opfer, was der Gemeinde und vielen Bewohnern zusätzliche schwere Lasten auferlegte.

Dem Besucher von Mutten fällt auf, daß die Häuser, mit Ausnahme des Gemeindehauses und der kleinen Kirche, alle aus Holz gebaut sind, während die Nachbardörfer vorwiegend Steinbauten aufweisen. Auch dies weist auf den Walserursprung der Siedlung hin. 29 Familien leben noch im Dorf, insgesamt etwa 120 Einwohner, die zur Hauptsache aus dem Ertrag der Viehzucht und der Forstwirtschaft leben. Die Bauernbetriebe sind sehr klein. Im Durchschnitt besitzt jeder Landwirt drei bis vier Kühe. Der Wald ist Eigentum der Gemeinde. Für die Waldarbeiten zahlt die Gemeinde Mutten jährlich ca. Franken 35 000.–. Der Ertrag des jährlichen Holzhiebes stellt die Haupteinnahmequelle der Gemeinde dar. Um die Bewirtschaftung des Waldes zu erleichtern und zu fördern, sollten Waldwege gebaut werden.

Auch die Bewirtschaftung der Wiesen ist recht mühsam, da das Gelände sehr steil und stark coupiert ist. Die Hauptsiedlung Untermutten klebt so am steilen Hang, daß die Nachbarn behaupten, die Hühner fänden nicht einmal einen ebenen Platz, um ihre Eier zu legen, so daß diese den Berg hinunterrollten. Die Wiesen sind noch in viele kleine Parzellen aufgeteilt, und für die dringend notwendige Mechanisierung fehlen die Feldwege. Viele Wiesen werden deshalb nie gedüngt und bringen einen entsprechend mageren Ertrag. Einzelne Grundstücke können nicht jedes Jahr zweimal, sondern nur jedes zweite Jahr einmal gemäht werden. Diese Verhältnisse könnten durch eine Güterzusammenlegung und den Bau von Feldwegen wesentlich verbessert und der Futterertrag um 25 bis 30% gesteigert werden. Trotzdem Bund und Kanton hohe Subventionen an solche Güterzusammenlegungen bewilligen, kann die Gemeinde den verbleibenden Rest nicht aus eigener Kraft aufbringen. Wie andernorts bestehen zudem in der Gemeinde selbst gewisse Widerstände gegen die Durchführung der Güterzusammenlegung. Neben dem Ausbau der Feld-, Alp- und Waldwege muß auch die Wasserversorgung von Ober- und Untermutten den neuen Erfordernissen angepaßt werden. Diese Arbeiten sind im Gange. Ferner soll auch Obermutten mit elektrischer Energie versorgt werden. Schließlich könnte das sehr schön gelegene Obermutten mit dem herrlichen Rundblick gegen das Albulatal, nach dem Domleschg und dem Rheintal und gegen Schams und Rheinwald zum Sommer- und Winterferienort entwickelt werden. An Aufgaben für eine Patengemeinde fehlt es also bestimmt nicht.

Als erste Aufgabe wurde mit Hilfe des «Götti» das Gemeindehaus ausgebaut. Im Gemeindehaus ist auch die Wohnung des Lehrers untergebracht. Der Zustand dieser Wohnung gab Anlaß zur Renovation des Hauses. Man hoffte, nach der Instandstellung wieder einen Lehrer zu finden, nachdem in den letzten Jahren jeweils ein Seminarist Schule gehalten hatte. Im Winter 1964/1965 zum Beispiel haben drei Seminaristen je eine Zeitlang unterrichtet. Daß dies für die Schüler und den Unterricht nicht sehr vorteilhaft ist, dürfte auf der Hand liegen.

Auf Anregung der Bezirksfürsorgestelle Albula übernahm die Patengemeinde im Schuljahr 1959/60 erstmals die Kosten für den Schulbesuch von fünf Muttener Buben in Tiefencastel. Seither besuchen jedes Jahr einige Kinder die Sekundärschule in Tiefencastel, und die Patengemeinde trägt an die Schul- und Transportkosten sowie an die Kosten der auswärtigen Verpflegung bei. Dieser Beitrag an die Ausbildung der Jugend wird später auch der Dorfgemeinschaft zugute kommen.

Bei der Renovation des Gemeindehauses wurden die Kellerräumlichkeiten im alten Zustand belassen. Dort war früher eine Käserei untergebracht, die jedoch in den letzten Jahren nicht mehr betrieben wurde. Die Gemeinde Mutten hätte in diesem Keller gerne eine Gemeinschaftsgefrieranlage und eine Gemeinschaftswaschanlage eingerichtet. Da die Mittel hiezu fehlten, wurde der «Götti» angefragt, ob er bereit wäre, diese Kosten ganz oder zum Teil zu übernehmen. Das Begehren fiel auf fruchtbaren Boden, und der Weitere Gemeinderat bewilligte die notwendigen Mittel, so daß die Frauen des Dorfes, die bis zur Fertigstellung der Anlage die Wäsche an den Dorfbrunnen waschen mußten — fließendes Wasser gab es nur im Gemeindehaus und im Schulhaus —, diese schwere Arbeit nun den vollautomatischen Maschinen überlassen können. Auch die Gefrieranlage mit den 40 Kühlfächern leistet der Gemeinde gute Dienste. Neben Waschküche und Tiefkühlanlage blieb noch Raum für die Einrichtung einer Werkstatt, wo Männer und junge Burschen Geräte selber herstellen und reparieren können.

Anläßlich der Einweihung der Anlage gab sich Gelegenheit, in persönlichem Gespräch mit den Behördevertretern und den Einwohnern die Probleme und Sorgen einer kleinen Berggemeinde zu besprechen.

Die Verbindung zwischen unserer Gemeinde und Mutten hat auch dazu geführt, daß auf einen Vorschlag des Jugendsekretariats des Christlichen Friedensdienstes in Riehen im verflossenen Jahr ein Arbeitslager der genannten Organisation in Mutten durchgeführt wurde. Von den insgesamt 21 Lagerteilnehmern waren zwei Engländer, vier Holländer, zwei Belgier, sechs Franzosen, drei Deutsche und vier Schweizer, elf Burschen und zehn Mädchen. Die jungen Helfer fällten im Zuge einer Alpsäuberung 76 Bäume und bereiteten das anfallende Holz auf. Das Lager stand unter der Leitung von Herrn Pfarrer Manfred Kopp und war ein schöner Erfolg, so daß auch im Jahre 1966 wieder ein Arbeitslager in Mutten durchgeführt wird. Diesen Sommer soll ein Alpweg erstellt werden. Der Kontakt mit den ausländischen und einheimischen Helfern wird auch der Bergbevölkerung wertvolle Anregungen vermitteln.

So konnten wir seit der übernahme der Patenschaft mit relativ bescheidenen Mitteln dazu beitragen, das Leben in einer kleinen, abgelegenen Berggemeinde etwas leichter zu gestalten. Wir sind aber nicht nur die Gebenden. Die Beschäftigung mit den Problemen unserer Patengemeinde zeigt uns, daß es nicht selbstverständlich ist, daß immer genügend Mittel für die Durchführung notwendiger Aufgaben vorhanden sind, und lehrt, auch im überfluß Maß zu halten und sich zu bescheiden.

 

Diesen Artikel finden Sie im Jahrbuch z'Rieche 1966

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